kleines Gefäß mit der Aufschrift Pentobarbital-Natrium, daneben ein Glas mit Wasser, darauf ein Löffel mit weißem Pulver.
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Sterbehilfe Wie sie bei unseren Nachbarn in Europa (nicht) geregelt ist

10. Juli 2023, 10:04 Uhr

Zwei neue Gesetzentwürfe zum assistierten Suizid sind im Bundestag binnen 90 Minuten gescheitert: Der eine zu locker, der andere zu streng. Also bleibt zunächst alles, wie es war: Die Beihilfe zur Selbsttötung ist straffrei, doch einen Zugang zu den erforderlichen Mitteln bleibt verwehrt. Wird also die Schweiz nach wie vor ein wichtiger Anlaufpunkt für Sterbewillige sein? Wie ist das dort geregelt und wie gehen unsere anderen europäischen Nachbarn überhaupt damit um?

Wer einen Angehörigen oder Freund mit einer schweren, unheilbaren Krankheit begleitet, wird sich manchmal bei dem Gedanken ertappen: Jedes Tier, das so leiden muss, darf man erlösen. Einen Menschen hingegen nicht, zumindest nicht ohne weiteres. Und auch wer sich für sich selbst nach einer schweren Diagnose bewusst wird, welcher Weg ihm bevorsteht, mag solche Überlegungen anstellen. Sterbehilfe bleibt in Deutschland kompliziert, zwei Reformversuche sind gerade gescheitert.

Auf welche Weise kann Sterbehilfe geleistet werden?

Rechtlich gesehen ist ein Tier eine Sache, ein Gegenstand, über den der Besitzer im Rahmen des Tierschutzgesetzes entscheiden darf. Ein Menschenleben jedoch hat in unserer Gesellschaft juristisch und auch ethisch einen ganz anderen Stellenwert, der uns die Entscheidung so schwer macht, wann Sterbehilfe angemessen ist, wer sie leisten darf und welche Form in Frage kommt, denn es gibt Abstufungen:

  • aktive Sterbehilfe - Tötung durch eine andere Person auf Verlangen
  • assistierter Suizid - Beihilfe zur Selbsttötung. Der Patient muss das todbringende Mittel selbst einnehmen.
  • indirekte Sterbehilfe - die Nebenwirkungen verordneter Medikamente wie Morphium führen zum Tod
  • passive Sterbehilfe - der Patient bricht die Behandlung ab und / oder beginnt zu fasten

All diese Formen sind in Belgien, Luxemburg und den Niederlanden erlaubt. In den meisten europäischen Staaten gilt das bis auf die passive Sterbehilfe nicht, und auch die darf nur unter strengen Auflagen gewährt werden.

Ralf Bladt wollte in einem Ruhehain beerdigt werden. Den Baum, unter dem er begraben sein wollte, hat er sich vor seinem assistierten Suizid noch selbst ausgesucht. 30 min
Ralf Bladt wollte in einem Ruhehain beerdigt werden. Den Baum, unter dem er begraben sein wollte, hat er sich vor seinem assistierten Suizid noch selbst ausgesucht. Bildrechte: MDR/Thomas Keffel
Ralf Bladt wollte in einem Ruhehain beerdigt werden. Den Baum, unter dem er begraben sein wollte, hat er sich vor seinem assistierten Suizid noch selbst ausgesucht. 30 min
Ralf Bladt wollte in einem Ruhehain beerdigt werden. Den Baum, unter dem er begraben sein wollte, hat er sich vor seinem assistierten Suizid noch selbst ausgesucht. Bildrechte: MDR/Thomas Keffel

Viele reisen in die Schweiz zum sterben - warum?

In Finnland, Österreich, Deutschland und der Schweiz ist nur die aktive Sterbehilfe verboten. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen also sind in all diesen Ländern gleich. Warum gilt dann vor allem die Schweiz als Vorreiter auf diesem Gebiet? Denn die Anzahl derer, die sich dort für einen assistierten Suizid entscheiden, steigt seit etwa sieben Jahren exponentiell und liegt derzeit bei 1.300 jährlich, ohne diejenigen, die dafür aus dem Ausland anreisen.

Dabei gibt es dort keine detaillierte juristische Regelung der organisierten Suizidhilfe im Strafrecht, abgesehen von Artikel 115 des Schweizer StGB von 1943, der besagt: "Wer aus selbstsüchtigen Beweggründen jemanden zum Selbstmorde verleitet oder ihm dazu Hilfe leistet, wird, wenn der Selbstmord ausgeführt oder versucht wurde, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft." Trotz einiger Reformversuche hatte der Schweizer Bundesrat am 29. Juni 2011 entschieden, es dabei auch zu belassen und lediglich die Selbstsucht als Motiv für die Beihilfe unter Strafe zu stellen.

Sterbehilfeorganisationen in der Schweiz erlaubt

Markus Zimmermann vom Lehr- und Forschungsrat am Departement Moraltheologie und Ethik an der Universität Freiburg, Schweiz, begründet diese Zurückhaltung damit, dass man die Ärzteschaft einbinden, gleichzeitig aber verhindern wolle, dass ein Arzt oder eine Ärztin das Recht oder die Macht hat, die Suizidhilfe zu verweigern, also Bedingungen zu setzen.

