Justiz Traumjob oder Tretmühle: Wie ein Thüringer Richter den Alltag erlebt
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14. Mai 2021, 14:44 Uhr
In den kommenden Jahren werden zeitgleich viele Richter und Staatsanwälte in den Ruhestand gehen. Der Nachwuchs allerdings fehlt. Richter Ingo Menke erzählt, dass die Situation aber auch jetzt schon dramatisch ist. Was genau er meint und warum er sich trotzdem keinen anderen Beruf vorstellen kann.
Eigentlich hatte Ingo Menke aus Oldenburg das alles ganz anders geplant. Sozialpädagoge wollte er werden, und einen kaufmännischen Beruf hatte er auch schon gelernt. Als junger Mann war er aktiv in der Jugendzentrumszene. Und in Auseinandersetzungen mit Stadträten und der Verwaltung ärgerte er sich immer wieder, dass die mehr über Gesetze und Verordnungen wussten als er und seine Mitstreiter. Auskennen wollte er sich, wiederkommen und es ihnen zeigen. Und so entschied er, das Abitur nachzumachen und Jura zu studieren.
"Fliegender Start" in Thüringen
Als dann die Wende kam, wurden im Osten Richterstellen ausgeschrieben und Ingo Menke zog es nach Thüringen. Offenbar konnte er das Ministerium überzeugen, denn schon im Mai 1991 wurde er mit der frisch unterschriebenen Berufungsurkunde nach Gera geschickt.
Die Stadt hat ihm vom ersten Moment an gefallen, auch wenn der damalige Gerichtspräsident gar nicht wusste, dass er kommt. Gebrauchen konnte er ihn aber gut und schickte ihn nach Greiz, wo er mit einem Kollegen versuchen musste, das dortige Gericht in den Griff zu bekommen. "Ich habe dort alles gemacht, außer Ehescheidungen", erinnert er sich. "Vom Haftbefehl über Betreuungsrecht, von Nachlasssachen bis zum Grundbuchamt."
Ziemlich unorthodox war diese Zeit, das ging aber gar nicht anders, hatten doch die meisten mit der Wende das Gericht verlassen. "Mit denen, die geblieben sind und neu dazukamen, haben wir super zusammengearbeitet. Vom Rechtspfleger bis zur Geschäftsstelle - alle zogen an einem Strang", erzählt der Richter.
Aktenberge türmen sich am Arbeitsgericht
Mittlerweile ist Ingo Menke Leiter des Arbeitsgerichtes Gera. Das ist zuständig für die kreisfreien Städte Gera und Jena, die Landkreise Altenburg Land, Greiz und Saalfeld-Rudolstadt sowie für den Saale-Holzland-Kreis und den Saale-Orla-Kreis. 2.100 bis 2.200 Verfahren gibt es hier durchschnittlich im Jahr. Und bewältigt werden müssen die von fünf Richtern, Ingo Menke eingeschlossen.
Theoretisch ist das schaffbar, so Menke, die Realität sieht allerdings anders aus: "Wir haben mehrere Langzeitkranke und dadurch müssen zweieinhalb Leute die ganze Arbeit machen. Und wenn jeder dann statt 450 eben 900 Verfahren im Jahr hat, bricht das System irgendwann zusammen."
Illusorische Zeitvorgaben
Auch auf die Verfahrenslaufzeiten wirkt sich das aus. Mittlerweile liegen die zwischen zehn und zwölf Monaten. In einem arbeitsrechtlichen Verfahren folgt auf die Klage zunächst eine Güteverhandlung. Die soll laut Gesetz nach 14 Tagen erfolgen. "Das ist völlig illusorisch, das hat noch nie funktioniert", sagt Ingo Menke. "Ich weiß nicht, was der Gesetzgeber sich dabei gedacht hat. Aber Bundestagsabgeordnete und Praxis - da stoßen Welten aufeinander."
Güteverhandlung
Im Gütetermin ist nur der Vorsitzende Richter der aus drei Richtern bestehenden Kammer des Arbeitsgerichts anwesend. Die Verhandlung ist öffentlich. Die Parteien haben hier Gelegenheit, einen Einigungsvorschlag zu unterbreiten.
Ziel der Güteverhandlung ist es, dass die Parteien einen Vergleich schließen.
Wenn es in der Güteverhandlung zu keinem Vergleich, keiner Einigung kommt, folgt ein Kammertermin. Zu Menkes Ärger liegen die Termine momentan im Februar 2022, Tendenz zunehmend. Ingo Menke: "Das ist nicht schön. Da haben Sie beispielsweise eine fristlose Kündigung und in zehn Monaten sagen Sie dem Menschen dann, die Kündigung ist unwirksam. Das ist für alle Beteiligten unbefriedigend."
Wenn Sie heute klagen, bekommen Sie mit Glück Anfang Juli einen Gütetermin.
Die Verzögerungen durch fehlende Richter werden natürlich durch Corona schlimmer. Weil der Wartebereich möglichst leer bleiben soll, liegen größere zeitliche Abstände zwischen den Verhandlungen.
Die Fälle häufen sich zu regelrechten Bergen, sagt Ingo Menke: "Wenn Sie heute klagen, bekommen Sie mit Glück Anfang Juli einen Gütetermin." Für Menke heißt das, dass er seine Verwaltungsaufgaben nebenbei erledigen muss, weil er voll als Richter arbeitet. Eigentlich macht dieser Job nämlich nur 0,4 Prozent seiner Stelle aus. Der Rest reiche vom Hygienekonzept über das Loch im Teppich, "abgesoffene" Toiletten, Urlaubslisten bis zu Berichten fürs Ministerium. Und als wäre das nicht genug, kommt zu Haue dann die nächste Schicht. Dort liest er abends nämlich Akten und bereitet seine Verfahren für den nächsten Tag vor.
