Zwei braune Bären sitzen in Blumenwiese in Alaska fast Nase an Nase, im Hintergrund Nadelbäume
Hoffen wir, dass die beiden nicht bald auf einem Kartoffelacker näseln müssen. Bildrechte: imago/Westend61

Ernährung und Klima Landwirtschaft könnte durch Klimawandel der Wildnis auf die Pelle rücken

22. Oktober 2023, 17:02 Uhr

Wenn durch klimatische Veränderungen Nutzpflanzen nicht mehr so wachsen, wie sie sollen, kann das zu einer Verlagerung landwirtschaftlicher Flächen in ertragreichere Gebiete führen. Das kann auch die Wildnis sein, stellen Forschende fest. Nur, die Wildniss brauchen wir eigentlich – im Kampf gegen den Klimawandel.


Was ihre Wachstumsbedingungen betrifft, sind die meisten Nutzpflanzen zwar nicht so eine olle Mimose, wie es die Kaffeesorte Arabica ist. Aber irgendwo ist Schluss mit lustig: In den Wüsten zum Beispiel, ob Eis oder Sand, generell in den arktischen Regionen oder den hohen Gebirgszügen unseres Heimatplaneten. Ansonsten haben Kartoffel und Weizen vielerorts ihr kultivierbares Plätzchen, die Frage ist nur: Wie lange noch?

Die klimatischen Veränderungen, mit denen sich unser Planet in den kommenden Jahrzehnten zwangsläufig konfrontiert sieht, führen nicht nur zur Verdrängung von Menschen aus ihren angestammten Lebensräumen – sondern auch zur Verdrängung von Nutzpflanzen. So können die Kartoffelacker in Südamerika oder Subsahara-Afrika infolge des Klimawandels nicht mehr in gleichem Maße bewirtschaftet werden, den Weizenfeldern geht es zudem in Europa und Nordamerika an den Kragen.

Landwirtschaft schadet Klima, Klima schadet Landwirtschaft

Als wäre das nicht vermaledeit genug, steht die landwirtschaftliche Produktion unter einer Art Versorgungsdruck, mit der zunächst einfachen Rechnung: Die Menschheit wächst und damit auch der Bedarf an Nahrungsmitteln. Um den zu decken, wird sich die Produktion nach heutigen Gesichtspunkten bis 2050 verdoppeln müssen. Und jetzt sehen wir auch, was die Krux an der Sache ist: Während der Klimawandel den Anbau erschwert, wächst der Bedarf an Fläche.

Die Landwirtschaft tut das, was sie tun muss, und migriert. Mitunter polwärts legen Forschende im Fachblatt Current Biology nahe. Das Team hat Informationen zu gut 1.700 Nutzpflanzen ausgewertet und modelliert, wie sich die Agrarlandschaft in den kommenden vierzig Jahren verändern könnte. Die besonders bittere Erkenntnis: Landwirtschaft könnte sich nicht nur in Richtung Nord- und Südpol verschieben, sondern insbesondere in Wildnisgebiete. Der Klimawandel führt nicht nur zum Verlust von Ertragsfläche in wärmeren Gebieten, sondern auch zum Gewinn potenzieller neuer Gebiete, zum Beispiel dort, wo es derzeit noch zu frisch ist. Soll heißen: Weizen und Kartoffeln könnten in vierzig Jahren in Alaska ein kühleres und weniger vom klimatischen Stress geprägtes Zuhause gefunden haben.

Unberührte CO₂-Speicher nahe der Pole

Darin liegt das Problem, bei der sich die Katze in den Schwanz beißt: Die Wildnisgebiete auf der Erde leisten einen entscheidenden Beitrag zum Klimaschutz. Ihre Kohlenstoffspeicher gelten, so die Forschenden, als eine der besten Verteidigungswaffen gegen den Klimawandel. Außerdem ist die Wildnis ein wichtiger Baustein zum Erhalt der biologischen Vielfalt. Dass Biodiversität und Klimaschutz Hand in Hand gehen, ist mittlerweile fast eine klimawissenschaftliche Binse.

Zwei Karten zeigen, wo Kartoffeln und Weizen als Nutzpflanzen Anbaufläche verlieren, wo sie bestehen bleibt und wo neue Hinzug kommt. Starke Verluste in Subsahara Afrika und Südamerika, bei Weizen auch Europa und Nordamerika. Dezent sichtbare Zugewinne in arktischen Regionen wie Alaska.
Bildrechte: MDR WISSEN

Den Studienergebnissen zufolge geht es dabei besonders der unberührten Natur in den hohen Breitengraden der Nordhalbkugel an den Kragen, darauf verweist Alexandra Gardner von der Universität Exeter und Hauptautorin der Studie: "Das Ausmaß, in dem dieses neu geeignete Land in der Wildnis liegt, war überraschend: 76 Prozent der neu geeigneten Flächen in hohen Breitengraden sind derzeit Wildnis, was zehn Prozent der gesamten Wildnis in diesen Gebieten entspricht." Gebiete, die in ihrer Funktion hinsichtlich Biodiversität und Klimawirkung verloren gingen, wenn sie zu landwirtschaftlicher Anbaufläche werden. Der Effekt könnte sich sogar noch verstärken, weil die hohen nördlichen Breiten einer besonders starken Erwärmung ausgesetzt sind.

