Vjosa Cerkini steht auf einer Straße 1 min
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Seit 1. Januar 2024 Kosovaren können ohne Visum in die EU reisen

04. Januar 2024, 11:26 Uhr

Um in die EU und nach Deutschland zu reisen, mussten die Kosovaren bisher aufwendig und kostspielig Visa beantragen. Für Besuche und Reisen gilt die Visumpflicht seit 1. Januar 2024 nicht mehr. Was erwartet man im Kosovo von der neuen Reisefreiheit und welche Befürchtungen gibt es? Unsere Autorin Vjosa Çerkini hat mit Menschen in Pristina darüber gesprochen.

Die Azem-Jashanica-Straße 66 im Stadtteil Arberia in Pristina ist eine Adresse, die die meisten Kosovaren kennen. Hier hat die deutsche Botschaft ihren Sitz. Obwohl in einem Villenviertel gelegen, sieht das Straßenbild anders aus, als man es in einer noblen Wohngegend erwarten würde: Überall hängen Werbeschilder von Dienstleistungsunternehmen, die den Kosovaren helfen, ihre Visaanträge bei den Botschaften abzugeben. Die Bürokratie verlangt ein ganzes Bündel von Unterlagen mit Übersetzungen, Bescheinigungen und Kopien. Viele Kosovaren waren damit überfordert und haben deshalb die Hilfe dieser Dienstleister in Anspruch genommen.

Werbung eines Visadienstleisters in Azem Jashanica Straße in Pristina
Die Visaagenturen in Pristina unterstützen ihre Kunden rund um Versicherungen, Formulare, biometrische Fotos, Einsprüche und Übersetzungen. Bildrechte: Vjosa Çerkini

All das ist seit dem 1. Januar Vergangenheit sein. Die Kosovaren können dann visafrei in die EU reisen. Die deutsche Botschaft hat am 18. Dezember das letzte Visum für eine Besuchsreise ausgestellt. Der Prozess der Visa-Liberalisierung ist mehr als 12 Jahre alt, weiß Mehdi Sejdiu. Er ist Doktorand an der Universität Heidelberg, war vorher aber an einer Kampagne der Regierung in Pristina beteiligt, um die Reisefreiheit zu erreichen. Er fasst in einfachen Sätzen zusammen: "Es bringt sehr viel! Man ist nicht mehr isoliert! Es war eine Ungerechtigkeit für die nur 1,8 Mio. Kosovaren", sagt Mehdi Sejdiu. "Viele Kosovaren konnten nicht einmal ihre Verwandten besuchen, die während des Krieges vor fast 25 Jahren geflohen waren."

Visa waren teuer und aufwendig

Der 46-jährige Gazmend Klinaku, der Leiter der I-coming Visa-Agentur, die sich in einer Art umgebauten Garage direkt neben der deutschen Botschaft in Pristina eingerichtet hat, galt als Garant für erfolgreiche Visa-Anträge. Sein Vorteil war, dass er die bürokratischen Hürden der deutschen Botschaft sehr genau kennt und im Vorfeld die Unterlagen seiner Kunden äußerst genau prüfte. Das machte ihn sehr erfolgreich, bescherte ihm einen ausgezeichneten Ruf und damit immer mehr Kundschaft. "Wir übersetzen und füllen die Formulare für Visumanträge für die deutsche Botschaft aus. Wir haben jetzt nur noch vier bis fünf Anfragen pro Woche, vorher waren es mindestens 100 pro Woche. Nur für Deutschland."

Gazmend Klinaku der Besitzer der I- coming Visaagentur in seiner Agentur in Pristina
Gazmend Klinaku hat mit seiner Agentur Menschen bei der Visabeantragung unterstützt. Bildrechte: Vjosa Çerkini

Vor dem Wegfall der Visumpflicht war das Reisen für viele Kosovaren unerschwinglich. Allein die Gebühren der deutschen Botschaft für einen Visaantrag betrugen 35 Euro. Dazu kamen mindestens 25 Euro von der Vermittlungsagentur plus Kosten für Kopien, Übersetzungen und Versicherungen. Insgesamt waren also mehr als 100 Euro zu berappen, noch bevor eine Reise überhaupt gebucht werden konnte. Hinzu kam, dass selbst ein perfekt vorbereiteter Antrag keine Visum-Garantie war. Viele Anträge wurden einfach abgelehnt – Gründe dafür wurden nie genannt.

Erwartungen an die Visafreiheit zu hoch?

All das ist in wenigen Tagen Vergangenheit und Visa-Vermittler Klinaku glaubt, dass die Kosovaren von visumfreien Reisen in die EU profitieren werden, vor allem Studierende und Geschäftsleute. Doch diejenigen jungen Leute, die denken, sie könnten nun einen Job im Ausland finden, werden enttäuscht sein, glaubt er. "Sie werden dorthin gehen und feststellen, dass es nicht das Europa ihrer Träume ist. Das Leben dort ist teuer. Sie werden enttäuscht sein, dass Europa nicht das Paradies ist, das sie sich vorgestellt hatten", so Klinaku.