Aus seiner Sicht hat die Schweiz diesen Konflikt "gelöst", indem sie die Gründung von inzwischen sieben Sterbehilfeorganisationen zuließ, die sich um die Durchführung des assistierten Suizids kümmern. Damit bleiben die Ärzte und Ärztinnen außen vor, abgesehen von der Verschreibung des notwendigen letalen Mittels.

Assistierter Suizid - eine Frage der Mentalität?

Die Sterbehilfeorganisationen haben in der Schweizer Bevölkerung eine große Reputation und können derzeit auf 700.000 Mitglieder verweisen, das sind etwa 10 Prozent der über 18jährigen. Allein dem von Pfarrer Rudolf Sigg gegründete "Exit Deutsche Schweiz“ gehören aktuell 130.000 Menschen an.

Diesen Zuspruch sieht die Rechtsmedizinerin Christine Bartsch von der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin auch in der Mentalität vieler Schweizer begründet. Die Motivation ums selbstorganisierte Sterben sei vielschichtig. Doch sicher spielten die lange Tradition, sich im Leben für alles zu versichern, eine große Rolle, genauso wie die Lebensphilosophie der Schweizer, selbst zu bestimmen, auch über das eigene Ende.

Menschen wollen Ort und Zeit des eigenen Sterbens entscheiden können

"Was den Tod angeht, gibt es mindestens seit Anfang der 80er-Jahre trotz der biologisch angelegten Tatsache, dass es grundsätzlich gar keine Absicherung im Leben und gegen das Sterben gibt, den Trend, mit Eintreten der Volljährigkeit Mitglied in einem Suizidbeihilfeverein zu werden", sagt Bartsch. "Eine von uns ausgewertete Motivationsanalyse hatte ergeben, dass es vor allem darum geht, Kontrolle über das Wann, Wo und Wie des Sterbens zu gewinnen, um unter keinen Umständen als Pflegefall ,dahinzuvegetieren‘ und anderen Menschen zur Last fallen zu müssen."

Wohl deshalb bejahen 90 Prozent der Menschen in der Schweiz die Möglichkeit der Suizidhilfe. Es fänden zwar viele Diskussionen statt, so Markus Zimmermann: "Diese sind jedoch nicht kontrovers, sondern interessiert, kritisch und liberal. Momentan wird zum Beispiel in allen Kantonen eine Regelung für die Suizidhilfe von Menschen in Haft etabliert und ein angemessener Umgang mit der Suizidhilfe bei psychisch kranken, sterbewilligen Menschen diskutiert."

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Suizidgefährdung und assistierter Suizid sind "zwei Paar Schuhe"

Das Ansinnen des Deutschen Ethikrates, dass mit der Etablierung der Suizidhilfe die Suizidprävention verstärkt werden müsse, kann Zimmermann nicht so recht nachvollziehen. "Personen, die einen Suizid begehen, sind größtenteils Männer und durchschnittlich 40 Jahre alt. Die Zahlen in der Schweiz nehmen seit 40 Jahren kontinuierlich leicht ab. Personen, die Suizidhilfe in Anspruch nehmen, sind mit 60 Prozent mehrheitlich Frauen, die durchschnittlich 75 Jahre alt sind", sagt er und ergänzt: "Die Anzahl dieser Fälle nimmt seit einigen Jahren massiv zu. Wir haben hier zwei empidemiologisch völlig unterschiedliche Gruppen. Natürlich ist es aus meiner Sicht gut, die Suizidprävention zu stärken, diese wird aber keinen Einfluss nehmen auf die Entwicklung der Suizidhilfeinzidenz", also der Nachfrage nach Beihilfe zur Selbsttötung.

Und diese steigt in der Schweiz unter anderem auch durch das dort vorhandene ausgebaute Angebot an Möglichkeiten, begründet es die Rechtsmedizinerin Christine Bartsch. Für Deutschland fordert sie, den möglichen Missbrauch, also fahrlässige oder vorsätzliche Tötung, ausschließlich im Strafrecht zu verankern.

Bartsch: Sterbehilfe-Organisationen triggern Wunsch nach selbstbestimmten Tod

Kein Gesetz der Welt könne die "schleichend einsetzende, systematische, gewerbsmäßige Sterbehilfe verhindern, die trotz juristischer Einschränkungen allein durch das werbende Angebot ausgelöst wird und in einen Automatismus abgleiten kann", so Bartsch. Sie sieht die Gefahr, dass Menschen ihr Leben unter bestimmten Umständen zunehmend als "sinnlos und belastend" empfinden und über einen assistierten Suizid nachdenken, um niemandem zur Last zu fallen oder unnötige Kosten zu verursachen. Für sie ist die Präsenz der Suizidhilfeorganisationen ein Trigger für den Wunsch nach einem selbstbestimmten Tod.

