Russland Sibirischer Eis-Marathon: Joggen bei minus 30 Grad
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07. Januar 2021, 16:09 Uhr
Am 7. Januar, dem russischen Weihnachtsfest, findet alljährlich im sibirischen Omsk der kälteste Marathon der Welt statt: der "Siberian Ice Marathon". Trotz gnadenloser Temperaturen gehen stets Hunderte Langstreckenspezialisten aus aller Herren Länder an den Start.
"Musik und Tanz begleiteten uns die letzten Momente vor dem Start. Punkt 13 Uhr läuteten dann die Glocken der imposanten Kreuzigungskathedrale in Omsk und mit dem Verklingen des letzten Glockenschlags wurde das Rennen gestartet", schreibt der Marathonläufer Rainer Kauczor aus dem Münsterland in einem Erinnerungsbericht. Im Januar 2011 hatte Kauczor am legendären "Siberian Ice Marathon" teilgenommen. Mit ihm waren damals knapp 600 Läufer auf die Strecke gegangen. Es war eisig kalt, minus 30,5 Grad, und stürmisch. "In der fünften Runde musste ich meine Sturmmaske aus der Tasche kramen und über Gesicht und Mütze ziehen, ich merkte, dass die Kälte in meinem Gesicht ansonsten zu Erfrierungen führt", schreibt Kauczor. "Zwei Kilometer weiter hatte ich das Gefühl, mein rechter Laufschuh ist völlig erfroren und steif wie ein Brett. Er rollte überhaupt nicht ab. Ich lief also weiter mit einem brettharten Schuh. Mein Gesicht brannte." Nach nur anderthalb Stunden kam Kauczor ins Ziel. Für ihn eine hervorragende Zeit. Aber das war ihm "wurscht": "Es ging nur darum, überlebt zu haben."
"Siberian Ice Marathon": Weihnachtsfest und ambitionierter Wettkampf
Der "Siberian Ice Marathon" wird seit 1991 in Omsk ausgetragen, der mit mehr als 1,1 Millionen Einwohnern größten Stadt Sibiriens. Die ersten beiden Veranstaltungen des Eis-Marathons fanden jeweils am 31. Dezember als sogenannte "Silvesterläufe" statt. Als nach dem Zusammenbruch der UdSSR das orthodoxe Weihnachtsfest offiziell wieder eingeführt wurde, verlegte man den Lauf auf den 7. Januar. "Die Stimmung ist ausgelassen, viele Läufer kostümieren sich und zelebrieren ihr Weihnachtsfest auf dem Lauf durch die Stadt", erzählt die Dresdnerin Ines Schmitt, die bereits drei Mal den sibirischen Marathon absolviert hat. "Man tanzt vor dem Start zu wohligen Klängen oder weihnachtlichem Pop. Es ist also gleichermaßen weihnachtliches Volksfest und sportlich ambitionierter Wettkampf."
Seit etwa zwanzig Jahren reisen auch Langstreckenspezialisten aus aller Welt zum Weihnachtslauf nach Omsk. "Generell ist der Ice-Marathon ein wirklich russisches Event und entsprechend besetzt", sagt Ines Schmitt. "Seine Popularität zog in den vergangenen Jahren trotz des überschaubaren Läuferfelders von 400 bis 600 Läufern vor allem Japaner, Franzosen, Spanier und Italiener an. Aber auch deutsche Läufer sind zumeist gut repräsentiert."
Halber Marathon im eisigen Winter Sibiriens
Die Bezeichnung "Siberian Ice Marathon" ist allerdings leicht irreführend, denn eigentlich handelt es sich nur um einen halben Marathon - die Läufer müssen bei den arktischen Temperaturen Sibiriens lediglich 21,1 Kilometer hinter sich bringen. Gestartet wird traditionell um 13 Uhr vor der imposanten Kreuzigungskathedrale, der größten und schönsten Kirche von Omsk. "Gelaufen wird dann unmittelbar in der Omsker Innenstadt. Ein dreieinhalb Kilometer langer Rundkurs führt durch einen Stadtpark an den Fluß Irtysch und zurück zur Kreuzigungskathedrale", erzählt Ines Schmitt. "Man lernt sich während des Laufs auch relativ gut kennen, denn immerhin begegnen sich die Läufer mehrfach. Man winkt sich zu, wirft sich motivatorische Blicke zu, die bei tiefen Minusgraden sehr wohltuend wirken." Entlang der Strecke sind überall Verpflegungsstationen aufgebaut, an denen warmer Tee, Bananen und frische Wäsche angeboten werden. Auf das Siegertreppchen steigen am Ende freilich fast immer Läufer aus der Region.
Alte Damen und Weihnachtsmänner beim "Siberian Ice Marathon"
Doch nicht nur ehrgeizige Marathonläufer aus aller Welt gehen Jahr für Jahr in Omsk an den Start. Denn prämiert werden nicht nur die schnellsten Läufer, sondern auch diejenigen mit den originellsten und gewagtesten Kostümen. Und so ist es nicht verwunderlich, dass beim Eis-Marathon auch "80-jährige Damen mit Wolljacken und -hosen neben Soldaten in Kampfuniformen und Springerstiefeln unterwegs sind", schreibt Stefan Schlett in seinem "Laufreport Siberian Ice Marathon". "Auch Frauen mit Stöckelschuhen und Minirock oder Jeanshose und Lackschuhen entsprechen nicht unbedingt unseren westlichen Laufbekleidungs-Paradigmen. Weihnachtsmänner mit wallendem Umhang und langen weißen Bärten passen da schon eher in die Jahreszeit. Die Krönung sind alljährlich ein gutes Dutzend halbnackte Gestalten mit kurzer Hose und freiem Oberkörper."
Eisigste Sportveranstaltung aller Zeiten
Seinen Beinamen "kältester Marathon der Welt" erhielt der "Siberian Ice Marathon" übrigens vor zwanzig Jahren, als Sibirien von einer plötzlichen Kältewelle heimgesucht wurde. Einer der Teilnehmer der damaligen Veranstaltung war der deutsche Journalist Tom Ockers. Nach der Geburt seiner Tochter hatte er sich in den Kopf gesetzt, etwas Gewagtes unternehmen zu müssen. "Nach der Ankunft in Omsk waren wir alle leicht enttäuscht", erzählte Ockers damals dem "SPIEGEL". "Die Außentemperatur betrug nur minus 16 Grad. Dann sank sie aber auf minus 20 Grad, dann auf minus 30 Grad, dann auf minus 40 Grad. Wir wollten es kalt haben. Und wir hatten es kalt." Minus 42 Grad zeigte das Thermometer nämlich am 7. Januar 2001. Neben Ockers wagten sich unter diesen fürchterlichen Bedingungen nur noch 147 Läufer an den Start. Die meisten von ihnen kamen aus dem Westen. Die sibirischen Läufer verzichteten auf eine Teilnahme. "Selbst für die Einheimischen waren die heutigen Extremtemperaturen zu abschreckend", musste der damalige Leiter des Eis-Marathons gestehen. Tatsächlich war es die eisigste jemals ausgetragene Sportveranstaltung der Welt. Gerade einmal elf Läufer schafften es bis ins Ziel.
In Omsk sollen am 7. Januar 2021 minus 25 Grad herrschen. Es könnte also wieder verdammt eisig werden.
Dieses Thema im Programm: Thomas Junker unterwegs: Russlands Perlen | 22. November 2020 | 20:15 Uhr