Werbeverbot für ungesunde Kinder-Lebensmittel Werbepause für Zucker & Co: Geplantes Gesetz für Kinderprodukte kann funktionieren
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30. April 2023, 12:00 Uhr
Klar, Kinder sollten sich gesund ernähren und dadurch Krankheiten vorbeugen. Aber nicht nur, um ihrer Gesundheit und Entwicklung einen Gefallen zu tun, sondern auch, um gar nicht erste schlechte Gewohnheiten für später zu entwickeln. Ein neues Gesetz soll die Werbung für ungesunde Lebensmittel regeln und Kinder davor schützen, kritische Stimmen bezeichneten sie aber als nicht umsetzbar. Ein Irrtum, sagt eine neue Vorabstudie.
Für Ronald McDonald ist das schon eine alte Leier. Der für Hamburger-Imitate und eine Welt-in-der-noch-alles-in-Ordnung-war stellvertretende Werbeclown weiß, wie es sich anfühlt, nicht mehr vor seinem jugendlichen Publikum auftreten zu dürfen. Dem lustigen Klingel-Glöckchen-Pinguin aus der Reklame für den ähnlich klingenden Nachtisch aus dem Kühlregal ist es auch so ergangen. Wahrscheinlich sitzen die beiden gerade am Rommeetisch im Feierabendheim für inzwischen ungeliebte Werbe-Ikonen. Und das HB-Männchen leistet ihnen Gesellschaft.
Neues Gesetz, neue Kritik
Sicher wird die Runde der drei bald größer, zumindest nach Plänen von Ernährungsminister Cem Özdemir (Grüne). Er und die Bundesregierung wollen Werbung für besorgniserregend ungesunde Lebensmittel den Garaus machen. Wobei es eher sein Ministerium sein dürfte, denn aus der Ampel waren bei der Vorstellung der Pläne Ende Februar gemischte Töne zu hören: Während SPD-Fraktionsvorsitzende Esken sagte, es seien immer noch die Eltern, die die Kinder vor ungesunden Lebensmitteln schützen müssten, regte sich bei der FDP der Widerstand: Das Vorhaben sei praxisfern und nicht umsetzbar, so zumindest die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Carina Conrad in der Zeitung Die Welt. (Allerdings hat die FDP auch 2019 schon gegen ein Tabakwerbeverbot gewettert, damals aber noch in der Rolle als Oppositionspartei.) Auch der Lebensmittelverband und die Werbewirtschaft lehnen das Verbot naturgemäß ab.
Das ist geplant: Werbeverbot für ungesunde Kinderprodukte
Als Kinder definiert das BMEL alle unter 14-Jährigen, als ungeeignet gelten Produkte mit hohem Zucker-, Fett- und Salzgehalt.
Das Verbot soll beinhalten:
👉 deutlich an Kinder gerichtete Werbung betroffener Produkte (als Außenwerbung, in Medien)
👉 allgemeine Bewerbung betroffener Produkte, der Kinder begegnen könnten (z.B. Kindersender, 100 Meter Umkreis von Schulen oder Kitas)
Das Gesetz schränkt auch die Ausstrahlung von Werbung ungesunder Produkte zwischen 6 und 23 Uhr ein, zudem darf sie nicht im inhaltlichen Umfeld betrieben werden, das auch Kinder anspricht. An Kinder gerichtetes Sponsoring ist ebenfalls betroffen.
