Andreas Steiner, Schulleiter der Fichtenberg-Oberschule im Berliner Steglitz, schreibt 2019 an der Tafel das Wort "Demokratie".
Das Projekt "Respekt Coaches" steht vor dem Aus, weil das Bundesprogramm und damit die Finanzierung ausläuft. Bildrechte: picture alliance/dpa | Lisa Ducret

Schulsozialarbeit Demokratiearbeit an Schulen in Görlitz vor dem Aus

03. Oktober 2023, 13:41 Uhr

In Sachsen steht die Schulsozialarbeit zum Jahreswechsel vor einem großen Problem. Mehr als 20 Schulsozialarbeiter werden wegen geplanter Kürzungen im Bundeshaushalt ihren Job verlieren. Betroffen sind unter anderem die Jugendmigrationsdienste mit ihrem Projekt "Respekt Coaches". Jetzt regt sich in Görlitz Widerstand. Eine Oberschule will auf ihren "Respekt Coach" nicht verzichten.

Marlene Gries ist Schulsozialarbeiterin an der Görlitzer Oberschule Innenstadt, ein sozialer Brennpunkt. Doch die junge Frau steht vor einer ungewissen Zukunft. Denn ihre Stelle gibt es nach dem Jahreswechsel wohl nicht mehr. Sie wird über das Projekt "Respekt Coaches" bezahlt, das von den Kürzungen im Haushaltsentwurf des Bundes für das Jahr 2024 betroffen ist.
"Wie viel sind uns die Hilfe und die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wert?", fragt sich deshalb Gries und meint: "Das Aus für die 'Respekt Coaches' ergibt gerade in der Beziehungsarbeit zu Schülerinnen und Schülern keinen Sinn."

Fassade Görlitzer Oberschule Innenstadt
Im nächsten Jahr wird es wahrscheinlich in dieser Görlitzer Oberschule keinen Sozialarbeiter mehr als "Respekt Coach" geben. Bildrechte: Uwe Walter

"Die Arbeit für Demokratie an Schulen werde dem Rotstift geopfert", sagt Ernst Opitz, Sozialarbeiter vom Jugendmigrationsdienst in Weißwasser, der ebenfalls als "Respekt Coach" arbeitet und nach Görlitz gekommen ist, um seine Kolleginnen zu treffen. "Wenn Kinder nicht das achtungsvolle Miteinander lernen, ist in der Zukunft möglicherweise der soziale Frieden gefährdet." Der Schulleiter der Görlitzer Oberschule Thomas Warkus nickt dazu: "Gerade Demokratie ist in der heutigen Zeit ein wichtiges Thema, um aus der Vergangenheit zu lernen."

Feste Ansprechpartner nicht nur bei Fragen zur Demokratie

2018 war das Bundesprogramm zur Extremismus-Prävention gestartet und die Görlitzer Oberschule Innenstadt war als sozialer Schwerpunkt von Anfang an mit dabei. Sozialarbeiterin Liane Ruzier kam wie auch Marlene Gries als "Respekt Coach" nach Görlitz: "Das Schöne war, dass wir in der Schule gleich voll integriert wurden, gleichermaßen von Lehrern und Schülern." Nicht nur die Kinder und Jugendlichen mit einem Migrationshintergrund hatten seitdem einen festen Ansprechpartner für ihre Probleme, bei Mobbing, bei Differenzen aufgrund von Vorurteilen oder auch bei Verständigungsproblemen. Zur Arbeit der "Respekt Coaches" gehört zudem das Thema Demokratie.

Dazu realisierten die Coaches, wie Marlene Gries, zahlreiche Projekte, darunter Zeitzeugengespräche, Buchlesungen, Workshops, Exkursionen und Klassenfahrten. Erst am Freitag erzählte ein Aussteiger aus der Neonazi-Szene an der Görlitzer Oberschule in der Aula von seinen Erlebnissen.

Eine große schwarze Tafel listet hunderte namen und Lebensdaten auf von Menschen, die von Nationalsozialisten in der Psychiatrie Großschweidnitz bei Dresden getötet und ermordet wurden. Im Hintergrund stehen Männer und Frauen zusammen und schweigen.
Die "Respekt Coaches" organisierten auch Bildungsreisen für Schülerinnen und Schüler etwa in die Gedenkstätten nach Auschwitz oder Großschweidnitz. Bildrechte: Thomas Schneider

Schülerinnen und Schüler aus Görlitz haben auf Klassenfahrten das Konzentrationslager Auschwitz besucht, machten Bildungsreisen in die Gedenkstätte Großschweidnitz oder in den Bundestag nach Berlin. Mehr als 1.000 Schülerinnen und Schüler der Oberschule Innenstadt haben seit 2018 an den Projekten teilgenommen.