Ernährungssicherheit durch Kartoffeln aus der Wildnis?

Je nach Szenario bezogen auf den Ausstoß von Treibhausgasen könnten zwischen 1,85 und 2,75 Millionen Quadratkilometer Wildnis an neuer landwirtschaftlicher Fläche gewonnen werden. Schätzungen zufolge sind seit 1990 bereits 3,3 Millionen Quadratkilometer Wildnis der Landwirtschaft zum Opfer gefallen. Das ist nicht nur einmal Alaska, sondern gleich zweimal.

Gardner und Team können nachvollziehen, dass es dazu eine gewisse Notwendigkeit gibt, schlichtweg im Hinblick auf die Ernährungssicherheit der Menschheit. Aber: "Wir müssen die spezifischen Auswirkungen der verschiedenen landwirtschaftlichen Praktiken auf die biologische Vielfalt verstehen", sagt Alexandra Gardner. "Ein wichtiger Schritt ist es, zu wissen, wie wir die Ernteerträge auf bestehenden landwirtschaftlichen Flächen mit nachhaltigen Praktiken erhalten oder verbessern können, die die negativen Auswirkungen auf die natürliche Artenvielfalt nicht beeinträchtigen oder minimieren."

Bevor der Ackerbau in die Wildnis vorrückt, sollten also emsige Anstrengungen unternommen werden, die bestehende Situation gründlich zu überdenken. Dazu gibt es verschiedene Ansätze. Noch immer landen viele Lebensmittel im Müll. Die Hälfte bis zwei Drittel der Lebensmittelabfälle in Deutschland entstehen in Privathaushalten, pro Kopf sind es fast achtzig Kilo im Jahr. Es wird also schlichtweg zu viel angebaut oder das Angebaute nicht gerecht auf alle Menschen verteilt. 2019 dienten zudem 77 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche der Produktion von Fleisch- und Milchprodukten. Das ist nicht nur aus Sicht von Gesundheit und Tierwohl bedenklich, sondern komplett ineffizient: Die auf dieser Fläche erzeugten Güter entsprechen nicht mal einem Fünftel der weltweiten Kalorien und nur 37 Prozent des weltweit konsumierten Proteins.

Beeindruckend schöne Hügel- und Berglandschaft im Denali National Park mit weißen und grau-blauen Bergen im Hintergrund und warmen rotbraunen Tönen im Vordergrund, durch Farbwechsel von tiefen Pflanzen im Herbst. In der Mitte ein Flusslauf.
Wildnis in Alaska: Das sollte auch so bleiben. Bildrechte: imago/robertharding

Mit Züchtungen ist es zudem möglich, Nutzpflanzen an die neuen Gegebenheiten anzupassen – entweder auf konventionelle Art, oder wenn es etwas schneller gehen muss, mithilfe grüner Gentechnik. Bei dieser zum Beispiel am IPK-Gatersleben erforschten Methode wird der Züchtungsprozess beschleunigt, indem die gewünschten Anpassungen der Pflanze direkt im Erbgut vorgenommen werden.

Biodiversität auf der Anbaufläche – ein erster Schritt

"Was wir in den letzten fünfzig Jahren erlebt haben, ist eine Verlagerung hin zu großen Feldern und Monokulturen. Für einen Landwirt ist es viel billiger, auf diese Weise zu produzieren", sagt Ilya Maclean, ebenfalls von der Universität Exeter. "Aber wenn man nur eine einzige Pflanze anbaut, ist man anfälliger für die Unwägbarkeiten des Klimawandels." Biodiversität ist da das Zauberwort, auch im Anbau mit einer Vielzahl von Pflanzen, die auf ihre natürliche Umgebung zugeschnitten sind.

Den Forschenden zufolge würden so zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Die Verzahnung mit der Umwelt, um die natürliche Tierwelt nicht zu stören, und der Schutz der Ernteerträge vor den Gefahren des Klimawandels. Soll heißen: Wenn eine Kultur klimawandelbedingt ausfällt, ist nicht gleich die ganze Nutzfläche hin – was auch aus Einkommenssicht der Landwirtinnen und Landwirte nicht unerheblich ist. Und die Wildnis? Die "muss als intaktes Ökosystem erhalten werden und dies ist in der Tat ein wesentlicher Bestandteil ihrer Definition", schreiben die Forschenden in ihrem Papier. Das gilt im Übrigen nicht nur in der Arktis, sondern auch am Äquator.

flo

Links/Studien

Die Studie "Wilderness areas under threat from global redistribution of agriculture" erschien in Current Biology.

DOI: 10.1016/j.cub.2023.09.013

Schwarz-weiß-Bild von Mann mittleren Alters im Hemd in Gewächshaus, erklärende Mimik und Gestik, Hintergrund unscharf, Text: Macht uns Gentechnik alle satt? 3 min
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