Inklusion Reisen mit Behinderung: So steht es um die Barrierefreiheit an Thüringer Bahnhöfen
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21. Mai 2023, 12:28 Uhr
Für Menschen mit Behinderung oder eingeschränkter Mobilität können Zugfahrten schnell unangenehm werden. Nur die Minderheit der Bahnhöfe in Thüringen ist barrierefrei. Für einen schnelleren Umbau fehlen die Mittel.
- Zugreisen sind für Menschen mit Behinderung nach wie vor eine Hürde.
- Für einen schnelleren Umbau fehlen die Mittel.
- So geht es in Thüringen mit dem barrierefreien Umbau von Bahnhöfen weiter.
"Der neue Aufzug kommt demnächst." In großen Buchstaben werden Bahnreisende auf dem Erfurter Hauptbahnhof über die Instandsetzung des Aufzugs zu den Gleisen 9 und 10 informiert. Seit dem 9. Januar ist der Lift defekt. Ende Mai soll er nun wieder funktionieren - nach viereinhalb Monaten.
Im April hatte es an dieser Stelle zwei schwere Unfälle gegeben. Ein 84-Jähriger stürzte mit seinem Rollator von der Rolltreppe und verstarb später im Krankenhaus. Eine 80-jährige Frau musste ebenfalls nach einem Sturz ins Krankenhaus gebracht werden. Piktogramme auf dem Boden weisen nun darauf hin, dass die Rolltreppen nicht mit schwerem Gepäck, Fahrrädern, Kinderwagen und Rollatoren genutzt werden dürfen. Zudem informieren Aushänge über Hilfsangebote für Fahrgäste. Es hat sich etwas getan auf dem Erfurter Hauptbahnhof. Doch das ist längst nicht überall so.
Reisen mit Hürden
Nicht jeder Bahnhof in Thüringen ist barrierefrei ausgebaut. Für Menschen mit Behinderung oder eingeschränkter Mobilität kann das schnell zur Geduldsprobe oder im schlimmeren Fall zur Einbahnstraße werden. Damit eine Zugreise möglichst reibungslos verläuft, braucht es nicht selten eine mehrtägige Planung im Voraus.
"Jede Fernverkehrsfahrt muss angemeldet werden, mindestens zwei Tage vorher", erzählt Dennis Petschner. Der 32-Jährige ist Vorsitzender des Landesverbandes für Körper- und Mehrfachbehinderte in Thüringen. Seit einem Behandlungsfehler bei einer Kreuzband-Operation im Jahr 2018 kann er nur noch kurze Strecken mit Gehstützen zurücklegen. Für größere Entfernungen benötigt er einen Rollstuhl.
Jede Fernverkehrsfahrt muss angemeldet werden, mindestens zwei Tage vorher.
"Da gibt es ein Formular im Internet, wo man genau einträgt: Wann möchte ich fahren? Wo möchte ich umsteigen? Das schickt man ab und bekommt dann eine Bestätigung oder eine Ablehnung von einer Service-Zentrale, ob man die Fahrt so durchführen kann," berichtet er. Auch abseits des Bahnhofs kann das zu Problemen führen: "Es gibt genug Menschen mit Behinderung, die berufstätig sind, ich selbst auch. Da kann man nicht in jedem Fall mehrere Tage im Voraus planen."
Spontan mit dem Zug fahren? Schwierig bis unmöglich - je nachdem wo es hingeht. Die Bahnhöfe in größeren Städten sind nach Petschners Erfahrung meist besser ausgebaut als in kleineren Ortschaften. Weil Thüringen aber sehr ländlich geprägt ist, kann es für Menschen mit Behinderung gerade dort schwierig werden. Seitens der Deutschen Bahn (DB) gibt es dafür Hilfsangebote, etwa die Mobilitätsservice-Zentrale (MSZ). Die ist zwar rund um die Uhr erreichbar, doch hat auch ihre Grenzen.
Letztlich kommt man nicht dort an, wo man hin muss.
