FAKT ist! aus Erfurt
Lars Sänger und Andreas Menzel diskutieren mit der Thüringer Migrationsministerin Doreen Denstädt, Bündnis90/Grüne, dem Suhler Oberbürgermeister André Knapp und dem Präsidenten des Landesverwaltungsamtes Frank Roßner. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Fakt ist! aus Erfurt Überfordert und überbelegt - Wie weiter in der Migrationspolitik

24. Oktober 2023, 02:04 Uhr

Die Erstaufnahmeeinrichtungen im Land sind überfüllt. Die Zahl der Geflüchteten ist so hoch wie lange nicht mehr. Viele Kommunen kommen an ihre Grenzen und fühlen sich allein gelassen. Darüber sprachen Lars Sänger und Andreas Menzel am Montag mit ihren Gästen in Erfurt.

Es sind völlig verschiedene Probleme, die die Menschen im Publikum ansprechen. Ein Berufsschüler hat keinen Sportunterricht, weil in seiner Turnhalle Geflüchtete untergebracht waren, eine Frau sorgt sich um bezahlbaren Wohnraum, eine andere hat komplett das Vertrauen in die Politik verloren.

Thema ist auch die Spaltung der Gesellschaft. Ein Gedanke aber kommt in allen Wortmeldungen sehr klar zum Ausdruck: Die Menschen haben "Angst, dass wir diese Situation nicht bewältigt bekommen".

Flüchtlinge gehen in der hessischen Erstaufnahmeeinrichtung (HEAE) in Gieߟen zu einem wartenden Bus.
Im ersten Halbjahr 2023 wurden in Thüringen mehr als 3.900 Asylanträge neu gestellt.  Bildrechte: picture alliance/dpa | Boris Roessler

Mit "dieser Situation" ist gemeint, dass die Thüringer Kommunen beim Thema Migration an ihre Grenzen gekommen sind, manche sogar darüber hinaus.

Kritik an Landesregierung und Migrationsministerium

Gäste im Studio waren die Thüringer Migrationsministerin Doreen Denstädt, Bündnis90/Grüne, der Suhler Oberbürgermeister André Knapp und der Präsident des Landesverwaltungsamtes Frank Roßner.

Erst seit Februar ist Migrationsministerin Doreen Denstädt im Amt, jetzt muss sie die Probleme angehen, die seit Jahren aufgelaufen sind. Kommunalpolitiker sind sich, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit, einig, dass das zu langsam oder gar nicht passiert.

Erfurts Oberbürgermeister Andreas Bausewein sagt: "Das Land hat seit acht Jahren seine Hausaufgaben nicht gemacht. 2015, 2016, 2017 haben die Kommunen das alles noch hinbekommen, da hat man es dann einfach laufenlassen."

Zuletzt hatten sich etwa 90 Prozent der Teilnehmenden bei einer MDRfragt-Umfrage unzufrieden mit der Migrationspolitik gezeigt. 30.000 Menschen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen haben sich an der Umfrage beteiligt. Ministerin Denstädt: "Ich bin auch unzufrieden, ich schließe mich diesen 90 Prozent an".

Kommunen in Thüringen fühlen sich alleingelassen

Es ging an diesem Abend nicht um Bundespolitik oder die der EU, sondern ganz konkret um die Situation in Thüringen. Die Erstaufnahmeeinrichtung in Suhl ist seit Monaten "chronisch überbelegt", wie André Knapp sagt.

Schon mit dem vorigen Migrationsminister, Dirk Adams, habe es viele Gespräche gegeben. Die Oberbürgermeister und Landräte hätten immer wieder Vorschläge gemacht. "Wir haben hier kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Umsetzungsproblem", so Knapp. Das Land habe einfach zu spät begonnen, neue Kapazitäten zu schaffen.

Das räumt auch Doreen Denstädt ein. Als die Zahlen 2017 wieder zurückgegangen waren, habe man viele Objekte wieder aufgegeben, keine Puffer geschaffen. "Aber jetzt ist allen bewusst und klar, dass Migration eine Daueraufgabe ist."

Aber, so betonte sie, Thüringen hat keinen Einfluss darauf, wie viele Menschen hierherkommen. "Die Geflüchteten werden uns nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel zugewiesen. Wir werden nicht vorgewarnt, was die Ankunftszahlen betrifft."

