Frau 2017 an der Gedenkstätte Potocari bei Srebrenica
Eine Frau 2017 an der Gedenkstätte Potocari bei Srebrenica. Bildrechte: imago images / EST&OST

25 Jahre Abkommen von Dayton Bosnien und Herzegowina: Kein wahrer Frieden in Sicht

23. November 2020, 12:51 Uhr

25 Jahre nach dem Ende des Krieges ist Bosnien und Herzegowina immer noch ethnisch und politisch tief gespalten. Das am 21. November 1995 unterzeichnete Friedensabkommen von Dayton beendete zwar das Morden, doch es brachte dem Land keine Erlösung.

Die Berliner Mauer war gefallen. Deutschland wuchs zusammen. Europa feierte 45 Jahre Frieden. In der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bereitete man sich für die Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten vor. In der Aufbruchsstimmung bemerkte damals kaum jemand, dass nationalistische Kriegshetzer im Vielvölkerstaat Jugoslawien immer lauter wurden. Als im Herbst 1991 der Bürgerkrieg ausbrach, war Europa perplex.

Morde und ethnische Säuberungen - die Welt ist perplex

Medien berichteten über Massaker, Massenmorde, Vertreibungen, ethnische Säuberung, Konzentrationslager. Fast vier Jahre lang schaute der Westen machtlos zu wie in Bosnien rund 100.000 Menschen ermordet, über zwei Millionen in Flucht getrieben wurden.

Als die damaligen Präsidenten Serbiens, Kroatiens und Bosniens Slobodan Milošević, Franjo Tuđman und Alija Izetbegović einen Friedensvertrag unter Vermittlung der USA mit Beteiligung der Europäischen Union und unter der Leitung des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton am 21. November 1995 in der Wright-Patterson Air Force Base bei Dayton (Ohio) paraphierten, atmete Europa auf. Dem Morden wurde ein Ende gesetzt.

Slobodan Milošević, Alija Izetbegović und Franjo Tuđman unterzeichnen 1994 das Friedensabkommen von Dayton
Izetbegović und Franjo Tuđman unterzeichnen 1994 das Friedensabkommen von Dayton. Bildrechte: imago images / Everett Collection

Bosnien und Herzegowina: ein tief gespaltenes Land

25 Jahre später hält der Frieden noch immer. Doch der Konflikt scheint nicht gelöst, sondern lediglich eingefroren zu sein. Jedes Volk hat seine eigene historische Wahrheit, jedes Volk gibt den anderen die Schuld für unfassbare Verbrechen. Ein Prozess der Vergangenheitsbewältigung kommt nicht voran - das Land ist tief gespalten.

Egal, ob man sich im bosniakischen (muslimischen), serbischen oder kroatischen Teil von in Bosnien und Herzegowina befindet, man wird den Eindruck nicht los, dass der Geist des Krieges allgegenwärtig ist, obwohl die Toten längst begraben sind.

Serben bestreiten Völkermord-Absicht

Auch das UNO-Tribunal für Kriegsverbrechen trug zur Versöhnung nicht bei. Typisches Beispiel ist der Prozess gegen Verantwortliche für den Völkermord in Srebrenica, bei dem serbische Truppen rund 8.000 muslimische Jungen und Männer tagelang systematisch hinrichteten. Serben geben zwar zu, dass in Srebrenica ein Verbrechen begangen worden ist, akzeptieren jedoch nicht das Urteil des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag, dass es sich um ein Genozid gehandelt hat, und weisen stets im gleichen Atemzug auf an Serben begangene Verbrechen hin. Aus der Sicht der Bosniaken ist die Republika Srpska eine "auf Völkermord beruhende Schöpfung".

Zehntausende Menschen auf einem Friedhof wollen ihre Angehörigen beerdigen.
8.000 Jungen und Männer waren 1995 in Srebrenica ermordet und in Massengräbern verscharrt worden. 2010 wurden ihre Leichen bestattet. Bildrechte: IMAGO

Gespaltenes Land, machtloser Westen

Auch die internationale Gemeinschaft hat keine Lösung für die tiefe Spaltung des Landes. Bosnien und Herzegowina beruht in seiner heutigen Form auf dem Friedensabkommen von Dayton. Es teilte Bosnien in zwei Entitäten mit weitgehender Autonomie – in die Serbenrepublik Republika Srpska und die bosniakisch-kroatische Föderation – und den Distrikt Brčko. Den drei Ethnien sicherte das Abkommen von Dayton ein Vetorecht in gesamtbosnischen Institutionen zu.

Seit 1995 unterliegt das Land auch einem internationalen Mandat. Der Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina - der Österreicher Valentin Inzko - hat weitgehende Vollmachten. Er könnte gewählte Amtsträger entlassen, Gesetze aufheben, neue Behörden schaffen oder abschaffen. Doch in der Praxis verzichtet der Hohe Repräsentant seit über einem Jahrzehnt auf sein Vetorecht.

Serbenpräsident Milorad Dodik: ein Mann des Kremls

Während Bosniaken statt der derzeitigen Föderation einen Einheitsstaat anstreben, will die Republika Srpska auf ihre an Eigenstaatlichkeit grenzende Autonomie nicht verzichten. Der Präsident der Serbenrepublik, Milorad Dodik, droht stetig mit Abspaltung der serbischen Entität vom Gesamtstaat, ignoriert Urteile des bosnischen Verfassungsgerichts, blockiert in gesamtbosnischen Institutionen den Nato-Beitritt des Landes oder die Anerkennung des Kosovo. Er sympathisiert unverhohlen mit Russland und gilt als ein Mann des Kremls.

Einem Zusammenwachsen Bosniens stellt Dodik sich explizit entgegen, was auch die EU-Perspektive des Landes untergräbt. Dennoch wurde er bei den gesamtbosnischen Wahlen im Oktober 2018 als serbischer Vertreter ins dreiköpfige gesamtbosnische Staatspräsidium gewählt.

Kompliziertes Regierungssystem

Die Unregierbarkeit des Landes liegt aber nicht nur an politischen Anführern wie Dodik. Bosnien-Herzegowina besitzt das denkbar komplizierteste Regierungssystem. Der Gesamtstaat, die beiden Entitäten und die zehn Kantone der Föderation haben jeweils eigene legislative und exekutive Strukturen. Ein gemeinsames Regieren ist damit so gut wie ausgeschlossen.

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Die Staaten im Staat Bosnien und Herzegowina besteht aus zwei quasi-autonomen "Entitäten": der Föderation Bosnien und Herzegowina, in der die Bosniaken immer noch von einem eigenen Nationalstaat träumen, und der Republika Srpska, in der serbische Politiker immer noch Kriegsverbrecher wie Radovan Karadžić verherrlichen. Dazu gesellt sich das Sonderverwaltungsgebiet Brčko.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL RADIO | 21. November 2020 | 07:20 Uhr

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