Strukturwandel Zeitz: Neues Leben in der Leere
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28. März 2022, 09:52 Uhr
Lange Zeit war Zeitz verschrien als Geisterstadt und Lost Place, also ein vergessener Ort. Doch inzwischen entdecken junge Unternehmerinnen und Unternehmer, Kreative und Familien die Stadt für sich. Ein Besuch bei Menschen, die Zeitz mit neuem Leben füllen.
Petra Mattheis sitzt auf einer Bank hinter ihrem Haus am Rande der Zeitzer Innenstadt. Die warme Frühlingssonne scheint ihr ins Gesicht, während die Fotografin und Künstlerin von ihrer neuen Heimat erzählt. "Es war unglaublich viel Arbeit", sagt sie und lächelt. Sie meint das Haus, in dem sie gemeinsam mit ihrem Partner Sascha Nau seit ein paar Monaten wohnt.
Mattheis und Nau, der als Kommunikationsdesigner und Fotograf arbeitet, haben mehr als 15 Jahre lang in Leipzig gelebt. Doch als in der sächsischen Metropole die Freiflächen immer weniger wurden und die Mieten immer teurer, machte sich das Paar auf die Suche nach einem neuen Domizil. Mit einem Mietwagen fuhren sie von Leipzig in Richtung Süden. In Zeitz wurden sie fündig.
Sie kauften ein altes Gründerzeithaus, das wie so viele Gebäude in Zeitz seit Jahren leer stand, und renovierten es nach ihren Vorstellungen. Im Erdgeschoss haben Mattheis und Nau nun ihre Ateliers. In den drei Stockwerken darüber entstand jeweils eine Wohnung. Ganz oben wohnen Mattheis und Nau, die beiden anderen Wohnungen sind vermietet.
Das Klischee von der Geisterstadt
Zu DDR-Zeiten lebten in der damals florierenden Industriestadt Zeitz mehr als 50.000 Menschen. Doch nach der Wende verschwanden viele große Arbeitgeber wie etwa die Zeitzer Kinderwagenindustrie (Zekiwa) aus der Stadt – und mit ihnen die Einwohnerinnen und Einwohner. Heute leben in Zeitz noch rund 27.000 Menschen. Entsprechend groß ist der Leerstand, der regelmäßig Medienschaffende und Kamerateams aus ganz Deutschland nach Zeitz lockt. Von der "Geisterstadt" ist dann oft die Rede, vom "Lost Place", also einem verlorenen Ort, oder einer "sterbenden Stadt".
Petra Mattheis kann diese Klischees und Negativberichte nicht mehr hören. Sie sieht vielmehr das Potenzial der Stadt mit ihren brachliegenden Industrieflächen und der prachtvollen, aber oft renovierungsbedürftigen Altbausubstanz. Zeitz erinnere sie an Leipzig zu Beginn der 2000er Jahre, sagt Mattheis.
Der Leerstand hier lädt zum Träumen ein und ist sehr inspirierend. Und der Vibe dieser Stadt, das Arbeiter- und Industrieflair, hat uns direkt angezogen.
Läuft man durch Zeitz, entdeckt man tatsächlich nicht nur bröckelnden Putz und verbarrikadierte Läden, sondern immer wieder auch Schilder und Schaufenster, hinter denen sich Geschichten von Menschen wie Petra Mattheis und Sascha Nau verbergen, die Zeitz mit Kreativität, Elan und Eigeninitiative wiederbeleben wollen. "WOW" steht etwa in großen Lettern an den Schaufenstern eines ehemaligen Kaufhauses am Zeitzer Roßmarkt. Die Abkürzung steht in diesem Fall für "World of Work", einen Co-Working-Space, den Christin Baumert und ihr Mann Sven in ein paar Wochen eröffnen wollen.
Günstige Mieten und gute Anbindung
Der Glasfaseranschluss ist bereits verlegt, ansonsten laufen die Umbauarbeiten hinter den Schaufenstern des Gebäudes, das der Zeitzer Wohnungsbaugesellschaft gehört. Die 16 Büroplätze, die hier entstehen, sind bereits größtenteils vergeben, sowohl an etablierte Unternehmen, für die der Co-Working-Space eine Art Außenstelle werden soll, als auch an Start-ups, die sich in Zeitz ansiedeln wollen, berichtet Christin Baumert. "Durch die günstigen Mieten, die vielen Freiflächen und die gute Anbindung wird Zeitz für junge Unternehmen immer attraktiver", sagt sie.
