Energiepreise und Inflation Bis zu viermal so teuer: Warum Nebenkosten in Thüringen stark unterschiedlich steigen

15. Juli 2022, 11:32 Uhr

Mit ihrer Betriebskostenabrechnung werden viele Thüringer Mieter und Mieterinnen in den nächsten Tagen und Wochen einen ersten Vorgeschmack bekommen, was die steigenden Gaspreise für sie bedeuten. Fast flächendeckend ist mit drastisch steigenden Nebenkosten-Vorauszahlungen zu rechnen. Vor allem die Heizkosten könnten sich zum sozialen Sprengstoff entwickeln, auch weil der Freistaat die mit Abstand teuersten Fernwärmepreise in ganz Deutschland hat.

Wer zur Miete wohnt, kennt diese eigentümliche Anspannung. Sie macht sich breit, wenn das Schreiben vom Vermieter oder seiner Hausverwaltung mit der jährlichen Betriebskostenabrechnung im Briefkasten liegt. Nicht wenige Mieter und Mieterinnen öffnen den Umschlag mit klopfenden Herzen und überschlagen im Kopf, noch während sie die mehreren A4-Seiten auseinanderfalten, wie viele Badewannen und Tage mit der Heizung auf "4" es wohl gewesen sein mögen.

Häufig fällt mit der Abrechnung dann eine satte Nachzahlung an - und die monatlichen Abschläge steigen, während die Stimmung in den Keller geht. Manchmal aber löst sich die Anspannung auch in Wohlgefallen auf, weil eine unerwartete Rückzahlung etwa nach einem milden Winter einen Geldsegen beschert. Dann kann die Betriebskostenabrechnung sogar Euphorie auslösen.

Höhere Nebenkosten trotz Rückzahlung

Ein solches Happy End wird es in diesem Jahr für Mieter und Mieterinnen in Thüringen nicht geben. Selbst diejenigen, die aus dem Jahr 2021 eine Rückzahlung erhalten, werden wohl eine drastische Nebenkostenerhöhung hinnehmen müssen. Grund dafür sind vor allem die seit Februar, mit dem Beginn des Ukraine-Kriegs, enorm gestiegenen Energiepreise und die Inflation.

"Das mag paradox sein, wenn jemand seinen Brief aufmacht und sagt: 'Oh toll, für letztes Jahr kriege ich noch 50 Euro zurück.' Und dann sagt der Vermieter, du musst ab jetzt 70 Euro mehr pro Monat bezahlen", erklärt Frank Emrich, Verbandsvorstand der Thüringer Wohnungs- und Immobilienwirtschaft e.V. (VTW). Dieser Verband vertritt die Interessen vor allem der kommunalen Wohnungsgesellschaften und der Wohnungsgenossenschaften.

Emrich sagt, die meisten Vermieter würden die Gelegenheit der Nebenkostenabrechnung 2021 nutzen, um die Vorauszahlungen für die Heizkosten zu erhöhen. "Damit die Abrechnung des Jahres 2022 nicht zu ganz, ganz bösen Überraschungen führt", so Emrich.

Frank Emrich, Vorstand Thüringer Wohnungs- und Immobilenwirtschaft e.V. (VTW) 19 min
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Frank Emrich ist Vorstand der Thüringer Wohnungs- und Immobilenwirtschaft e.V. (VTW). Im Interview spricht er über die Auswirkungen der steigenden Heizpreise auf Mieter und Vermieter in Thüringen.

MDR THÜRINGEN - Das Radio Do 14.07.2022 11:25Uhr 19:22 min

https://www.mdr.de/nachrichten/thueringen/audio-frank-emrich-vtw-nebenkosten-heizen-100.html

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Teils bis zu viermal so hohe Heizkosten

Das sieht auch Sven Rühr so, seines Zeichens Präsident des Eigentümerverbandes Haus und Grund Thüringen. "Jeder, der die Betriebskostenabrechnung jetzt vorlegt und dabei nicht mit dem Mieter eine Erhöhung bespricht, handelt fast schon fahrlässig", sagt Rühr. Denn während viele Mieter von den steigenden Kosten bisher vor allem in Medienberichten hörten, erleben sie die Vermieter, die bei den Heizkosten in Vorleistung gehen, schon jetzt auf dem eigenen Konto.

Von anderthalb bis zweieinhalb Mal höheren Abschläge spricht Rühr. Frank Emrich erlebt sogar noch höhere Preise: "Wir sehen im Moment in der Spitze Preissteigerungen im Bereich der Heiz- und Warmwasserkosten vom bis zu Vierfachen des Jahres 2021. Die liegen uns jetzt schon auf dem Tisch."

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Sven Rühr ist Präsident von Haus und Grund Thüringen. Im Interview spricht er über die Auswirkungen der steigenden Heizpreise auf Mieter und private Vermieter in Thüringen.

