Solidarität Was ein kleiner Supermarkt aus Großenhain gegen Einsamkeit von Senioren tut

17. März 2024, 09:00 Uhr

Sich einfach mal Zeit nehmen: Ein Laden in Großenhain möchte seinen Kunden nicht nur was verkaufen, sondern ihnen auch etwas schenken. Mitarbeiter helfen beim Einkauf, tragen auch mal die Tasche und nehmen sich Zeit zum Plaudern - gegen Einsamkeit und Altersdiskriminierung.

Marko Hoffmann nimmt sich das, was niemand hat: Zeit. Der Inhaber des kleinen Supermarkts auf dem Marktplatz in Großenhain nördlich von Dresden macht so ziemlich alles anders als herkömmliche Supermärkte.

Er und seine Mitarbeiter nehmen sich alle Zeit der Welt, um mit ihren Kundinnen und Kunden zu plaudern. Sie hören zu und trösten, sie packen Einkäufe ein und tragen sie aus dem Laden, hängen die Taschen an Rollis und Fahrräder. Und denen, die die schweren Flaschen nicht tragen können, liefern sie Getränke nach Hause. Ein Stück praktisch gelebte Solidarität.

Kundin an der Kasse
Einfach mal ein bisschen klönen: Mit Zeit und guter Laune kann das Einkaufen gleich viel mehr Spaß machen. Viele Seniorinnen und Senioren schätzen den kleinen Laden auf dem Marktplatz von Großenhain. Bildrechte: MDR/Marko Hoffmann

Lebensqualität am Marmeladenregal: Einander zuhören

"Wir richten uns nach den Bedürfnissen der Menschen und ihren Fragen", erklärt Marko Hoffmann, Inhaber des Großenhainer Kultladens Kirst & Co im Gespräch mit MDR SACHSEN. Viele, vor allem Senioren, hätten zu Hause oft niemanden mehr zum Austausch.

"Wir nehmen uns die Zeit, mit unseren Kundinnen und Kunden über ihre Probleme zu reden." Dabei gehe es oft um Alltägliches, doch auch um Verluste, die viele Menschen begleiten. "Letztens war eine Kundin bei uns, deren Sohn gestorben war. Sie hatte niemanden, mit dem sie darüber sprechen konnte. Natürlich hören wir hier zu."

Wir sind uns bewusst, dass wir für manche Menschen der einzige soziale Kontakt am Tag sind. Aus diesem Grund nehmen wir uns Zeit.

Marko Hoffmann Supermarktbetreiber

Angelehnt an das Konzept der Plauderkassen

Angelehnt ist das Konzept des Supermarkts an die sogenannten Plauderkassen, die in zahlreichen Läden während und nach der Pandemie entstanden sind. Die Inhaber Marko und Stefanie Hoffmann möchten zusammen mit ihren Mitarbeitern ein Ort sein, in dem Zeit für Zwischenmenschliches bleibt und nicht alles dem Diktat der Effizienz unterworfen ist. "Wir sind uns bewusst, dass wir für manche Menschen der einzige soziale Kontakt am Tag sind. Aus diesem Grund nehmen wir uns Zeit", sagt Hoffmann.

Es gebe kein konkretes Konzept, vieles ergebe sich automatisch. Man habe sich im Team verständigt, dass man Hilfestellungen bieten möchte. "Viele Kunden und Kundinnen fangen von allein an zu erzählen. Die Gespräche kommen am Regal zustande, an der Kasse, wenn wir den Leuten den Einkauf einpacken oder wenn wie ihn nach draußen tragen, um ihn an den Rollator zu hängen und an die Fahrräder, die sie mitgebracht haben."