"Schon seit einiger Zeit ist hier ein Aufwärtstrend spürbar", sagt die 34-Jährige, die einen Großteil ihres Lebens in der Stadt verbracht hat. Eine Entwicklung, die sich möglicherweise noch verstärken könnte. Denn die Bahn hat angekündigt, die Bahnstrecke von Zeitz nach Leipzig und Gera in den nächsten Jahren zu elektrifizieren. Derzeit dauert es mit dem Zug von Zeitz nach Leipzig knapp 40 Minuten. Die Fahrtzeit dürfte sich dann verkürzen – und Zeitz dadurch für Pendler und Neuansiedlungen interessanter werden.
Erinnerung an frühere Zeiten
Sebastian Mäder kann sich noch gut an Zeiten erinnern, in denen Zeitz seiner Meinung nach alles andere als einladend war. "Früher", sagt der 42-Jährige, der aus der Region stammt, "war Zeitz ein heißes Pflaster. Da gab es hier vor allem Faschos und Drogen." Mit früher meint er die 1990er Jahre, als er eine Ausbildung zum Steinmetz machte und beruflich oft in Zeitz zu tun hatte. Nachdem er lange Zeit als Steinmetz in der ganzen Welt arbeitete, kaufte Mäder vor ein paar Jahren ein Haus in der Nähe von Zeitz, wo er heute mit seiner Frau und den vier Kindern lebt.
Als Steinmetz arbeitet er nicht mehr. Stattdessen betreibt er einen kleinen Bio-Laden in der Nähe des Zeitzer Rathauses. Der Start als Selbstständiger sei ihm in Zeitz einfach gemacht worden, er habe viel Unterstützung erfahren, sagt Mäder. Unter seinen Kundinnen und Kunden sind viele, die etwa aus Leipzig nach Zeitz gezogen sind.
Der Wohnraum ist günstiger als in den großen Städten. Außerdem kann man hier vieles auf die Beine stellen, was anderswo nicht möglich wäre.
Mit dem Zuzug von Künstlerinnen, Künstlern, Kreativen und Großstädtern sei das kulturelle Angebot in Zeitz deutlich gewachsen, etwa durch das Kloster Posa. Einzig die Kneipenlandschaft und das Nachtleben seien ausbaufähig. Er und seine Familie fühlten sich heute jedenfalls wohl in Zeitz und der Region – was für ihn in den 1990er Jahren nur schwer vorstellbar gewesen wäre. "Was Zeitz ausmacht, ist, dass man hier Freiräume hat und nicht alles zu Ende durchstrukturiert ist", sagt Mäder.
Viel Platz für Ideen
Die Freiräume waren es auch, die Mario Sommer nach Zeitz lockten. Der 32-Jährige, der in Arnstadt lebt, residiert mit seinem Virtual-Reality-Start-up in der Alten Nudelfabrik im Zeitzer Norden. Der imposante Backsteinbau, der lange Zeit leer stand, wurde vor einigen Jahren von einem Investorenpaar aus Baden-Württemberg gekauft.
Zwar sind viele Räume in dem riesigen Gebäude noch immer ungenutzt. Doch im Erdgeschoss hat inzwischen ein geschmackvoll eingerichteter Co-Working-Space seinen Platz gefunden, in den Etagen darüber wurden neben Künstlerateliers einfache Übernachtungsmöglichkeiten und stylische Wohnungen eingerichtet. Es hätten schon Künstlerinnen und Künstler aus verschiedensten Ländern in den Ateliers gearbeitet, erzählt Mario Sommer, während er durch das Treppenhaus nach ganz oben in den vierten Stock führt, wo sein Unternehmen sitzt.
Sommer bietet verschiedene Virtual-Reality-Anwendungen an. In einem großen Raum unter dem Dach können etwa Feuerwehrleute oder Krankenpflegende mithilfe von VR-Brillen virtuelle Ausbildungseinheiten absolvieren. Der Raum nebenan ist die Spielfläche für eine Art Lasertag, bei dem sich Spielerinnen und Spieler statt in einer echten in einer virtuellen Umgebung bewegen.
Noch vieles zu entdecken
"Ein VR-Deck in dieser Größe würde in anderen Städten ein halbes Vermögen kosten", sagt Mario Sommer. "Auch die Erreichbarkeit, etwa mit dem Zug, ist ein absoluter Luxus." Soweit die Gründe, warum er sich für den Standort Zeitz entschieden hat. Doch nicht immer laufe alles reibungslos. So habe er etwa den Eindruck, dass Förderangebote der Stadt manchmal versanden und nicht dort ankommen, wo sie gebraucht werden.
