Mensch und Technik Virtuelle Realität: Kids haben so ihre Problemchen

29. September 2021, 15:40 Uhr

Mit dem Einhorn ab durchs Bonbonland: Virtuelle Realität scheint auch bei Kindern ein hohes Potenzial zu haben. Nun ja: Leider funktioniert gerade die Steuerung schlechter als bei Erwachsenen. Aktuelle Forschung zeigt, dass das an der Entwicklung der Kids liegt, die länger dauert als bislang vermutet.

Okay. VR-Brille aufsetzen und sich ein bisschen auf dem Matterhorn oder an einem eisigen Bergsee umgucken – da gehört nicht viel dazu. Aber virtuelle Realität, das sind ja nicht einfach nur 360-Grad-Panoramen. Spannend wird's, wenn Mensch und Technik ein bisschen enger zusammenrücken, wenn die virtuelle mal kurz zur echten Realität wird, sich steuern und beeinflussen lässt. Und das Matterhorn nicht nur gesehen, sondern auch bestiegen werden und im eisigen Bergsee gebadet werden kann, wenn man sich das sonst schon nicht traut.

Seit einigen Jahren gibt's auch einen Begriff dafür: immersiv. Das beschreibt ein besonders intensives Eintauchen in eine künstliche Welt. Einfaches Beispiel: Nutzende tragen ein Virtual-Reality-Headset (so eine dicke Brille mit Bildschirm, Sie wissen schon), mit der es sich in einer Umgebung umsehen lässt. Sensoren ermöglichen es zusätzlich, die Bewegung des Oberkörpers zu verfolgen. Mit dieser Kombination lässt sich eine virtuelle Umgebung sehen und steuern.

Fahrradfahren und umhergucken: ziemlich komplex

In einem Test hat die Schweizer Neurologin Jenifer Miehlbradt Probanden dazu aufgefordert, mit einem solchen Setup durch eine virtuelle Landschaft zu fliegen und durch Rumpfbewegungen Hindernissen auszuweichen. "Erwachsene hatten kein Problem damit, aber ich habe gemerkt, dass es Kinder einfach nicht können", erinnert sich Miehlbradt.

Na sowas! Das Experiment ist jetzt schon fünf Jahre her, Zeit genug, sich mit den Ursachen zu beschäftigen. Zusammen mit italienischen Forschenden hat Miehlbradt festgestellt, dass Erwachsene in der Regel kein Problem damit haben, ihre Kopfbewegung vom Oberkörper zu trennen und zu steuern. Beispiel: Fahrradfahren und woanders hinsehen. Das ist komplexer als es klingt: Sehen, Gleichgewichtsausgleich und die Wahrnehmung von Bewegung und Position.

Kind sitzt mit einer Virtual-Reality-Brille auf einem Stuhl, Oberkörper mit Kabeln mit Laptop verbunden, Frau mit blonden, langen Haaren hockt daneben und blickt auf Laptop.
Jenifer Miehlbradt beim VR-Experiment Bildrechte: EPFL/Alain Herzog

Dinge, die Kids erst lernen müssen. Und dafür brauchen sie länger als gedacht, wie die aktuelle Studie zeigt. Bisher ging man davon aus, dass die Entwicklung einer unabhängigen Kontrolle von Kopf und Rumpf mit acht Jahren weitestgehend abgeschlossen sei. Die neuen Daten zeigen, dass dies auch mit zehn Jahren noch nicht vollkommen der Fall ist.

Virtual Reality (VR) oder Augmented Reality (AR)?

Mit VR wird eine rein virtuelle Welt geschaffen, in die Nutzende eintauchen können. Es besteht kein Kontakt zur Umwelt mehr. VR-Spiele erfordern deshalb eine sicheres Umfeld. AR – erweiterte Realität – ergänzt die echte Welt um digitale Inhalte, z.B. mit dem Livebild einer Smartphonekamera von einem Straßenzug, der durch digitale Informationen zu Geschäften und Wegweiser ergänzt wird.

Das legen verschiedene Untersuchungen nahe, die Jenifer Miehlbradt und Team jetzt durchgeführt haben. So sei es für Kinder innerhalb einer virtuellen Umgebung unproblematisch, den Kopf auf eine Linie auszurichten, beim Oberkörper überschätzen sie sich aber. Bei einem Versuch, in dem die jungen Teilnehmenden aufgefordert wurden, auf dem (virtuellen!) Rücken eines Adlers sitzend Münzen einzusammeln, indem sie das Tier in Richtung Münzen steuern, zeigte sich: Mit der Kopfbewegung klappt das um achtzig Prozent besser als mit dem Körper.

Obacht bei VR mit Kindern

Ist ja auch einfacher: Bei der Kopfbewegung ist die gewünsche Steuerungsrichtung sichtbar, bei der Rumpfkontrolle müssen Sehen und Steuerung getrennt werden. "VR gewinnt an Popularität, nicht nur für die Freizeit, sondern auch für therapeutische Anwendungen wie Rehabilitation und Neurorehabilitation oder die Behandlung von Phobien oder ängstlichen Situationen. Die Vielfalt der Szenarien, die erstellt werden können, und der spielerische Aspekt, der in ansonsten umständliche Aktivitäten eingebracht werden kann, machen diese Technologie besonders attraktiv für Kinder", so Miehlbradt. Aber:" Wir sollten uns bewusst sein, dass immersive VR die Standardkoordinationsstrategie des Kindes stören kann."

Vielleicht auch ganz gut zu wissen für die Videospieleindustrie: Aufwändige Virtual-Reality-Setups für die Heimkonsole lassen sich vielleicht gut verkaufen. Gerade bei jüngeren Zocker*innen könnte sich der Spielspaß aber in Grenzen halten.

flo

Link zur Studie

Die Studie Immersive virtual reality interferes with default head–trunk coordination strategies in young children erschien am 27. September im Fachjournal Scientific Reports.

DOI: 10.1038/s41598-021-96866-8

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