Seniorinnen und Senioren sind dankbar

Das altersfreundliche und nahbare Konzept des Ladens fällt auf fruchtbaren Boden. "Ich gehe wahnsinnig gern zu Herrn Hoffmann, hier werde ich immer nett bedient", erklärt die Großenhainerin Christine Umlauft, die regelmäßig kommt. "Was mir besonders gefällt: Der Laden liegt mitten in der Stadt und ist nicht nur ein Geschäft, sondern eine Anlaufstelle, ein richtiger Treffpunkt". Die Großenhainerin schätzt es, auch mal privat zu reden. "Die Atmosphäre ist angenehm, ich fühle mich aufgehoben."

Kundin beim Zahlen an der Kasse
Das Kleingeld nicht sofort parat: Alles kein Problem in dem seniorengerechten Laden in Großenhain. Hier können auch mal wieder in Ruhe die Münzen gezählt werden. Bildrechte: MDR/Marko Hoffmann

Wasser wird nach Hause geliefert

Die 78-Jährige gehört zu den Kunden, die von Inhaber Marko Hoffmann auch direkt besucht werden und ihr Wasser geliefert bekommen. "Ich kann schlecht tragen, doch das ist alles kein Problem. Herr Hoffmann kommt einfach zu mir und bringt das Wasser vorbei", sagt die Seniorin. "Da kann ich mich darauf verlassen, pünktlich steht er da. Die 78-Jährige schwört auf ihren Laden: "Ich brauche keine Großmärkte und kein riesiges Sortiment, hier ist alles übersichtlich."

Überschaubares Sortiment

Marko Hoffmann muss bei diesem Aspekt lächeln, er kennt seine Kundschaft. "Gerade die älteren Leute sind in den großen Supermärkten oft überfordert. Die wollen einfach nur in einen Laden und eine Milch kaufen oder eine Marmelade. Die brauchen keine Auswahl von 30 Konfitüren, einige wenige reichen völlig", erklärt er MDR SACHSEN. Bei ihm würden die Regale nicht umgeräumt, alles bleibe an seinem Platz.

Einsamkeit ist zum gesellschaftlichen Problem geworden

Wie wichtig kleine Aktionen und Hilfsangebote gegen Einsamkeit sind, weiß Yvonne Wilke vom Kompetenznetz Einsamkeit. Das vom Bundesfamilienministerium geförderte Netzwerk beschäftigte sich mit der Umsetzung der "Strategie gegen Einsamkeit".

"Einsamkeit ist ein bedeutendes gesellschaftliches Problem geworden, dass es ernst zu nehmen gilt. Denn neben den individuellen Auswirkungen auf gesundheitlicher und emotionaler Ebene beeinflusst Einsamkeit auch das gesellschaftliche Miteinander und das demokratische Gefüge", erläutert die Wissenschaftlerin MDR SACHSEN.

Die Corona-Pandemie habe die Einsamkeitsbelastung deutlich erhöht. "Bei vielen Menschen hat sich das Gefühl der Einsamkeit über den Pandemie-Zeitraum chronifiziert. Alleine sind die meisten Menschen gerne manchmal, chronisch einsam nicht."

Yvonne Wilke
Yvonne Wilke forscht und verbindet im Kompetenznetz Einsamkeit. Das Ziel: Lösungen zu finden, Einsamkeit in Deutschland zu minimieren. Bildrechte: Yvonne Wilke

Analoge Treffen gegen Vereinsamung

Auch Andreas Göbel vom Begegnungs- und Beratungszentrum am "Nürnberger Ei" der Volkssolidarität Dresden kennt die Problematik Einsamkeit. "Wir erleben täglich, wie wichtig Möglichkeiten der Begegnung besonders für ältere Menschen sind. Sich zu treffen, gemeinsamen Interessen nachzugehen oder Verantwortung für einzelne Angebote zu übernehmen, helfen Vereinsamung zu vermeiden", erklärt er MDR SACHSEN.

"In der Sozialen Beratung begegnen wir älteren Menschen, die zurückgezogen leben. Mitunter sind wir ihre ersten oder einzigen Kontaktpersonen. Hier erleben wir verstärkt, wie sich Einsamkeit oder soziale Isolation auf den Lebensalltag auswirken."