Zum einen wird empfohlen, die Fahrt "bis spätestens 20 Uhr am Vortag der Reise anzumelden." Zum anderen verfügt nicht jeder Bahnhof in Thüringen über das entsprechende Service-Personal vor Ort. "Das heißt, das endet dann so, dass gebeten wird, doch den nächsten Zug in den nächstgrößeren Bahnhof zu nehmen, wo dann wieder Service-Personal verfügbar ist, welches einem dann hilft, aus- oder einzusteigen", berichtet Petschner aus eigener Erfahrung.
Zum Aufklappen: Was gilt als Behinderung?
Im Neunten Sozialgesetzbuch (SGB IX) heißt es: "Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist."
Der Grad der Behinderung (GdB) richtet sich nach dem Schweregrad, der zwischen 20 und 100 Prozent in Zehnerschritten festgelegt werden kann. Bei über 50 Prozent ist von einer Schwerbehinderung die Rede. Ab diesem Schweregrad kann ein Schwerbehindertenausweis beantragt werden.
"Letztlich kommt man nicht dort an, wo man hin muss. Ich bin beispielsweise von Frankfurt nach Eisenach gefahren mit dem ICE. Dann hat der Zug Verspätung gehabt. Das heißt, der Zug wäre beispielsweise erst 20.13 Uhr angekommen. Das Service-Personal arbeitet hier aber nur bis 20 Uhr. Ich hatte dann keine Möglichkeit mehr, in Eisenach auszusteigen. Dann bekommt man die Mitteilung des Service-Personals im Zug: Bitte fahren Sie bis Erfurt, dort gibt es noch Service-Personal. (...) Dann muss man mit dem Abellio wieder von Erfurt nach Eisenach fahren, weil man in den ohne Hilfe reinkommt."
Endstation Bahnhof
"Wenn man die Stadt Erfurt nimmt, hat man Glück, wenn man nur mit der Straßenbahn unterwegs ist", erzählt Martina Dorenwendt. "Die sind mittlerweile soweit angepasst, dass man ebenerdig reinkommt. Aber sobald man mit dem Zug unterwegs ist, ist beispielsweise schon die Strecke nach Mühlhausen ein Problem." Martina Dorenwendt ist die stellvertretende Vorsitzende des Landesverbandes für Körper- und Mehrfachbehinderte. Die heute 42-Jährige hatte im Alter von 17 Jahren einen schweren Motorrad-Unfall. Seitdem ist sie querschnittsgelähmt.
"Sobald die Züge nur noch an bestimmten Gleisen anhalten, ist man als Rollstuhlfahrer immer auf einen Fahrstuhl angewiesen. Und sobald der ausfällt, hat man ein Problem: Man kommt nicht mehr vom Bahnhof runter und kann das Gleis nicht wechseln." Ein weiteres Hilfsmittel, welches die DB anbiete, seien zwar auch der Taxigutschein - aber auch dafür müsste man das Gleis verlassen können. Und nicht immer steht auch ein Fahrzeug zur Verfügung, das einen elektrischen Rollstuhl transportieren kann.
Für mich wäre es generell nicht möglich, weil ich keine Fingerfunktion habe.
Oft sei auch schon die Erreichbarkeit des Bahnhofs ein Problem, gerade im bereits erwähnten ländlichen Raum. Entweder gibt es nur Treppen oder Unterführungen, entsprechende Leitsysteme fehlen - beispielsweise für blinde Menschen - oder akustische Informationen sind nicht vorhanden.
"Selbst der Fahrstuhl oder die Automaten sind nicht für alle Menschen bedienbar. Für mich wäre es generell nicht möglich, weil ich keine Fingerfunktion habe", berichtet Dorenwendt. Und noch ein weiteres Beispiel führt sie an: "Sobald Schienenersatzverkehr ist und keine Busse mit Niederflurtechnik eingesetzt werden - der Reisebusse ohne Hublift - kommt man nicht weiter."