Thüringen plant vier neue Gemeinschaftsunterkünfte

Das Ministerium sucht dringend neue Erstaufnahmeeinrichtungen. "Ein Markterkundungsverfahren hat elf Interessensbekundungen gebracht, das Landesamt für Bau und Verkehr schaut sich jetzt all diese Objekte an und prüft, ob sie geeignet sind", so die Ministerin.

Außerdem werden laut Denstädt Notunterkünfte gesucht, um die Unterbringung der Menschen in Zelten zu vermeiden. "Man darf aber nicht vergessen -  Asyl ist ein Grundrecht. Das ist eine gesetzliche Aufgabe", betont Denstädt.

"Wir wissen nicht, wie viele kommen"

Auch das Landesverwaltungsamt (LVA) hat mit der Aufnahme von Geflüchteten zu tun. Dort gibt es zwei Referate, die sich vorwiegend mit Migrationsthemen beschäftigen - sie unterliegen der Rechtsaufsicht des Innenministeriums, aber der Fachaufsicht des Justiz- und Migrationsministeriums.

Das LVA betreibt die vorhandenen Einrichtungen. Sein Präsident ist Frank Roßner. Er sieht das Problem nicht in einer falschen Planung: "Die Entwicklung der Ankünfte hat eine Dynamik, die die Pläne für die Einrichtungen ad absurdum führt".

Die Zahlen seien innerhalb kurzer Zeit so gestiegen, dass die Systeme nicht mehr funktionierten. "Wenn 20, 30 oder 40 Menschen ankommen, kommen wir damit klar. Wenn aber innerhalb von 48 Stunden 400 ankommen, überfordert das die Systeme".

Wohnungsmangel nicht nur bei Geflüchteten

Verschärft wird das Ganze für Erfurts OB Bausewein dadurch, dass es in Thüringen keine Residenzpflicht für die Geflüchteten gibt. "Nach der ersten Welle der Zuweisungen für Thüringen hatten wir eine zweite Welle von Menschen, die lieber in die großen Städte wollten."

Er weigert sich inzwischen, Turnhallen für die Geflüchteten zur Verfügung zu stellen, Wohnungen gibt es aber auch keine mehr. Das ist auch ein Problem, das Betty Guerlin beschäftigt, die im Publikum saß. "Überall suchen die Menschen bezahlbaren Wohnraum, der steht aber nicht zur Verfügung."

Bausewein sagte beispielsweise, in Erfurt läge der Leerstand bei einem halben Prozent. "Das ist nichts! Und da geht es ja nicht nur um Geflüchtete. Selbst, wenn man jetzt Förderprogramme für sozialen Wohnungsbau auflegt, stehen die Wohnungen erst in zwei-drei Jahren zur Verfügung."

Nach der ersten Welle der Zuweisungen für Thüringen hatten wir eine zweite Welle von Menschen, die lieber in die großen Städte wollten.

Andreas Bausewein Erfurter Oberbürgermeister

Dazu komme, so der OB, dass auch Kita- und Schulplätze mit dem Zuzug verbunden seien. "In Erfurt gehen etwa 3.000 Kinder mit Migrationshintergrund zur Schule. Und das sollen sie ja auch. Aber für neue Schulen kommt kein Geld vom Land." Aus seiner Sicht müssten die größeren Städte finanziell deutlich besser unterstützt werden.

Wichtiges Thema: Arbeitsverbote

Wenn André Knapp von Streitigkeiten und Konflikten in der Suhler Erstaufnahmeeinrichtung sagte, ist die fehlende Beschäftigung einer so großen Zahl von Menschen immer wieder Thema.

Eine Mitarbeiterin des Hauses hatte Lars Sänger erzählt: "Wir lassen die Menschen in unser Land und kümmern uns dann nicht um sie. Von 100 Bewohnern hier sind 85 kein Problem, aber mit den 15 übrigen kommen wir nicht klar." Das führt laut Knapp auch zu Spannungen mit den Anwohnern.