Doch nicht nur die Gruppenangebote nutzten die Kinder und Jugendlichen. Die Sozialarbeiterinnen Liane Ruzier und Marlene Gries an der Görlitzer Oberschule führten zahlreiche Schlichtungsgespräche. In diesen ging es auch um Gewalt, um Einsamkeit und Isolation.

Zahlreiche Bildungsangebote sind gefährdet

"Alle diese Angebote der primären Prävention sind jetzt gefährdet oder entfallen ganz", ärgert sich Schulleiter Thomas Warkus: "Das ist eine Katastrophe, denn damit können wir einige Projekte für Schüler nicht mehr anbieten, was uns sicherlich in zehn Jahren als Gesellschaft wieder auf die Füße fallen kann."

Warkus verweist auf den Montagabend. Seit Monaten ziehen da lautstark Demonstranten, darunter auch Rechtsradikale, an seiner Oberschule vorbei. Einige davon würden in ihren Redebeiträgen die Demokratie in Frage stellen.

Schuleiter Warkus am Schreibtisch
Schuleiter Thomas Warkus schätzt die Arbeit der "Respekt Coaches" und würde deshalb gerne die Sozialarbeiter an seiner Oberschule behalten. Bildrechte: Uwe Walter

Demokratie hilft bei der Teambildung

In der Görlitzer Schule Innenstadt treffen Kinder aus unterschiedlichen Nationen, aus unterschiedlichen Kulturkreisen zusammen. Dazu komme die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Religionsgemeinschaften. Deshalb spiele die Demokratie schon bei der Teambildung in den Klassen eine wichtige Rolle, meint der Schulleiter: "Wer sind wir? Wer wollen wir gemeinsam sein? Wer bin ich in der Klasse? Was ist meine Aufgabe in der Gemeinschaft?"

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, wurde vor fünf Jahren das Programm "Respekt Coaches – Lass uns reden!" vom Bundesfamilienministerium initiiert und finanziert. Nun läuft das Bundesprogramm aus, von dem bundesweit 190 Standorte profitiert haben.

Obwohl sich die Situation in den Schulen, insbesondere durch den derzeitigen Flüchtlingsstrom, nicht verändert habe, hätten die zuständigen Politiker eine Weiterführung offensichtlich verschlafen, kritisiert Ernst Opitz vom Jugendmigrationsdienst Weißwasser die geplanten Einsparungen des Bundes. "Respekt Coaches" müsse weiter finanziert werden, forderte er gemeinsam mit den Sozialarbeiterinnen Ruzier und Gries kürzlich bei einem Besuch der Kinder- und Jugendbeauftragten des Freistaates Sachsen, Susann Rüthrich, in Görlitz.

Zwei Männer und drei Frauen vor einer Tafel
Die Kinder- und Jugendbeauftragte des Freistaates, Susann Rüthrich (Mitte), in Görlitz, mit Ernst Opitz (links), Thomas Warkus, Liana Ruzier und Marlene Gries (rechts). Bildrechte: Uwe Walter

Keine Geldgeber für die Fortführung der Kinder- und Jugendarbeit derzeit in Sicht

Susann Rüthrich wollte wissen, was das Aus des Bundesprogramms in der Praxis für Folgen hat. Nun will sich die Kinder- und Jugendbeauftragte mithilfe der sächsischen Bundestagsabgeordneten für eine sogenannte Brückenfinanzierung über das nächste Jahr einsetzen, bis eine neue Geldquelle für die Bezahlung des Programms "Respekt Coaches – Lass uns reden!" gefunden worden ist.

Nach ihrem Besuch sagt die Kinder- und Jugendbeauftragte des Freistaates zur Arbeit von Liane Ruzier und Marlene Gries: "Hier ist eine tolle Arbeit geleistet worden und es ist wirklich schade, dass aus finanziellen Gründen diese Arbeit nach dem Jahreswechsel nicht fortgeführt werden kann, nicht nur in Görlitz." Sachsenweit könnten mehr als 20 Sozialarbeiter zum Jahreswechsel ihre Stelle verlieren.

Die Görlitzer Sozialarbeiterin Marlene Gries gibt sich als "Respekt Coach" keinen Illusionen mehr hin. Sie glaubt nicht, dass mögliche Einsprüche von sächsischen Bundestagsabgeordneten oder vom Freistaat die geplanten Einsparungen beim Bundeshaushalt in diesem Bereich noch verhindern können. Deshalb wird sie nach den Herbstferien langsam beginnen, das Büro in ihrer Oberschule auszuräumen - zum Leidwesen von Schülern, Eltern und Lehrern.

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Regionalnachrichten aus dem Studio Bautzen | 04. Oktober 2023 | 07:30 Uhr

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