Ein Mann sitzt an einem Schreibtisch.
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Belarus und die Folgen von Tschernobyl Das Strahleninstitut "Belrad": Kein Geld mehr vom Staat

Interview mit dem Chef des Institutes, Alexej Nesterenko

26. April 2021, 12:42 Uhr

"Belrad" ist eine unabhängige, nichtstaatliche Organisation, die seit den 1990er-Jahren die Strahlenbelastung von Menschen und Lebensmitteln in Weißrussland untersucht. Schwerpunkt ihrer Arbeit ist vor allem die regelmäßige Gesundheitskontrolle von Kindern aus dem Fall-Out-Gebiet.

Herr Nesterenko, was genau untersuchen Sie?

Belrad hat zwei Labors. Im ersten untersuchen wir Menschen auf Strahlung. Wir testen vor allem Kinder auf Cäsium-137. Im zweiten Labor nehmen wir Lebensmittel unter die Lupe. Im Mittelpunkt stehen Nahrungsmittel, die in Gärten angebaut oder auf Wiesen und in Wäldern gesammelt wurden. Hier überprüfen wir nicht nur die Cäsium-Werte, sondern testen auch auf Strontium-90.

Wie werden denn bei den Kindern solche Messungen durchgeführt?

Wir testen ausschließlich in den Schulferien und hauptsächlich Kinder aus dem verstrahlten Südosten des Landes. Dafür benutzen wir einen Sessel. Wenn sich die Testperson da hineinsetzt, misst das angeschlossene Dosimeter die Strahlung im Körper.

Ein Mädchen sitzt neben einem medizinischen Gerät.
Tut nicht weh: Im Strahlenmesss-Sessel von "Belrad". Bildrechte: Strahleninstitut Belrad

Und wie sind ihre Testergebnisse heute, so viele Jahre nach Tschernobyl?

Die sind sehr unterschiedlich. Eine eindeutige Tendenz lässt sich schwer ausmachen. Wie belastet ein Kind ist, hängt sehr stark davon ab, unter welchen Umständen ein Kind lebt. Das soziale Umfeld spielt also eine erhebliche Rolle. Kinder aus zerrütteten Familien sind in der Regel stärker strahlenbelastet als Kinder aus geordneten Verhältnissen. Erstere sind mehr sich selbst überlassen und kommen so häufiger mit verstrahlten Materialien in Berührung.

Wir waren im Kreis Choiniki, direkt an der Grenze zum Sperrgebiet rund um Tschernobyl und haben dort gedreht. Wie ist denn die Lage dort?

Nach unserer Erfahrung werden die Normen im Kreis Choiniki regelmäßig überschritten. Die Situation ist jedoch nicht katastrophal.

Was sind die Gründe für die Überschreitung der gesetzlichen Grenzwerte?

Vor allem Nahrungsmittel. Und darunter besonders die sogenannten "Gaben des Waldes" – also Pilze und Beeren.

Wie erklären Sie sich, dass der Staat Weißrussland die kontaminierten Gebiete wieder revitalsiert und für die Landwirtschaft nutzbar macht?

Meiner Meinung nach ist es sogar sinnvoll, diese Regionen zu revitalisieren oder zumindest am Leben zu erhalten. Viele Forschungsprojekte in Weißrussland beschäftigen sich damit. Aufgrund dieser Forschung weiß man, wie man Böden oder Futterpflanzen behandeln oder düngen muss, damit man hier wieder landwirtschaftlich arbeiten kann. Zum Beispiel: Kalium und Cäsium sind sich in ihren Eigenschaften sehr ähnlich. Das heißt, dass man mit ausreichend Kaliumdünger eine Cäsiumanreicherung weitestgehend verhindern kann und die Pflanze dementsprechend sauber bleibt. Und: erstaunlicherweise hatten wir noch nie den Fall, dass ein Lebensmittel, das die staatlichen Kontrollen durchlief, die Normen überschritten hat.

Aus Ihrer Sicht ist es also durchaus legitim, dass Weißrussland in der Fall-Out-Region wieder auf Landwirtschaft setzt?

Ich glaube, dass der Staat immer dafür Sorge trägt, die Lebensmittel innerhalb der Normen zu produzieren. Mit welcher Methode er das macht, ist allerdings eine andere Frage. Der Boden wird mit Spezialdünger gedüngt, die Milch gestreckt usw. Die Logik des Staates ist aber auch verständlich. Ein ressourcenarmes Land wie unseres ist nun einmal auf die Landwirtschaft angewiesen.

