Was passiert beim Sterben? Sterbeprozess verstehen und begleiten

30. November 2024, 12:00 Uhr

Für viele ist der Tod ein Tabuthema. Für Palliativmediziner Sven Gottschling hingegen ein täglicher Begleiter. Er ist davon überzeugt, dass es die Angst nehmen kann, wenn An- und Zugehörige verstehen, was beim Sterben passiert. Viele Anzeichen des Sterbens sind ganz natürliche körperliche Prozesse.

Sterbende: Am Leben bis zum Tod

"Sterbende sind bis zum letzten Atemzug Lebende. Ich gehe mit einem Sterbenden so lange um, als wäre er ganz normal kontaktierbar, bis er verstorben ist", das ist das Credo von Palliativmediziner Sven Gottschling. Er ist Chefarzt am Zentrum für altersübergreifende Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie am Universitätsklinikum des Saarlandes und hat jeden Tag mit Abschiednahme, Sterben und Tod zu tun. Mancher Sterbeprozess zieht sich über Tage hin, manches Ende geht sehr schnell.

Egal wie verschieden die Sterbenden und wie unterschiedlich die Ursachen, die zum Sterben führen: So lange Lebenssignale vorhanden sind, so lange sind Patienten am Lebensende noch empfänglich für Nähe: "Wir gehen davon aus, dass Berührungen und auch vertraute Stimmen noch lange wahrgenommen werden, selbst wenn keine sichtbare Reaktion mehr vom Sterbenden zurückkommt", erklärt Gottschling. Körperliche Nähe, Stimmen, leise Musik können die oder den Sterbenden entspannen. Der Palliativmediziner will An- und Zugehörige ermutigen, den Patienten durch Anwesenheit und Nähe zugewandt zu sein.

Menschen sterben ein Stück weit so, wie sie gelebt haben.

Sven Gottschling – Palliativmediziner

"Wenn jemand ein totaler Macher war in seinem Leben, dann darf man von so einem Menschen nicht erwarten, dass er sich stillvergnügt auf den Rücken legt, noch einen tiefen Atemzug nimmt und dann friedlich verstirbt. Das sind oft Menschen, die auch im Sterbeprozess sehr viel Aktivität entfalten oder auch einen nach außen deutlich sichtbaren Kampf kämpfen", sagt der Palliativmediziner. So verschieden die Todesursachen, so unterschiedlich die Sterbenden, einige Prozesse, die im Körper der Sterbenden ablaufen, ähneln einander.

Ein Mann mittleren Alters in Shirt und Weste lacht in die Kamera. Das Bild ist schwarz-weiß
Palliativmediziner Gottschling versucht An- und Zugehörige umfassend über alle Eventualitäten im Sterbeprozess zu informieren. Bildrechte: Sven Gottschling

Typische Anzeichen des Sterbeprozesses

Kaum noch Hunger oder Durst: Die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme reduziert sich auf ein Minimum. Das ist ein natürlicher Prozess, der den Körper nicht belastet: Im Sterbeprozess können Magen, Darm und Co. mit Nahrung nichts mehr anfangen. Im schlimmsten Fall landen Flüssigkeiten an Orten, wo sie nicht hingehören: Zum Beispiel in der Luftröhre, was zusätzliches Leiden verursachen kann.

Statt zu versuchen, den Sterbenden zum Essen oder Trinken zu überreden, können Angehörige die Lippen mit einem feuchten Tuch befeuchten, um ein angenehmes Gefühl zu verschaffen. Wohltuend können auch Eiswürfel mit Geschmack sein – je nachdem, was die sterbende Person mag. Auch die passende Mundpflege kann noch angenehm sein: den Mundraum mit einem kleinen feuchten Schwämmchen zu säubern, hilft gegen Trockenheit und mögliche Entzündungen. Idealerweise ist der Schwamm mit einer leicht säuerlichen Flüssigkeit wie etwa Apfelschorle angefeuchtet. Das regt den schützenden Speichelfluss an.

Energieverlust und Zentralisierung: Menschen, die im Sterben liegen, ziehen sich zunehmend aus der Außenwelt zurück. Gespräche werden seltener, und viele schlafen die meiste Zeit. Der Körper spart Energie und konzentriert sich auf die wichtigsten Organe: Herz, Gehirn, Lunge.