In Suhl soll es deshalb jetzt regelmäßig Veranstaltungen geben, in denen den Geflüchteten die deutschen Gesetze und die Lebensweise in Thüringen erklärt werden können. "Eigentlich müsste es auch eine Sozialbetreuung geben, die ist in Suhl aber nicht so, wie ich mir die vorstelle" so die Ministerin.

Dazu kommen die Arbeitsverbote. Abschlüsse werden nicht anerkannt, Zertifikate sind schwer zu besorgen, wenn man aus einem zerstörten Land fliehen musste. Aber die Geflüchteten sind ja keine homogene Masse. Da sind gut ausgebildete Menschen dabei, die wollen arbeiten, wollen sich hier etwas aufbauen", so Denstädt. Auch das war Thema in der MDRfragt-Umfrage. Die meisten Befragten sind dafür, dass Geflüchtete schneller arbeiten können.

Arbeitsverbote für Asylsuchende
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Frank Wolfram ist Berufs- und Laufbahnberater für Geflüchtete. Auch er sieht die Grenzen im Aufenthaltsgesetz: "Die Arbeitsverbote müssen einfach gelockert werden. Ich kenne keinen, der nicht in Bildung und Arbeit möchte." Das aber geht nur auf Bundesebene, betonte die Ministerin.

Beim Flüchtlingsgipfel in Berlin hat sie dafür geworben, das entsprechende Bundesgesetz "aufzuweichen". "Man kann nicht nur Fachkräfte im Ausland anwerben, man muss auch schauen, wer schon da ist."

Die Arbeitsverbote müssen einfach gelockert werden.

Frank Wolfram Berufs- und Laufbahnberater

OB Knapp stellte fest, dass die Anerkennung ausländischer Abschlüsse in anderen Bundesländern, wie beispielsweise in Bayern, deutlich besser laufe.

Für ihn wäre es aber auch dringend nötig, über die Sozialleitungen nachzudenken. "Bei uns ist es attraktiv, in den Systemen zu verbleiben. Man darf hier keine Fehlanreize schaffen", so der Suhler OB.

Am Ende, so Angelika Kunze aus dem Publikum, müsse man zunächst die Ursache der Flüchtlingsströme beseitigen. "Wir müssen in der Diplomatie arbeiten, dass es keine Kriege mehr gibt", sagt sie. Aber das ist ein Thema, das in einer anderen Sendung besprochen werden muss.

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MDR (gh)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | FAKT IST! aus Erfurt | 23. Oktober 2023 | 22:10 Uhr

158 Kommentare

Anita L. am 25.10.2023

Ja und? Inwieweit widerspricht das meinem Hinweis, dass das Los der "richtigen" Geburt eine zufällige ist? Oder dass dieses zufällige Los einen Menschen weder mehr noch weniger menschlich macht? Oder dass es mir (!) wirklich sehr schnuppe ist, welche Staatsbürgerschaft der Mensch, der ohne besonderen Grund, einfach nur, weil er keine Mauke hat, sich zu kümmern, von "meinen" Steuergeldern lebt, besitzt? Und was zur Hölle hat das Wahlrecht, um das es in dem von Ihnen zitierten Urteil geht, mit dem Recht auf Grundleistungen zu tun, um das es in der aktuellen Diskussion geht?

Erichs Rache am 25.10.2023

@Anita L.

Ihre krude Weltsicht teile ich nicht. Allein schon der "Entzug der Staatsbürgerschaft in der DDR" den Sie hier anführen hatte nicht - zu keiner Zeit den "Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft" zur Folge.

Bürger der DDR waren automatisch deutsche Staatsbürger und BEHIELTEN (!) ihre deutsche Staatsbürgerschaft auch bei Entzug der "Staatsbürgerschaft in der DDR". Das ist rein rechtlich ein großer Unterschied zu ihrer Darstellung.

Wessi am 25.10.2023

Mal wieder kompletter Unsinn @ Goldloeckchen.Alles was derzeit bei über 50%(gabs für den Bund übrigens nie, nur in ein paar Bundesländern wie Bayern u.A.auch bei mir in Hamburg) in den Parlamenten beschlossen wurde, war das Kompromiß-Resultat aus tw.erheblich kontroversen Diskussion mit der Basis, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und mehr.Und vieles musste von Gerichten auch wieder gekippt werden.

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