Belrad ist eine unabhängige Organisation. Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit dem Staat und wie finanzieren Sie sich?

Unsere Kooperation mit dem Staat ist eher schwierig. In den 1990er-Jahren wurden wir vom Staat unterstützt. Das endete 2003. Wir wurden unbequem, weil der Staat nun wieder in die kontaminierten Gebiete investieren wollte. Wir sollten zwischenzeitlich sogar geschlossen werden. Man warf uns vor, Messergebnisse gefälscht zu haben. Augenblicklich finanzieren wir uns dank der Kooperationsprojekte mit anderen Organisationen, in erster Linie Wohltätigkeitsorganisationen aus Frankreich und Deutschland. Außerdem untersuchen wir das Personal ausländischer Botschaften – und die bezahlen dafür.

Es gibt zahlreiche Mythen über die Folgen radioaktiver Strahlung bei Tieren. Können Sie uns dazu etwas sagen?

Sie spielen sicher auf Mutanten an. In 1990er-Jahren war das in der Forschung tatsächlich ein großes Thema. Man war auf der Suche nach dem fünfbeinigen Pferd. Das ist natürlich Quatsch. Es gibt Mutationen, aber auf einem ganz anderen Niveau, und sie fallen weniger auf, als man vermuten würde. Beispielsweise werden Blätter von Pflanzen größer.

Die Halbwertszeit von Cäsium-137 und auch von Strontium-90 ist erreicht. Ist das ein Grund für Optimismus?

Nur für diejenigen, die in der Schule in Physik schlecht aufgepasst haben. Die Hälfte der Radionuklide ist weg. Doch der Zerfall der verbliebenen Hälfte dauert mehr als zehn  Zerfallsperioden. Ein normales Strahlungsniveau ist also nicht schon in 60 Jahren erreicht, sondern erst in 300 Jahren. Und da reden wir nur über das Element Cäsium.

Und dennoch unternimmt der weißrussische Staat alles, damit die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl in Vergessenheit gerät. Warum?

Der weißrussische Staat ist nicht in der Lage, die Probleme, die sich aus dem Reaktorunfall von Tschernobyl ergeben haben, zu lösen. Deshalb ist es am einfachsten, sie einfach "abzuschaffen". Existieren sie nicht mehr, braucht man kein Geld mehr für die Folgen auszugeben.

Außerdem baut der weißrussische Staat mit russischer Hilfe gerade sein erstes Atomkraftwerk. Stellen Sie sich einmal vor, was das für eine Werbung für die internationale Atomenergiebehörde und die anderen Organisationen ist, wenn das Land, das mehr als alle anderen von der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl betroffen war, wieder auf Atomenergie setzt. Die Botschaft ist klar. Und da stören die Erinnerungen an Tschernobyl natürlich.

Geigerzähler liegt auf Wiese 2 min
Video: Mehr als drei Jahrzehnte nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl gibt Weißrussland zunehmend Flächen für die Landwirtschaft frei Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Belrad ist ein unabhängiges weißrussisches Institut in Minsk, das die Strahlung bei Lebensmitteln und Menschen in den radioaktiv verstrahlten Regionen misst und auswertet. Anfänglich vom weißrussischen Staat unterstützt, um die Folgen der Katastrophe zu dokumentieren, geriet es seit 2003 immer öfter in Konflikt mit der Regierung. Nachdem staatlicherseits beschlossen wurde, kontaminierte Gebiete wieder für die Landwirtschaft nutzbar zu machen, erwiesen sich die Forschungen von Belrad, die nach wie vor erhöhte Strahlungswerte nachwiesen, als unbequem. Die Finanzierung wurde eingestellt und das Institut sollte geschlossen werden. Nur dank internationaler Unterstützung und Aufträgen hat es bis heute überlebt. Die Revitalisierung der kontaminierten Gebiete sieht ihr Leiter Alexej Nesterenko kritisch, zeigt aber auch Verständnis dafür, dass die weißrussische Regierung in diesen Gebieten die Landwirtschaft wiederbelebt, um damit Arbeit und Perspektive für die Menschen in der Region zu schaffen.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Aktuell | 27. April 2018 | 17:45 Uhr

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