Barrierefreiheit als "Zukunftsvision"
Dass es um die Barrierefreiheit auf den Bahnhöfen im Freistaat besser bestellt sein könnte, weiß man auch bei der Deutschen Bahn. "In Thüringen sind 81 von insgesamt 280 weitreichend barrierefrei", schreibt die DB auf Anfrage. Es werde aber überall an barrierefreien Zugängen gearbeitet: bei Zügen, Bussen, Reisezentren, Fahrkartenautomaten, digitalen Plattformen - und natürlich auch bei Bahnhöfen.
Bei letzteren sei die Reisendenfrequenz ein wesentlicher Faktor. Heißt, je mehr ein Bahnhof genutzt wird, desto höher ist die Chance, dass er barrierefrei umgebaut wird. Der Umkehrschluss: kleinere Bahnhöfe - gerade im ländlichen Raum - bleiben für Menschen mit Mobilitätseinschränkung länger problematisch.
Wir sind uns bewusst, dass es für Rollstuhlfahrer und andere mobilitätseingeschränkte Reisende unbefriedigend ist, wenn Anlagen nicht barrierefrei sind.
Wann ein Bahnhof als "weitreichend barrierefrei" gilt - wie die Deutsche Bahn es nennt - ist genau definiert. Für sieben sogenannte "PRM-Nutzer-Gruppen" (PRM=Persons with reduced mobility), also für Menschen mit eingeschränkter Mobilität, hat die Bahn elf Kriterien ausgemacht, wann sie einen Bahnhof als barrierefrei betrachtet:
"Wir sind uns bewusst, dass es für Rollstuhlfahrer und andere mobilitätseingeschränkte Reisende unbefriedigend ist, wenn Anlagen nicht barrierefrei sind. Wir bitten aber um Verständnis, dass es für den barrierefreien Ausbau von Bahnhöfen angesichts der Vielzahl von Bauprojekten und der begrenzten Mittel Grenzen gibt, die natürlich bundesweit einheitlich gelten," erklärt die DB den langen Prozess zur "Zukunftsvision des barrierefreien Reisens". Programme zur Barrierefreiheit auf Bahnhöfen gibt es nach Unternehmensangaben seit 2005.
Dass es mit der Barrierefreiheit auf Bahnhöfen im Allgemeinen nur schleppend vorangeht, stellt auch der Verkehrsclub Deutschland (VCD) fest. Dafür hat der Verein in seinem Bahntest 2023/2024 fünf Hauptgründe identifiziert:
Zum Aufklappen: Fünf Hauptprobleme beim barrierefreien Umbau auf Bahnhöfen
- 1. Die Rechtsgrundlage ist besonders wegen der vielen Ausnahmemöglichkeiten ungenügend. Die Weiterentwicklung von Definitionen und Standards wird zudem nur stark verzögert in die Gesetze von Bund und Ländern integriert. Verbindliche bundeseinheitliche Standards würden die Prozesse vereinfachen, Sanktionsmechanismen den Handlungsdruck auf die Akteure erhöhen und zu einer schnelleren Umsetzung beitragen.
- 2. Projekte können oft nicht umgesetzt werden, weil finanzielle Mittel fehlen. Das Geld für den öffentlichen Verkehr ist insgesamt zu knapp bemessen. Deshalb wird oft auch bei der Barrierefreiheit gekürzt, obwohl es langfristig günstiger wäre, wenn Bauprojekte und neue Fahrzeuge gleich die absehbar steigenden Standards berücksichtigen würden.
- 3. Ein weiterer Engpass ist häufig fehlendes und ungeschultes Personal in Verwaltung, Planungsbüros und Baufirmen. Eine ungenügende Beteiligung von Beauftragten, Beiräten und Verbänden kommt oft hinzu. Auch hier fehlen Geld und Personal sowie klar definierte Mitbestimmungsrechte.
