Osteuropa | Deutschland Knochenarbeit für Billiglohn

23. Mai 2020, 20:32 Uhr

Seit Jahren kritisieren Gewerkschaften vehement die prekären Arbeitsbedingungen osteuropäischer Arbeitskräfte in Deutschland – ob in der Landwirtschaft, Fleischindustrie oder anderen Branchen. Viele verrichten die Knochenarbeit, ohne sie würde die Produktion teils lahmgelegt. Doch werden sie um eine faire Bezahlung häufig betrogen.

Anton Echert kommt nicht zur Ruhe, auch wenn er mit 60 Jahren schon im rumänischen Rentenalter ist. Seit vielen Jahren pendelt er nach Kutzleben – zu einem der größten Spargelanbauer Thüringens, um sich ein rumänisches Jahresgehalt dazuzuverdienen. Über 80 Landsleute hat er auftreiben können, mit zur Spargelernte nach Deutschland zu kommen, trotz der Gefahr, sich mit dem neuartigen Coronavirus anzustecken. Doch Echert ist äußerst zufrieden mit dem Hof, die Hygienebedingungen stimmten, die Abstandsregeln würden eingehalten. Zwei Arbeiter teilten sich diesmal ein Zimmer, im vorigen Jahr waren es "noch vier oder gar sieben pro Raum". 

Überraschende Insolvenz in Eigenregie

Der Spargelhof steht seit Wochen im Fokus der Medien. MDR AKTUELL begleitete die Erntehelfer von Rumänien bis zum Spargelfeld in Thüringen. Echert sagt: "Wir glaubten, dass der Spargelhof in der Corona-Krise ein Vorzeigemodell ist."

Umso überraschter war er, als der Hof kürzlich Insolvenz in Eigenregie anmelden musste, um eine Zahlungsunfähigkeit abzuwenden.
Die Sonderregelungen in der Coronakrise haben die Rücklagen der Firma empfindlich schmelzen lassen. Für Echert und sein Team ein ungewohntes Insolvenzverfahren, das sie von zu Hause nicht kennen. Die Gehälter werden von einer Bank vorgestreckt, die Arbeitsagentur prüft, ob damit auch ein Großteil der Jobs auf dem Hof erhalten bleibt. Die komplizierten juristischen Vorgänge verunsichern Echert und sein Team: "Wir haben Angst, dass wir womöglich weniger verdienen oder am Schluss ganz und gar leer ausgehen."

Jeder Zweite in Schlachtbetrieben aus Osteuropa

Für Schlagzeilen sorgte zuletzt nicht nur der Spargelhof in Kutzleben. In dieser Woche protestierten im nordrhein-westfälischen Bornheim rumänische Erntehelfer. Sie forderten ihren versprochenen Lohn ein, nachdem ihr Spargelhof pleitegegangen war. In sozialen Netzwerken machten Videos die Runde, in denen rumänische Landsleute über zu enge Unterkünfte oder fehlende Hygienestandards in Deutschland klagen.

Osteuropäische Arbeitnehmer verrichten seit Jahren die Knochenarbeit in der Ernährungsbranche. Wenn sie ausfallen, droht die Produktion ins Wanken zu geraten. Allein in der deutschen Landwirtschaft kommt jeder dritte Arbeitnehmer aus Osteuropa, in den Schlachtbetrieben ist es jeder zweite. Beratungsstellen von Gewerkschaften oder Bundesländern – ganz gleich, ob in Erfurt, Halle oder Dortmund – kritisieren seit Jahren eindringlich die prekären Arbeits- und Wohnbedingungen, denen viele Arbeitskräfte aus Osteuropa ausgesetzt sind. Das wäre wohl auch noch Jahre so weiter gegangen. Doch jetzt, wo Schlachtbetriebe zu Corona-Hotspots werden, wo Landkreise wegen der Neu-Infektionen die Ausgangssperren verlängern mussten, hat das Bundeskabinett längst überfällige Reformen angestoßen. 

Große Fleischfabriken sollen direkt einstellen

Am Mittwoch kündigte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil an, dass ab Jahresbeginn Subunternehmen und Werkverträge in großen Fleischfabriken verboten werden sollen. Bislang ist die Mehrheit der osteuropäischen Arbeitskräfte nicht bei den Fleischbetrieben direkt angestellt, sondern bei externen Firmen, die ihnen für Wochen oder Monate Werkverträge geben. Darin wird beispielsweise die Zahl der zu schlachtenden Tiere zu einem bestimmten Preis geregelt. Regelmäßig würden Überstunden gefahren, die unbezahlt blieben, sagt Szabolcs Sepsi vom DGB-Projekt "Faire Mobilität" in Dortmund auf Anfrage des MDR. Doch sei dieser Betrug den Subfirmen nur schwer nachzuweisen, weil sie ihre Vertragspapiere entsprechend manipulierten. An Betriebsräte oder Streiks ist in den Subfirmen nicht zu denken. Auch können die Schlachthofbetreiber den Kündigungs- und Arbeitsschutz sowie die Hygienestandards auf die externen Firmen abwälzen. Dass sich das nun ändern soll, stößt auf starken Widerstand bei den deutschen Fleischproduzenten. Sie werden alles daran setzen, dass der Bundestag den Vorstoß womöglich noch verwässert.