Zum Sterbeprozess gehört die so genannte Zentralisierung: Kalte Hände, Füße oder bläuliche Hautverfärbungen sind Anzeichen, dass der Kreislauf langsamer und die "Außenstellen" des Körpers weniger durchblutet werden. Die Körpertemperatur sinkt und die Haut wird blasser. Auch Entgiftungsorgane wie die Niere funktionieren immer weniger. Das kann für Mattheit und Verwirrung sorgen. Muskelzuckungen und unwillkürliche Bewegungen sind normal und müssen kein Anzeichen von Schmerz sein.

Veränderungen im Bewusstsein: Viele Menschen fallen in einen dämmrigen Zustand oder sind kaum noch ansprechbar. Einige erleben noch einmal einen Moment der Klarheit, in dem sie sich verabschieden können. Oft warten Patienten auch noch auf die Anwesenheit eines nahen Angehörigen oder auf ein bestimmtes Ereignis vor ihrem Tod:

Das sind Geschichten, die wir täglich erleben.

Sven Gottschling

"Sei es die Geburt des Enkelkindes, sei es die Rückreise der Tochter aus dem Urlaub. Sogar in Situationen, wo man sagen muss: wir haben eine Laborkontrolle gemacht. Eigentlich ist dieses Laborergebnis mit dem Leben gar nicht mehr vereinbar und wir haben das sehr oft, dass Menschen sich noch verabschieden oder aussöhnen", sagt Sven Gottschling.

Veränderte Atmung: Sterbende atmen viel unregelmäßiger und mit großen Atempausen. Ein weiteres häufiges Symptom ist die so genannte Rasselatmung, verursacht durch Sekrete in den Atemwegen. Die werden nicht mehr abgehustet, weil der Hustenreflex in den letzten Tagen und Stunden versagt.

Experte Sven Gottschling: "Wesentlich ist: Das ist wirklich nur Schleim in den Luftleitern, der nicht mehr abgehustet werden kann. Da steht nicht unbedingt viel Flüssigkeit in der Lunge, und jemand hat ein echtes Erstickungsgefühl. Das muss für den Patienten nicht anstrengend sein." Dies gelte besonders, wenn keine Anspannungszeichen auf dem Gesicht zu sehen seien. Die richtige Lagerung kann hier lindernd wirken, beispielsweise indem die Decke zu einer Rolle gefaltet und leicht unter den Rücken gelegt wird, sodass der Patient zwischen Seit- und Rückenlage liegt.

Der letzte Atmer: Im letzten Schritt setzt die Atmung aus. Oft kommt es vor, dass Sterbende einige Minuten lang schon nicht mehr atmen und dann aber noch einen oder mehrere letzte tiefe Atemzüge nehmen. Das kann für Anwesende sehr erschreckend wirken, ist aber ein normales Phänomen:

"Das ist oftmals ein letztes Funksignal aus dem Atemzentrum im Gehirn runter in Richtung Atemmuskulatur: Bitte noch einmal atmen. Das muss nicht passieren, aber in 60 bis 70 Prozent der Fälle ist es so", erklärt Gottschling. Danach versiegt die Atmung, der Herzschlag stoppt, die Versorgung des Körpers endet und der Mensch ist biologisch tot.

Fachliche Begleitung am Lebensende

Palliativmedizin und Palliativpflege versuchen das Lebensende so erträglich wie möglich zu machen, versichert Sven Gottschling: "Immer dann, wenn andere Fachkollegen sagen, wir können nichts mehr für sie tun, geht es für uns erst richtig los: Wir können Schmerzen lindern, Luftnot lindern. Wir begleiten sie, wir kümmern uns um sie, wir kümmern uns um ihre Kinder und wir können auch zuhause an ihrer Seite sein."

Letzte-Hilfe-Kurse: Praktische Hilfe bei der Sterbebegleitung

Wie An- oder Zugehörige sterbende Menschen begleiten können, das zeigen auch so genannte Letzte-Hilfe-Kurse. Sie werden bundesweit und oft von Hospizen angeboten. Eine Übersicht finden Sie hier. Für den Podcast "Meine Challenge - Besser Sterben" besucht Host Daniela Schmidt einen Letzte-Hilfe-Kurs in Leipzig, um Tipps für den Sterbeprozess zu bekommen und sich auf den Tod naher Menschen vorzubereiten.

Dieses Thema im Programm: MDR+ | Meine Challenge | 29. November 2024 | 12:00 Uhr

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