- 4. Ein weiteres Hindernis für die Barrierefreiheit ist die unklare Verteilung der Verantwortlichkeiten. Die Palette der Akteure ist breit gestreut: Von Bund, Land und Kommune über die Verkehrsverbünde bis hin zur Privatwirtschaft. Dadurch ist die Abstimmung schwierig und zeitaufwendig und eine zielgerichtete Umsetzung kaum möglich.
- 5. Darüber hinaus gibt es Interessenkonflikte: Ein altes Bahnhofsgebäude verlangt nach Denkmalschutz, ein Supermarkt neben der Haltestelle nach mehr Parkplätzen – die Ansprüche an den öffentlichen Raum sind vielfältig, eine Einigung nicht immer einfach.
Wie geht es mit der Barrierefreiheit in Thüringen weiter?
Natürlich haben sich in den vergangenen Jahren auch Dinge verbessert. "Also bei Abellio muss man sagen, da haben wohl auch wirklich Betroffene mitgewirkt bei der Gestaltung. Der Abellio ist sehr großzügig, man kann da mit Rollstuhl reinfahren und auch wenden. Der Regionalexpress ist hingegen in keiner Weise barrierefrei", sagt Petschner.
Was die Bahnhöfe in Thüringen betrifft, wurde laut DB im vorigen Jahr der Bahnhof Zella-Mehlis stufenfrei ausgebaut. Noch 2023 sollen im Bahnhof Kahla neu gebaute Aufzüge in Betrieb gehen. Die Bahnhöfe Altenburg und Gößnitz werden aktuell modernisiert und barrierefrei ausgebaut.
Darüber hinaus nennt die Deutsche Bahn das Programm "kurzfristige Maßnahmen zur Anhebung der Qualitätskennzahl Barrierefreiheit". Damit sollen in diesem Jahr Bahnsteige mit Handlaufschildern (HLS) und Wegeleitschildern (WLS) ausgestattet werden, um beispielsweise blinden Menschen eine bessere Orientierung zu ermöglichen.
Auch aus den Konjunkturpaketen des Bundes seien in den vergangenen zwei Jahren kleinere Maßnahmen umgesetzt worden. Bis alle Bahnhöfe in Thüringen wirklich als barrierefrei gelten können, wird es also noch viele Jahre dauern. Solange bleibt die "Zukunftsvision des barrierefreien Reisens" ein angestrebtes Ideal.
MDR (cfr)
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 17. April 2023 | 19:00 Uhr
Tamico161 am 21.05.2023
Wenn man als Rollstuhlfahrer mit der Bahn von Kahla nach Jena fahren möchte, muß man zunächst nach Saalfeld fahren um dort, so Gott will und der Aufzug nicht defekt ist, die Fahrtrichtung gen Jena fort zu setzen! „Die Bahn kommt“. Wieviele Unterführung mit Aufzügen könnte man in D allein mit den Bonizahlungen der Vorstände bauen?
Lyn am 21.05.2023
Das Problem ist nicht nur in Thüringen. Das Problem ist bundesweit.
Ganz toll ist auch, wenn der Fahrstuhl im Bf defekt ist. Dann mit körperlicher Beeinträchtigung die Rolltreppe mit 2 Gepäckstücken ist schon grausam. Ich lasse mich trotzdem nicht vom Reisen abhalten, es gibt überberall nette Leute, die behilflich sind.
IdR findet sich problemlos ein netter Mensch der mir die Koffer in den Zug und wieder hinaushebt, meist muss ich nicht mal fragen, ich werde angesprochen, egal wo ich unterwegs bin.
Mit Rollstuhl ist das aber noch eine andere Hausnummer.
Durch das Merkmale aG im Schwerbehindertenausweis bekommen die Leute wenigstens die Taxifahrt auch dann zum Arzt wenn es "nur" ambulant ist. Das Taxi muss halt entsprechend ausgestattet sein und es muss Hilfe beim einsteigen und aussteigen da sein.
Durch das Theater bei öffentlichen Verkehrsmitteln haben die meisten Rollstuhlfahrer ein Auto, das entsprechend ausgestattet ist. Behördengänge u.a. sind sonst gar nicht machbar.