Der visumfreie Verkehr gilt ohnehin nur für touristische Reisen oder Verwandtschaftsbesuche. Um eine Beschäftigung aufzunehmen, ist weiterhin ein Visum notwendig. Lirim Krasniqi von der NGO Germin, die sich um die albanische Diaspora auf der ganzen Welt kümmert, sieht aber gerade hier ein Risiko: "Ich denke, dass es Fälle geben wird, in denen die Visaliberalisierung missbraucht werden wird, weil wir Kosovaren viele Verwandte haben, die in Europa und anderen westlichen Ländern leben. Viele werden also in Betracht ziehen, einer illegalen Beschäftigung nachzugehen."

Lirim Krasniqi von der NGO Germin in seinem Büro in Pristina
Lirim Krasniqi ist über seine NGO mit Kosovaren auf der ganzen Welt in Kontakt. Bildrechte: Vjosa Çerkini

Wohlstandsgefälle zwischen dem Kosovo und Deutschland

Die Verlockung könnte angesichts von kosovarischen Durchschnittsgehältern von rund 440 Euro in der Tat groß sein. Zwar sind die Lebenshaltungskosten im Kosovo noch, trotz der auch dort spürbaren Inflation, weit unter dem deutschen Niveau. Ein Weißbrot, bestehend aus sieben sternförmig angeordneten Brötchen, kostet gerade mal 50 Cent. Große Sprünge kann man mit solchen Einkommen aber trotz der etwas günstigeren Preise nicht machen.

"So etwas wie einen Mindestlohn kennt man im Kosovo nicht. Wenn die Menschen Schlagzeilen lesen, dass in Deutschland 12 Euro und mehr pro Stunde bezahlt werden, ist das sehr verlockend und wirkt wie das Paradies. Hier müssen die Menschen oft sieben Tage die Woche arbeiten, für einen Lohn von durchschnittlich 400 bis 500 Euro – auf dem Land eher noch weniger", sagt Krasniqi.

Junge Kosovaren: Gehen oder bleiben?

Eine kleine Stichprobe unter den Passanten in Pristinas Flaniermeile, auf dem Mutter-Theresa-Boulevard, zeigt unterdessen ein gemischtes Bild. Driton Selfiaj, Anfang 20, freut sich darauf, "überall" frei reisen zu können. "Die meisten meiner Freunde wollen weg. Ich persönlich denke, dass junge Menschen auf die Visaliberalisierung warten, um das Land zu verlassen, aber ich selbst habe das nicht vor", erzählt er.

Driton Selfiaj Bürger aus Pristina
Driton Selfiaj aus Pristina will die Visafreiheit zum Reisen nutzen. Bildrechte: Vjosa Çerkini

Anduela Binakaj, Schulabsolventin aus Pristina, sagt: "Ich freue mich eher darauf, weil es Freude macht, in andere Länder zu reisen und sie zu sehen. Aber ich denke, dass ich den Kosovo nicht verlassen werde, weil ich hier geboren und aufgewachsen bin", sagt sie. "Allerdings ist unklar, welchen Beruf ich in Zukunft wählen werde und ob es hier einen guten Job für mich gibt", räumt sie ein. Ähnlich äußert sich Aurela Ahmeti, Absolventin eines Gymnasiums in Pristina: "Ich denke, dass es besser ist, im Kosovo zu bleiben. Andere Länder besuchen, ja gerne, aber ich denke nicht daran, den Kosovo zu verlassen."

Fest steht: Mit der neu gewonnenen Reisefreiheit eröffnet sich den Kosovaren die Möglichkeit, sich selbst ein Bild von ihren Traum-Ländern zu machen. Dies war ihnen bisher verwehrt.

Jetzt ist es an den Kosovaren zu entscheiden, ob sie reisen wollen – und zu welchem Zweck sie das machen. Menschen, die bislang in der "Visa-Vermittlungsindustrie" gearbeitet haben verlieren aber ihre Existenz. Dienstleister Klinaku, der mit seinem Visa-Unternehmen wirtschaftlich sehr erfolgreich war, hat sich damit bereits abgefunden. Er wolle flexibel auf die neue Situation reagieren und streckt seine Fühler in Richtung Flughafen aus, um eventuell eine Autovermietung zu eröffnen.

Vjosa Çerkini
Bildrechte: Vjosa Çerkini/MDR

Unsere Autorin Vjosa Çerkini ist Journalistin und Dokumentarfilmemacherin aus Pristina im Kosovo. Sie berichtet freiberuflich für DW, BR, MDR, dpa sowie regionale Sender auf dem Balkan und ist an internationalen Dokumentarfilmprojekten in den USA und Europa beteiligt.

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