Andreas Göbel
Andreas Göbel erlebt im Begegnungs- und Beratungszentrum der Volkssolidarität Dresden wie wichtig der Austausch für Menschen sein kann. Bildrechte: Andreas Göbel

Selbsthilfegruppen gegen Einsamkeit

Michaela Natea hat in Dresden gleich mehrere Selbsthilfegruppen gegen Einsamkeit gegründet. "Ich wollte einen positiven Raum schaffen, in dem sich Alleinlebende und einsame Menschen treffen", erklärt Natea MDR SACHSEN. Es habe zwar schon Gruppen gegeben, die seien jedoch alle sehr "krankheitslastig" gewesen. Sie habe eine Gruppe gründen wollen, in der es um positive gemeinsame Erlebnisse geht und gegenseitiges Zuhören im Vordergrund steht.

Natea kann sich noch genau erinnern. Nach einer Anzeige im Jahr 2012 kamen zum ersten Treffen mehr als 60 Leute. "Die Stühle und Tische haben nicht gereicht", erinnert sich die ehrenamtlich Engagierte. "Niemals dachte ich, dass die Nachfrage so hoch ist."

Michaela Natea
Michaela Natea hat meherer Selbsthilfegruppen gegen Einsamkeit gegründet: Es geht um den Austausch und das Einander zuhören. Bildrechte: Michaela Natea

Menschen müssen emotional abgeholt werden

Seit über zwölf Jahren leitet sie jetzt die Gruppen, die an die Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen in Dresden (Kiss) in Dresden angegliedert sind. "Das Problem der Einsamkeit ist riesig", erklärt Natea. "Wenn die Leute zum Arzt gehen oder auch zu Demos, weil sie sich einsam fühlen, hat das gesellschaftliche Folgen." Oft würden die Menschen mit ihren Ängsten allein gelassen, es müsse mehr getan werden.

Aktuell gibt es vier Gruppen, die Wartelisten sind lang. Niemand solle sich jedoch deswegen entmutigen lassen, jeder habe die Möglichkeit, selbst die Initiative zu ergreifen und eine neue Gruppe zu gründen. Kiss Dresden sei dafür ein prima Ansprechpartner. "Die Menschen müssen emotional abgeholt werden", sagt Natea. "Es geht um das Reden, das Zuhören, das Füreinander da sein."

Wenn die Leute zum Arzt gehen oder auch zu Demos, weil sie sich einsam fühlen, hat das gesellschaftliche Folgen.

Michaela Natea Leiterin einer Selbsthilfegruppe

Erinnerungen werden wach

Auf dieses Konzept setzt auch Marko Hoffmann: "Mit uns plaudern alte und junge Menschen", erzählt der Geschäftsinhaber. Ein richtiges Bedürfnis nach Kommunikation verspüre er jedoch vor allem bei den Älteren, die allein zu Hause sind und sich weder über den Alltag noch über die Weltgeschehnisse austauschen können.

"Besonders der Krieg in der Ukraine beschäftigt die älteren Kunden und Kundinnen, vielleicht auch, weil sie selbst noch Erinnerungen an den Krieg haben und Erfahrungen in der Familie wieder wachgerüttelt werden. Viele haben Angst, dass der Krieg sich nach Deutschland ausweiten könnte. Das ist bei den alten Leuten ein Riesen-Thema", erläutert Hoffmann.

Es müsse sich aber niemand Gedanken machen, dass er ewig an der Kasse steht und nicht bedient wird, ehe der Plausch beendet ist. "Es geht an unserer Kasse zügig hintereinander weg. Trotzdem nehmen wir uns Zeit für Gespräche, um unsere Kundinnen und Kunden in ihren Lebenslagen zu unterstützen", betont Hoffmann.

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Dienstags direkt | 12. März 2024 | 20:00 Uhr

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