Und noch etwas ist Sommer aufgefallen: Den alteingesessenen Menschen in Zeitz fehle es teilweise am nötigen Optimismus und am Interesse für neue Unternehmen in ihrer Stadt. "Es sind doch meistens immer dieselben Menschen, die man bei Veranstaltungen oder Stammtischen trifft", sagt Sommer. Manch ältere Bürgerinnen und Bürger hätten wohl die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für ihre Stadt bereits aufgegeben.
Zeitz hat so viel Potenzial. Aber es kann noch mehr.
Potenzial ist ein Wort, das man oft hört, wenn man mit den Menschen in Zeitz spricht. Auch Petra Mattheis nutzt es, wenn sie von ihren kreativen Plänen in der neuen Heimat spricht: "Ich plane eine App für einen Grün-Parcours zwischen Ruinen, Leerstand und Brachen, der Alt- und Neu-Zeitzerinnen und -Zeitzern Potenziale in ihrer Stadt zeigen soll, die sie bislang nicht auf dem Schirm hatten", sagt sie. So will die Künstlerin Zeitz in eine großflächige Galerie verwandeln. Dass das Potenzial von Zeitz groß genug ist, um sogar internationales Publikum anzulocken, haben Mattheis und Nau bereits in ihrer neuen Rolle als Hausbesitzer erlebt: Eine ihrer Wohnungen haben sie an ein Paar aus Dänemark vermietet.
Über den Autor
Lucas Riemer arbeitet seit Juni 2021 bei MDR SACHSEN-ANHALT. Der gebürtige Wittenberger hat Medien- und Kommunikationswissenschaft in Ilmenau sowie Journalismus in Mainz studiert und anschließend mehrere Jahre als Redakteur in Hamburg gearbeitet, unter anderem für das Magazin GEOlino.
Bei MDR SACHSEN-ANHALT berichtet er vor allem über kleine und große Geschichten aus den Regionen des Landes.
MDR (Lucas Riemer)
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 05. August 2021 | 06:15 Uhr
kleiner.klaus77 am 29.03.2022
@geradeaus
Wissen über Stadtentwicklung allein reicht bei der Stadtverwaltung Zeitz nicht aus, ich brauche Schlüsselworte, nach denen die Stadtentwicklung unabdingbar ausgerichtet ist z. B.: Nachhaltigkeit.
Die Menschen kommen nur wegen der billigen Mieten und nicht weil Zeitz eine so attraktive und lebenswerte Stadt ist, davor sollte man die Augen nicht verschließen. Zeitz hat aber Potenzial, aber um das abzuschöpfen, müssen Stadtverwaltung, Alt- und Neubürger von Zeitz zusammenarbeiten.
kleiner.klaus77 am 29.03.2022
@geradeaus
Wissen über Stadtentwicklung allein reicht bei der Stadtverwaltung Zeitz nicht aus, ich brauche Schlüsselworte, nach denen die Stadtentwicklung unabdingbar ausgerichtet ist z. B.: Nachhaltigkeit.
Die Menschen kommen nur wegen der billigen Mieten und nicht weil Zeitz eine so attraktive und lebenswerte Stadt ist, davor sollte man die Augen nicht verschließen. Zeitz hat aber Potenzial, aber um das abzuschöpfen, müssen Stadtverwaltung, Alt- und Neubürger von Zeitz zusammenarbeiten.
Burgfalke am 28.03.2022
Zitat;
"Welche positive Entwicklung Städte nehmen können, zeigt die Nachbarstadt Naumburg."
Das war doch eher als Spaß gedacht oder!?
In der Innenstadt (Salz- u. Maienstraße) mehr als 20 leerstehende Ladenräume. Wären da nicht div. Telefonanbieter, die gleich mehrere Raume in verschiedenen Straßern nutzen, sehe das noch schlechter aus. Die Herrenstraße gibt kaum noch etwas "her". Der Wegzug von Rossmann ist da besonders ärgerlich.
Nach dem es nicht gelang die Straßenbahn (ein Wahrzeichen hier) zu "vernichten", hat man sich nun besonnen und legt richtig los.
Nach der Geschäftszeit und am Wochenende sieht es noch "drüber" aus.
Hätte man nicht die Gönner in Magdeburg, so sähe es dort noch "böser" aus.