MDR THÜRINGEN - Das Radio Do 14.07.2022 11:25Uhr 07:45 min

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Spannungen zwischen Mietern und Vermietern erwartet

In Thüringen haben deshalb schon viele Wohnungsgesellschaften und -genossenschaften ihre Mieter gebeten, die monatlichen Abschläge auf freiwilliger Basis zu erhöhen. Laut Emrich hätten dem auch rund 60 Prozent der gefragten Mieter zugestimmt. Aber selbst diese würden wohl vielerorts weitere Erhöhungen im Rahmen der Betriebskostenabrechnung erleben. Für das ohnehin nicht immer unproblematische Verhältnis zwischen Mieter und Vermieter könnte das in Zukunft weitere Spannungen bedeuten. Von "sozialem Sprengstoff" spricht Emrich.

Sven Rühr warnt davor, sich auf die Regierung zu verlassen. Die 300 Euro aus dem Entlastungspaket würden nicht reichen, um die Mieter vor den horrenden Preisen zu schützen. "Rechnen Sie das durch zwölf, dann sind das nur 25 Euro im Monat. Aber wer bisher 50 Euro für Heizkosten im Monat zahlte, der muss jetzt 100 oder eigentlich 150 Euro zahlen", sagt Rühr und befürchtet, "dass es nächstes Jahr tausende Fälle geben wird, wo Betriebskostenzahlungen dann abgestottert werden müssen und es problematische Gespräche zwischen Mietern und Vermietern geben wird."

Steigerungen der Gaspreise in Thüringen sehr verschieden

Wohin sich die Heizkosten konkret entwickeln, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Fest steht, dass die Preise wohl weiter steigen, wenn Russland die Gaslieferungen über Nordstream 1 nach der Turbinenwartung nicht wieder aufnimmt. So oder so - schon jetzt zeigt sich, dass die Gaspreise Thüringer Haushalte regional unterschiedlich stark belasten. Das hängt mit den derzeit etwa 30 Fernwärmeerzeugern in Thüringen und deren Energiebedarf zusammen.

Besonders hart trifft es Kommunen, deren Fernwärmeerzeuger komplett auf Gas angewiesen sind, wie die Sömmerdaer Energieversorgung GmbH (SEV). Am 1. Juli 2022 hat das Unternehmen den Preis für Fernwärme-Vertragskunden auf 30,57 Cent/kWh angehoben. Am 1. Januar 2022 kostete die Kilowattstunde noch 17,56 Cent. Vor einem Jahr waren es gerade mal 8,93 Cent. Die SEV berechnet die Preise halbjährlich nach einer sogenannten Revisionsformel. Deshalb sind ihre Preise derzeit nicht nur aktuell, sondern auch besonders hoch.

"Unsere Preisrevisionsformel hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass wir Preisvergünstigungen zeitnah an den Kunden weitergeben konnten", erklärt Geschäftsführer Klaus-Dietrich Mattuschek, "jetzt erleben wir leider das Gegenteil." Andere Versorger, die mit Gas heizen, würden bis zum Jahresende nachziehen müssen, ist Mattuschek überzeugt.

Er ärgert sich vor allem darüber, dass die SEV gerade an einem Projekt arbeitet, das den Gasbedarf des Unternehmens um 25 Prozent reduzieren soll. Ein Blockheizwerk soll dabei Wasser der Unstrut zur Fernwärmegewinnung nutzen. "Das Problem ist, dass wir erst 2024 damit fertig werden", so Mattuschek.

Warum Ilmenau und Suhl Glück haben könnten

Andere Fernwärmeerzeuger haben derweil das Glück, schon jetzt weniger auf fossile Brennstoffe angewiesen zu sein. Ihre Kunden sind entsprechend besser dran. Die Ilmenauer Wärmeversorgung GmbH zum Beispiel produziert Wärme in einem Blockheizwerk aus Holzabfällen. Aktueller Preis für die Kilowattstunde: 14,94 Cent. Ganz ohne fossile Brennstoffe geht es aber auch hier nicht. "Unsere Wärme entsteht nur zu etwa 35 Prozent aus Erdgas. Den Großteil unserer Wärme erzeugen wir in unserem Biomasse-Heizwerk. Wenn das in der Winterheizperiode nicht mehr ausreicht, haben wir Kessel, die Erdgas oder Öl einspeisen können", erklärt Betriebsleiter Marcus Vogel. Die Heizpreise werden also auch hier steigen, aber deutlich weniger stark als etwa in Sömmerda, auch weil hier Heizöl eine Preisalternative bietet. 

Ilmenau - Stadt Panorama mit Jakobuskirche Campus der Technischen Universität und ICE Ilmtalbrücke bei Langewiesen
In Ilmenau haben Mieter und Mieterinnen Glück. Die Ilmenauer Wärmeversorgung GmbH verheizen größtenteils Holzabfälle im Blockheizwerk. Bildrechte: IMAGO / ari

Glück könnten laut Frank Emrich auch die Kunden in Suhl haben. Die Stadtwerke Suhl/Zella-Mehlis GmbH (SWSZ) beziehen einen Teil ihrer Wärme aus der Müllverbrennungsanlage und sind damit zumindest weniger stark von den Gaspreisen betroffen. Aber auch hier sehen Prognosen Preissteigerung von mehr als 70 Prozent vor. So ist es zumindest auf der Website des Unternehmens zu lesen. Eine Nachfrage von MDR THÜRINGEN ließen die SWSZ unbeantwortet. Der Geschäftsführer sei im Urlaub, hieß es zur Begründung.

