Montag, 19.09.2022: Fremd, aber verheißungsvoll
Eine Gruppe Vorschulkinder ist in der S-Bahn, als der Zug durch Dresden-Strehlen fährt. Kurz vor dem Haltepunkt erhebt sich ein imposantes Gebäude. "Türme!" ruft ein Junge. "Das ist ein Schloss!" berichtigt ihn ein Mädchen. Beide staunen mit offenem Mund. "Das ist eine Kirche", sage ich. Sie schauen verständnislos. "Kirche" scheint ihnen wie ein Fremdwort.
Man kann das nüchtern als einen weiteren Beleg für ein in der Bedeutungslosigkeit versinkendes Christentum sehen. Und zugleich bedauere ich es, dass die Kinder ganz einmalige, ganz essenzielle Dinge vielleicht niemals in ihrem Leben kennenlernen werden: Aufstrebende Gewölbe, die etwas von der Weite des Himmels erahnen lassen. Die Kühle hinter dicken Kirchenmauern an einem flirrend heißen Tag. Lichtstrahlen, gebrochen durch bunte Fenster, tanzend auf dem Mosaikboden. Gemälde, Bildhauerkunst und Ornamentik, die die Fantasie derer in sich tragen, die sie schufen und die unsrige anregen. Eine Raumatmosphäre, getränkt von den Sorgen, Freuden, Hoffnungen unserer Altvorderen und dem Trost, den sie in der Kirche erfahren durften. Orgelklang, der den Körper vibrieren lässt. Kerzenlicht, das Wärme und Zuversicht verbreitet. Engelsgleicher Chorgesang. Oder ein mit Blumen, Obst, Gemüse und Getreide opulent geschmückter Altar zum Erntedankfest. Worte aus einem Jahrtausende alten Buch, die ungeahnte Wirkung entfalten können.
In diesem Monat sind noch viele Kirchen tagsüber verlässlich geöffnet. Schnuppern ist erlaubt und erwünscht. Vielleicht finden die Kinder mit ihren Eltern den Weg hinein. Das Raumgefühl mag sein wie das Hören einer anderen Sprache: fremd, aber verheißungsvoll. Spannend und zugleich melodiös. Die Botschaft an kleine wie große Besucher heißt in jedem Fall: Du bist willkommen.
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