Belastbarkeit völlig ausgereizt
Und so ist es irgendwie folgerichtig, wenn er als wichtigste Qualifikation für einen Richter die Belastbarkeit nennt. Und bei den Richtern, die noch da sind, hinterlässt das auch Spuren: Ein Kollege ist wegen der Überbelastung jetzt ausgefallen. Ingo Menke: "Mit 30 ist man halt auch belastungsfähiger als mit Mitte 60. Und bis vor drei Monaten war die jüngste Thüringer Richterin 56 Jahre alt."
Hier in Gera gibt es seit Mai jetzt einen neuen, jungen Kollegen. "Unser Nesthäkchen", schmunzelt Menke. "Damit hat sich der Altersdurchschnitt der Richter im Freistaat auf 60,5 verbessert." Das klingt nach Galgenhumor. All die jungen Richter der Wendezeit gehen nämlich demnächst in Pension. Manche sogar vorzeitig.
Eigentlich können wir 2024 hier alles zumachen.
500 Richter und Staatsanwälte nötig
Menke schätzt, dass Thüringen im Jahr 2024 etwa 500 neue Richter und Staatsanwälte braucht. Aber eingestellt wird erst, wenn die Stelle frei geworden ist. Menke kann das nicht nachvollziehen: "Das ist, als wenn man in der Kfz-Werkstatt, wenn der Meister in Rente geht, den Lehrling im ersten Lehrjahr da hinsetzt."
Und es sind ja nicht nur die Richter, sagt er. Anwälte, Rechtspfleger, Verwaltungsmitarbeiter - es betrifft alle Bereiche. "Eigentlich können wir 2024 hier alles zumachen." Dazu kommt, dass in den vergangenen Jahrzehnten ja auch ein Wissen aufgebaut wurde, das mit der Pensionierung der Leute einfach wegfällt. "Das löst sich auf und der nächste, der kommt, muss das Rad neu erfinden", sagt Menke.
Richter: Immer noch sein Traumberuf
Dass er auch als Leiter des Arbeitsgerichts weiter verhandeln kann, gefällt Ingo Menke: "Das ist das, was ich mir immer vorgestellt habe."
Er vergleicht den Richter-Job mit dem Go-Spiel: "Man muss lange nachdenken, vorausschauend planen. Wie kann ich den Sachverhalt auseinanderziehen, wie müssten sich die Parteien einigen können, manchmal ist das wie eine Denksportaufgabe", sagt er. "Meine Freunde sagen, dass man mich immer nur irgendwo sitzen sieht. Ja! Ich denke. Es raucht leider nicht. Denken ist nicht wie ein Laufband und jeden zweiten Frosch male ich rot an. Man hat kein Produkt am Ende des Tages. Mein Produkt ist es, dass ich die Menschen davon überzeuge, dass es sinnvoll wäre, sich zu verständigen, sodass beide Seiten etwas davon haben."
Wand aus Anträgen immer wieder vergessen
Wenn er sich in ein Verfahren eindenkt und sich auf die Verhandlung vorbereitet, kann Ingo Menke den Berg aus Akten, der sich aufgetürmt hat, vergessen. Er muss es sogar. "Als Ärztin im OP können Sie ja auch nicht über die 20 nächsten Patienten nachdenken. Ihre volle Aufmerksamkeit gilt dann dem Patienten, der vor Ihnen liegt."
Auch Ingo Menke geht bald in den Ruhestand. Ende Mai 2022 ist es soweit. "Eigentlich sollte ich langsam anfangen, wie ein Leistungssportler abzutrainieren. Aber daran ist nicht zu denken."
Übrigens, den Gemeinderäten in seiner Heimat hat er damals tatsächlich gezeigt, dass er sich auskennt. Er kam nach dem Studium zurück für ein Praktikum und konnte ihnen beweisen: "Jetzt bin ich besser als ihr." Und dieses Wissen hilft ihm bis heute. Er würde es nur gerne an seine Nachfolgerinnen weitergeben. Wenn es denn schon welche gäbe.
Quelle: MDR THÜRINGEN
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 14. Mai 2021 | 15:00 Uhr
Harka2 am 14.05.2021
Die Arbeitsgerichtsbarkeit Thüringens hat sich erfolgreich jeder Modernisierung verweigert. Man setzt als einzigstens Bundesland Deutschlands auf eine völlig veraltete Gerichtsorganisationssoftware und hat sich jeder Aktualisierung und jedem Umstieg auf modernere Systeme verweigert. Selbst die Möglichkeiten dieser Uralt-Software werden nicht mal ansatzweise ausgenutzt. Wer heute noch so arbeitet wie zu Kaisers Zeiten, der kann seinen Job nicht erledigen. Eine Cooperation mit anderen Fachgerichtsbarkeiten in Thüringen oder gar bundesweit hat man sich massiv verweigert. Jetzt bekommt die Arbeitsgerichtsbarkeit die Quittung für ihre Ignoranz und Arroganz.
Das Problem ist in Thüringen ein grundsätzliches. Wichtige Entscheidungen werden dort von Juristen getroffen, nicht aber von Fachleuten.