DDR-Bau-Drama Rückblick: Brückeneinsturz von Zeulenroda vor 50 Jahren

13. August 2023, 10:40 Uhr

Vier Tote, fünf Schwerverletzte, Schäden von rund 3,5 Millionen DDR-Mark. Das sind die nüchternen Fakten nach dem Einsturz der im Bau befindlichen Stauseebrücke in Zeulenroda vor 50 Jahren. An das tragische Geschehen erinnert ein schlichter Gedenkstein, der den Zeitpunkt des Unglücks benennt: 13. August. In der DDR kein Tag wie jeder andere.

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Immer, wenn sich der Tag des Mauerbaus von 1961 jährt, sind die Volkspolizei und Staatssicherheitsdienst besonders auf der Hut. Ein Vorfall mit Toten und Millionenschäden, ausgerechnet an einem 13. August – das löst umfangreiche Ermittlungen aus, nicht nur bei der Kriminalpolizei und der Staatsanwaltschaft.

Operativer Vorgang "Konstrukteur" ausgelöst

Das Ministerium für Staatssicherheit nahm sofort nach dem Einsturz den Konstrukteur Gisbert Rother ins Visier. Das ist nicht überraschend, war doch der junge, talentierte Ingenieur der Planer des Brückenbaus.

Auf ihn setzte die Stasi vier Informelle Mitarbeiter an – denn Rother hatte sich für die MfS-Untersucher verdächtig gemacht: Er war mit Frau und Kind auf der Brückenbaustelle, fotografierte dort, angeblich noch unmittelbar, bevor am Vormittag des 13. August das neueste Teil des Bauwerkes mit einem Kran oben drauf herabstürzte, mehrere Menschen und Technik mit in die Tiefe riss. So haben es die Ermittler des MfS dokumentiert.

Keine Sabotage nachgewiesen

Ihre Notizen und Fotografien sind nach 1990 beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik ausgewertet worden. Seit dem ist der Fall Zeulenroda auch nachlesbar in der Publikation "Stasi in Thüringen. Die Geheimpolizei in den Bezirken Erfurt, Gera und Suhl".

Die Untersuchungen der Stasi und der Staatsanwaltschaft sorgten dafür, dass Entwurfsingenieur Rother und zwei seiner Kollegen zunächst zu Haftstrafen verurteilt, dann aber in einer Berufungsverhandlung am Obersten Gericht der DDR in Berlin freigesprochen wurden. Es war ihnen keine Sabotage nachzuweisen.

Brückendebakel nicht nur in Zeulenroda

Warum kam es dann zu dem so schlimmen Unglück? Diese Frage haben Bauspezialisten seit 1973 immer wieder diskutiert. Zumal es ähnlich schwere Brückenbaudesaster schon zuvor gab: Im Juni 1970 starben vier Menschen, als ein Brückenbau im britischen Milford Haven einstürzte.

Wenige Monate später, im Oktober 1970, kamen im australischen Melbourne auf der Baustelle über den Yarra-Fluß 35 Menschen ums Leben. Und im November 1971 knickte in Westdeutschland beim Bau über den Rhein in Koblenz-Oberwerth ein Brückenteil ab, was nach unbestätigten Aussagen 13 Menschen das Leben kostete.

Nach dieser Serie von Katastrophen innerhalb von nur zwei Jahren stellte "DER SPIEGEL" in seinem Heft 48/1971 fest: "Es waren sämtliche Stahlbrücken in Kastenbauweise."

Genau diese Bauweise wurde 1973 erstmals auch in der DDR genutzt – um die Brücke über die Weida zu errichten. Sie wurde dringend gebraucht, damit es weiterhin eine direkte Straßenverbindung zwischen Auma und Zeulenroda geben kann. Obwohl sich genau dort ein Stausee breitmachen sollte, um die Trinkwasserversorgung in Ostthüringen zu sichern.

Neues Verfahren, alte Regularien

Brücken-Fachleute meinen, die der sogenannte "Freivorbau" sei die bedeutendste Neuerung seit der Hängebrücke gewesen. Bei dem Verfahren werden vorgefertigte Stahlkästen montiert. Sie werden von einem Kran freischwebend an den vorherigen Kasten angesetzt.

In Zeulenroda standen dieser Kran und das nächsten Bauteil auf der zuvor über dem Stützpfeiler Nummer 1 montieren Brückenkonstruktion. Dann musste er auf das frei über den Pfeiler ragende Brückensegment fahren, um das nächste anzusetzen.

Die Sicherheitsrisiken dieser Bauweise wurden von den Planern natürlich abgeschätzt. Aber selbst nach den Unfällen von 1970 und 1971 werden die Ergebnisse der Ursachenforschung offenbar international nicht vollständig ausgetauscht.

Geheimniskrämerei nach Einsturz

Auch im Westen wird eine gewisse Geheimniskrämerei betrieben. Der Zeulenrodaer Baustatiker Gottfried Thumser hat auch dazu recherchiert. Er sagt, es gab im Westen eine Tagung, auf der über die Brückeneinstürze diskutiert wurde.

Dabei ging es besonders darum, dass die herkömmlichen Berechnungsvorschriften für die neue Baumethode nicht geeignet waren. Thumser sagt, auch ein Professor aus der DDR sei dort gewesen. Sein Wissen aber sei zumindest im Planungsteam für die Stauseebrücke nicht angekommen: "Die wussten von diesen Dingen nichts."

Die wussten von diesen Dingen nichts.