Im Rahmen einer Studie haben Bartsch und ihr Team die Entwicklung der assistierten Suizide in der Schweiz untersucht. Das Ergebnis: Die Zahl der Fälle ist seit der Jahrhundertwende deutlich angestiegen, sowohl in Bezug auf Schweizer Staatsbürger als auch auf eigens dafür Angereiste, vor allem Deutsche. Der Anteil der Frauen lag bei 60 Prozent im Alter zwischen 18 und 105 Jahren, der Durchschnitt bei 73 Jahren. Die häufigsten Gründe waren lebensverkürzende Erkrankungen insgesamt und neurologische im besonderen.

Wie soll in Deutschland die Beihilfe zum Suizid aussehen?

Darüber hinaus wurden altersbedingte Funktionseinschränkungen wie Seh- und Hörverlust schriftlich als Grund für den Sterbewunsch angegeben. Bartsch kritisiert, dass dies trotz eines entsprechenden Erlasses des Schweizer Bundesgerichts von 2006 in den Sterbeurkunden zwar detaillierter, jedoch immer noch nicht einheitlich oder gar vollständig dokumentiert wurde. Sie stellt daher in Frage, ob eine weitere Regulierung und Standardisierung für mehr Transparenz und Qualitätssicherung führen würde, zum Beispiel durch ein Monitoringsystem, das bereits bei der Sterbevorbereitung ansetzt.

Aus der Sicht von Christine Bartsch ist es wichtig festzulegen, dass nur eine frei und unabhängig agierende Person assistieren darf. Darüber hinaus müsse die Frage geklärt werden, wie die Beihilfe aussehen soll: Wer soll das tödliche Mittel zur Verfügung stellen? Was soll es kosten und wer soll es bezahlen? Sollte Suizidbeihilfe eine Krankenkassenleistung werden oder eine finanzielle Privatangelegenheit bleiben? Da nach dem Scheitern der Gesetzentwürfe zur Reform der Sterbehilfe in Deutschland Sterbewilligen weiterhin der Zugang zu entsprechenden Substanzen verwehrt bleibt, stellt sich die Frage nach der Finanzierung zunächst nicht. Und auch nicht die nach einer detaillierteren Regelung.

Sylvia Bartz ist Gast im Lazarus Hospiz in Berlin. Sie empfindet die Fürsorge als beruhigend. Ihre Angst vor dem Tod kann sie hier manchmal vergessen. 8 min
Sylvia Bartz ist Gast im Lazarus Hospiz in Berlin. Sie empfindet die Fürsorge als beruhigend. Ihre Angst vor dem Tod kann sie hier manchmal vergessen. Bildrechte: MDR/Thomas Keffel

Palliativmediziner: Wir haben genügend Handlungsspielraum

Heiner Melching, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, ist froh darüber, dass keiner der beiden Gesetzentwürfe den Bundestag passiert hat. Mit dem einen Entwurf wäre es aus seiner Sicht für schwerkranke Patienten schwerer geworden, selbstbestimmt zu sterben. Mit dem anderen Entwurf hingegen hätten es Menschen in Krisen, die eine ganz andere Unterstützung brauchten, deutlich leichter gehabt, an ein todbringendes Medikament zu gelangen.

Melching setzt auf die Expertise seiner Kollegen: "Wir sind in der Palliativmedizin erfahren im Umgang mit Sterbewünschen, sie zu identifizieren, zu verstehen und auch zu erfüllen, wenn es keinen anderen Weg gibt. Insofern haben wir einen großen Handlungsspielraum und viele Freiheiten. Damit geht allerdings auch viel Verantwortung einher. Da ist die Herausforderung dann die Qualifikation der Ärztinnen und Ärzte.", so Melching in einem Interview mit dem Deutschlandfunk.

Aktive Sterbehilfe - in den Benelux-Staaten legal

Die Niederlande, Belgien und Luxemburg gehen sogar noch einen großen Schritt weiter: Auch aktive Sterbehilfe ist dort erlaubt, in den Niederlanden bereits seit 2002. Bedingung dafür ist die Attestierung "eines hoffnungslosen und unerträglichen Leidens aufgrund eines medizinischen Zustands", erklärt Paul Mavis, Professor für Strafrecht an der Erasmus-Universität Rotterdam in den Niederlanden. Er verweist auf die erst kürzlich veröffentlichte 4. Evaluierung der niederländischen Verordnung.

Die Untersuchung belegt, das die geltenden Regelungen Rechtssicherheit, Sorgfalt und Transparenz im Hinblick auf die Sterbehilfe weiterhin ausreichend gewährleistet. Gefordert wird aber auch hier, wie in der deutschen Palliativmedizin, eine fortlaufende Qualifizierung der ausführenden Ärzte dahingehend, dass sie Sterbewünsche erkennen und einordnen können bei Menschen in ganz unterschiedlichen Situationen. Und so wird der assistierte Suizid immer eine Frage der Abwägung, immer eine Einzelfallentscheidung sein, ganz gleich wie die Möglichkeiten dazu juristisch geregelt sind.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 06. Juli 2023 | 12:00 Uhr

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