Subfirmen vermitteln Schlafplatz gleich mit

Zu hunderten Coronavirus-Infizierten kam es in den vergangenen Tagen in der Fleischbranche vor allem, weil die Arbeiter auf engstem Raum wohnen müssen. Die Subfirmen vermitteln zum Job gleich die Sammelunterkunft mit. Ein Schlafplatz kostet pro Person in der Regel bis zu 300 Euro monatlich, die gleich vom Lohn einbehalten werden, erzählen betroffene Arbeitnehmer. Auch gebe es sogenannte Schicht-Schlafplätze – Betten, in denen nachts die Tagschicht liegt und tagsüber die Nachtschicht. Die Subfirmen haben über die Jahre gelernt, wie sie staatliche Kontrollen umgehen können. Sie mieten Privatwohnungen an, zu denen die Behörden keinen Zutritt haben. Auch hier soll es laut Bundesarbeitsministerium künftig effektivere Kontrollen geben.

Fehlende Sprachkenntnisse, keine Beschwerden

Um die Missstände bei den Behörden anzuzeigen, bräuchten die betroffenen Arbeitnehmer nicht nur Mut. Ihnen fehlt ein wichtiges Verständigungsmittel – die deutsche Sprache. Doch immerhin wächst seit Jahren deutschlandweit die Zahl öffentlicher Beratungsstellen, an die sich geprellte Arbeitnehmer in ihrer Landessprache wenden können, wie an die "Beratung migrantischer Arbeitskräfte" (Bema) in Halle. Henrik Lackus betreut dort gerade einige rumänische Arbeiter, die vor Gericht ziehen wollen: "Sie sind wütend, dass ihnen nach jahrelanger harter Arbeit grundlos gekündigt wurde". Die Erfahrung zeige, "dass die Subunternehmen häufig erst reagieren, wenn ihnen eine Klage zugestellt wird, zumindest in der Fleischbranche", sagt Lackus. Den beschwerlichen und zeitintensiven Weg einer Rechtsklage gingen aber nur wenige Wanderarbeiter.

Wichtige Einnahmequelle für Rumänien

Spargel auf Feld
Bis Ende Juni kommt der Spargel vom Feld. Bildrechte: MDR/Spargelhof Kutzleben

Die große Mehrheit erträgt die prekären Arbeitsbedingungen stillschweigend. Auch kommt aus Osteuropa stetig Nachschub: Arbeitskräfte, die von mehr Lohn träumen, gibt es viele. Allein Rumänien zählt über 3,5 Millionen Wanderarbeiter, die sich im Ausland verdingen - das ist gut ein Viertel der arbeitsfähigen Bevölkerung des Landes. Dass ihre Arbeitsbedingungen in Deutschland gerade ausführlich diskutiert werden, veranlasste diese Woche auch die rumänische Arbeitsministerin Violeta Alexandru vor Ort zu kommen, um sich die Sorgen ihrer Landsleute anzuhören - in Berlin, Bonn und beim insolventen Spargelhof in Bornheim. Die Bukarester Regierung weiß sehr wohl, was auf dem Spiel steht. Weltbank-Zahlen zufolge schickten die rumänischen Arbeitnehmer allein 2018 fast drei Milliarden Euro an Einnahmen nach Hause. Der stetige Geldtransfer ist ein wichtiger Wirtschaftsmotor fürs Land, der gerade in der Corona-Krise nicht ins Stocken kommen soll. Zudem kommen die Wanderarbeiter regelmäßig auf Heimat-Besuch. Sie werden zu Hause gerade wie eine kollektive Risiko-Gruppe behandelt, die das neuartige Corona-Virus im Gepäck haben kann.

Erntehelfer Anton Echert hofft, dass sich die Diskussion um das Virus in den nächsten Wochen entspannt. Wenn Ende Juni der Spargel vom Feld ist, reist er zurück nach Rumänien. "Hoffentlich mit dem versprochenen Gehalt", sagt er. Der Spargelhof in Kutzleben arbeitet derweil an einem Sanierungsplan. Ob allein der Anbau von Spargel die Firma wieder aus den roten Zahlen bringen kann? Echert wünscht sich das sehnlichst. Es geht nicht nur um seinen Saisonjob. Seine 80 Landsleute bangen wie er.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL FERNSEHEN | 23. Mai 2020 | 18:00 Uhr

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