Gottfried Thumser Baustatiker aus Zeulenroda

Unmittelbar nach dem Brückeneinsturz in Großbritannien berichtete "DER SPIEGEL" im November 1971. Die Londoner Regierung hatte eine Kommission beauftragt, Risiken der Bauweise zu ermitteln – ihr Bericht mit 150 Seiten sei aber vertraulich behandelt worden.

Zu wenig Stahl verbaut?

Bekannt wurde lediglich eine Empfehlung: Stärkerer Stahl, um Verformungen zu verhindern, und strengere Konstruktionsvorschriften. Genau die aber gab es für neue Bauweise in der DDR noch nicht.

Stattdessen gab es wie überall in der sozialistischen Wirtschaft Materialengpässe, weshalb Stahl nur sehr sparsam eingesetzt wurde. Und es gab Zeitdruck, um Beschlüsse der SED, der in der DDR alles bestimmenden Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, zu erfüllen. Konstrukteur Rother soll darauf hingewiesen haben, dass es so zu Sicherheitsmängeln kommen könnte. Aber diese Bedenken blieben unbeachtet.

Suche nach Ursachen und Schuld

Zeitzeugen erinnern sich, dass in Zeulenroda ein 80 Tonnen schwerer Kran im Einsatz war. Am 13. August 1973 waren von ihm bereits sieben Stahlkästen für die künftige Brückenfahrbahn verlegt worden. Sie ragten vom Betonpfeiler Nummer 1 um etwa 30 Meter Länge frei hinaus über das Tal.

Dann rollt der Kran mit der Last des achten Segments über den Pfeiler hin. In diesen Augenblicken verformt sich der Stahl unter der Last offenbar. Der eben noch freischwebende Brückenteil knickt ab, reißt Menschen und Maschinen in die Tiefe.

Fotografierverbot nach Unglück

Kurz darauf sind Volkspolizisten da, die den Unglücksort weiträumig absperren. Gottfried Thumser erinnert sich noch gut: Zwei Tage zuvor hatte er in Sonneberg geheiratet. Auf dem Rückweg nach Zeulenroda aber zwangen ihn Polizeiposten zu einem weiten Umweg. Keine Auskunft, warum. Aber in der Stadt dann Fotografierverbot.

Gottfried Thumser, von Beruf Baustatiker, hat das seitdem nie ganz losgelassen. 50 Jahre nach dem Unglück hat er mit Mitstreitern zusammengetragen, was andere bei Gefahr einer Bestrafung doch aufgenommen haben. Mit versteckten Fotokameras. Die Bilder, Zeitungsberichte, Erinnerungen – sie sind jetzt in der Tourist-Information Zeulenroda ausgestellt.

Freispruch nach Berufung für Rother

Im ersten Strafverfahren war Gisbert Rother nach einer Abstimmung zwischen Staatsanwalt und Stasi-Ermittlern wegen Delikten gegen den Gesundheits- und Arbeitsschutz angeklagt worden. Dafür bekam er ein Urteil zu 30 Monaten Haft. Unter anderem, weil die Richter ihm Rechenfehler vorwarfen.

Beim Berufungsprozess aber wurden vorm Obersten Gericht der DDR auch Gutachter zugelassen. Sie machten klar, dass alle Berechnungen nach den damals geltenden Bauvorschriften im Bereich der ingenieurtechnischen Toleranzen waren. Stattdessen hätten kleinste Ungenauigkeiten an den Stahlkästen große, nicht vorhersehbare Auswirkungen haben können. Rother und Kollegen werden deshalb freigesprochen.

Arbeitsschutz litt wegen Mangelwirtschaft

Und endlich wurden dann auch Vorschriften neu und strenger gefasst: Für den Brückenbau. Und für den Arbeitsschutz. Der litt in den Jahren seit 1970 "unter dem wirtschaftlichen Zerfall", schrieb Arbeitsschutzexperte Dr. Lutz Wienhold in einem 2011 veröffentlichten Fachbuch. Schon seit 1950 habe es Sicherheitsinspektoren in DDR-Betrieben gegeben.

Ihr Einsatz wurde fünf Jahre nach dem Drama von Zeulenroda konkretisiert. Eine neue Durchführungsbestimmung zur Arbeitsschutzverordnung vom 6. September 1978 regelte nun, dass es die Befugnis dieser Fachexperten sei "die leitenden Mitarbeiter auf diesem Gebiet anzuleiten und zu kontrollieren." Jetzt hätten wohl auch Gisbert Rothers Bedenken gehört werden müssen.

An den tragischen 13. August 1973 in Zeulenroda erinnert heute ein Gedenkstein am Brückenende nahe Pfeiler 1. Doch Unkundige bemerken diesen Erinnerungsort beim Vorbeifahren oft gar nicht.

MDR (jw)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 13. August 2023 | 19:00 Uhr

3 Kommentare

camper21 am 14.08.2023

Diese bösen Kapitalisten, schauen nur auf ihren Gewinn ! Die sind ganz anders, als wir kleinen Verbraucher die Produkte aus der Region kaufen und deshalb nur einheimisches Bier trinken.

camper21 am 14.08.2023

So sah es aus, in unserer Mangelwrtschaf, nur leider haben es viele vergessen und schwärmen noch immer von den hoch profitablen Ostbetrieben. Ist schon optimal ,so ein Jahrestag.

Tamico161 am 13.08.2023

Damals litt sicherlich der Arbeitsschutz unter der Mangelwirtschaft des Sozialismus, heute leidet der Arbeitsschutz allerdings unter der Profitgier der Unternehmer. Wie sonst sind nach wie vor über 300 Tote im Jahr durch AU zu verzeichnen? Gibt es darüber ein Fachbuch!

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