Dienstag, 15.09.2020: Demokratie täglich würdigen

Ein Blick in die Zeitung lässt den Kaffee auf Marlies’ Zunge schal schmecken. Demonstrierende Menschen in einem europäischen Land, die mit Waffengewalt zurück gedrängt werden. Von anderen Kontinenten kennt sie es: Zensur der Meinungs- und Pressefreiheit, Inhaftierungen für unliebsame Opponenten, Vergiftungsversuche. In ihrem Europa will sie es nicht wahrhaben. Sie legt die Zeitung zur Seite und holt das Album hervor. Kleine Schwarz-Weiß-Fotos vom Herbst '89. Sie selbst mit Leuten aus der Seminargruppe auf dem Leipziger Ring. Manche von ihnen halten stolz die selbst gemalten Plakate vor die Kamera.

"Meinungsfreiheit", "Pressefreiheit", "Reisefreiheit". Damals die großen Sehnsüchte. Zuerst nur im kleinen Kreis erörtert, dann etwas lauter. Und eines Tages mutig genug, sich damit in die Öffentlichkeit zu wagen. Bis auf den Leipziger Ring! "Gott, du stellst meine Füße auf weiten Raum" - diesen Psalmvers verbindet sie stark mit jenem Aufbruch damals. Und mit dem ungewohnt weiten Raum im Denken, als sie sich demokratische Rechte tatsächlich erkämpften.

Marlies legt das Album ab. Ihr Blick geht in die Ferne. So lange her ist es nicht - 31 Jahre. Sie setzt sich an die Ausarbeitung ihrer nächsten Schulstunde und beginnt zu schreiben: „Am 15. September begehen wir den Internationalen Tag der Demokratie. Dieser Gedenktag wurde im Jahr 2007 von den Vereinten Nationen beschlossen. Mit der Einführung dieses Tages setzte man sich zwei Ziele: Es soll eine Gelegenheit sein, um die Demokratie zu feiern und zu würdigen. Gleichzeitig soll aber nicht vergessen werden, dass Demokratie nicht einfach besteht. Wir müssen uns dafür einsetzen und demokratische Rechte schützen. Dieses Anliegen ist heute genauso wichtig wie früher und wird es auch in Zukunft bleiben.“

Marlies setzt den Stift ab. Ob sie ihrer Klasse vermitteln kann, dass sich all dies nicht von allein ergibt? Dass es Mühe bedeutet, unterschiedliche Meinungen zuzulassen, auszuhalten und Konflikte fair auszutragen? Dass es wichtig ist, nicht nur Mehrheiten zu schaffen, sondern auch Minderheiten zu schützen? Mühsam und doch so nötig. Marlies muss über sich selbst lächeln, als ihre Finger nach einer Asternblüte greifen und neben das Foto von '89 legen.

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