Auch Kaltmieten und sonstige Nebenkosten steigen

Weil die Heizkosten derzeit das beherrschende Thema sind, wird oft vergessen, dass Mieter sich auch darauf einstellen müssen, dass die sonstigen Nebenkosten und perspektivisch auch die Kaltmieten steigen. "Das Problem ist, dass auch die Preise für Handwerker und Reparaturmaßnahmen jeder Art steigen", führt Sven Rühr vom Eigentümerverband Haus und Grund Thüringen aus. Die Inflation treibe Material- und Dienstleistungspreise. Letztere würden durch den steigenden Mindestlohn im Oktober und den Fachkräftemangel zusätzlich befördert.

Frank Emrich vom Wohnungs- und Immobilienverband schätzt, dass allein die kalten Nebenkosten um 30 bis 50 Prozent steigen werden. Müllkosten, Wasser, Abwasser, Hausmeisterdienste - all diese kalten Faktoren würden teurer, rechnet er auf. Hinzu kämen durch die Inflation auch steigende Kaltmieten, die nach Emrichs Schätzung im Schnitt wohl um etwa 3 bis 4 Prozent zulegen werden. "Leben und in dem Fall wohnen wird deutlich teurer", bilanziert er. 

Die Prognosen wurden vom MDR erstellt und basieren auf den Schätzungen der Experten in diesem Artikel: Heizkosten +100 bis +300 Prozent, kalte Nebenkosten +30 bis +50 Prozent, Kaltmiete +3 bis +4 Prozent.

Thüringen schon jetzt mit höchsten Heizpreisen

All diese negativen Perspektiven sollten nicht nur Thüringer Mieter und Mieterinnen Sorgen bereiten, sondern vor allem die Rot-Rot-Grüne Landesregierung in Alarmbereitschaft versetzen. Denn zu den aktuellen Entwicklungen kommt hinzu, dass Thüringen seit 2021 die höchsten Heizkostenpreise in Deutschland verzeichnet. Dabei legte der Freistaat innerhalb nur eines Jahres einen gewaltigen Preissprung hin, der sich in den Preisübersichten des Energieeffizientverbands (AGFW) feststellen lässt. In den Jahren zuvor schwankten die Fernwärmepreise eher moderat.

Ein Sprecher des Thüringer Umweltministeriums erklärte diese Spitzenpreise mit der hohen Gasabhängigkeit des Freistaats. Der Gaspreis sei in den letzten Monaten gestiegen und wirkt sich besonders stark dort aus, wo der Gas-Anteil besonders hoch ist, heißt es in der Antwort. Bezeichnend dabei ist, dass in der Landesregierung scheinbar keiner so genau weiß, wie stark Thüringens Fernwärmeproduzenten vom Gas abhängig sind.

Auf Anfrage von MDR THÜRINGEN verwies das Thüringer Umweltministerium an den Verband Kommunaler Unternehmen (VKU). Dessen Landesverband konnte zwar zu den einzelnen Fernwärmeproduzenten keine Angaben machen, teilte aber immerhin mit: "Der Anteil gasbasierter Fernwärme in Thüringen liegt bei über 90 Prozent."

Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was das für das politisch ohnehin fragile Thüringen bedeutet, wenn es aufgrund einer Gasmangellage zur "gesellschaftlichen Zerreißprobe" kommt, wie es Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) jüngst prognostizierte.

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MDR (ask)

174 Kommentare

THOMAS H am 16.07.2022

lulu2020:
"THOMAS H. ich wünschte, Sie wären Politiker"

Ob das die oberste Gesellschaftsschicht prickelnd finden würde, wage ich zu bezweifeln, wobei mir dann auch noch die Unterstützer für die Umsetzung meiner Gedanken fehlen würden. ;-)

In Bezug Heizkostenzuschuss, hoffe ich, das es noch zu einer Regelung kommt, so daß die gesamte Bürgerschaft, diesen ohne irgendwelche Abzüge bekommt.

THOMAS H am 16.07.2022

Bria21: Wieder die Möglichkeit, daß die Zeilen nicht durchkommen, aber, "Wer nicht wagt, der nicht gewinnt".
Das Problem mit den Angemessenheitskriterien ist nur, das es angemessenen Wohnraum z. B. für 1 Person kaum gibt, so daß viele Leistungsempfänger gar nicht die Umzugsmöglichkeit haben und trotz Sparsamkeit, ihren Regelsatz zur Zahlung der Kosten der Unterkunft nutzen müssen. Gesetze und Realität sind eben nicht immer konform.

Bria21 am 16.07.2022

Die Miet und Nebenkosten werden NUR in den Angemessenheitskriterien übernommen. Das finde ich auch völlig richtig und logisch. JEDER kann nur in einer so großen Wohnung leben oder ein so großes Auto fahren, wie er sich leisten kann.

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