Stand: BMEL (27. Februar 2023)
Was diese Praxisferne betrifft – das sehen Forschende der Ludwig-Maximilian-Universität in München anders. Sie haben untersucht, welchen Produkten auf dem deutschen Markt es an den Reklamekragen gehen könnte. (Um dieses Missverständnis gleich aus der Welt zu schaffen: Schokoeier dürfen ebenso weiterverkauft werden, wie das enthaltende Spielezeug – solange das Ei nicht Augen, Mund und Gliedmaßen bekommt und animiert durchs Kinderwerbefernsehen spaziert.) Grundlage für das geplante Werbeverbot bietet ein Nährwertprofilmodell (NPM) der Weltgesundheitsorganisation WHO, das vom europäischen Regionalbüro speziell für Europa und zur Eindämmung ungesunder Kinderwerbung entwickelt wurde. Anhand dessen lässt sich messen, ob ein Produkt beworben werden darf oder nicht – mit kleinen Anpassung des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Weder reine Milch wird hinsichtlich ihres Fettgehalts, noch Säfte hinsichtlich ihres Glukosegehalts geschasst – der Fruchttiger ist also noch mal mit einem blauen Tigerauge davongekommen.
In einer Vorabveröffentlichung hat das Forschungsteam das WHO-NPM auf den deutschen Markt hinsichtlich Machbarkeit und Auswirkungen angewendet. Dazu wurden per Zufall 660 Lebensmittel und Getränke aus 22 Kategorien ermittelt. "Wir berechneten den Anteil der Produkte, die auf der Grundlage der Nährstoff- und Inhaltsstoffkriterien des WHO-NPM für die Vermarktung an Kinder zugelassen sind", schreibt das Team in seiner Veröffentlichung, "sowohl unter den derzeitigen Marktbedingungen als auch für verschiedene hypothetische Reformulierungsszenarien."
Den Forschenden ging es also nicht nur darum, zu ermitteln, welche Produkte künftig aus der Werbung verschwinden müssen. Sondern auch, was so ein Verbot für die Produkte künftig heißen könnte. Das Team fand heraus, dass nach dem WHO-Modell zwanzig Prozent der untersuchten Produkte für eine Vermarktung in Gegenwart von Kindern zulässig wären. Berücksichtigt man die geplanten Anpassungen des Ernährungsministeriums hinsichtlich Milch und Fruchtsäften, sind es bereits 38 Prozent der Produkte.
Hersteller: Rezeptur ändern statt Mimimi
Statt ein kollektives Klagelied anzustimmen, könnten die Hersteller bei den einer ausgewogenen Ernährung eher weniger zuträglichen Produkten natürlich auch an der Rezepturschraube drehen. Die Fachleute aus München haben das mal simuliert: "Mit einer gezielten Neuformulierung (unter der Annahme einer dreißigprozentigen Reduzierung von Fett, Zucker, Natrium und/oder Energie) erhöhte sich der Anteil der Produkte, die für die Vermarktung an Kinder zugelassen sind, in mehreren Produktkategorien (einschließlich Brot, verarbeitetes Fleisch, Joghurt und Sahne, Fertiggerichte und pflanzliche Lebensmittel) erheblich." Erheblich heißt: Ein Anstieg um mindestens fünfzig Prozent.
Sagen wir es mal so: Gesündere Rezepturen wären auch für Erwachsene nicht gerade das Schlechteste, was passieren könnte. "Natürlich lässt sich über jeden Grenzwert und jedes konkrete Modell trefflich streiten", gesteht Oliver Huizinga, Co-Autor der Studie und politischer Geschäftsführer der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG). "Doch unsere Auswertung einer großen Zufallsstichprobe zeigt: Die geplanten Grenzwerte sind praxistauglich und keinesfalls weltfremd." Trotzdem räumt das Team praktische Herausforderungen ein. Dazu gehören die Ermittlung des Transfettsäurengehalts bei Produkten und die Klassifizierung von Lebensmitteln, die keine Deklaration haben müssen – also frisches Fleisch zum Beispiel.
Der Markt orientiert sich schon mal um (vielleicht)
"Die Aussagen der Werbeindustrie sind angesichts der Studienergebnisse nicht haltbar. Die geplanten Regelungen hätten keinesfalls ein Totalwerbeverbot für Lebensmittel zur Folge. Werbung für Gesundes wäre weiterhin uneingeschränkt erlaubt und Werbung für Ungesundes würde wirksam eingedämmt", sagt Barbara Bitzer, die Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und Sprecherin der Deutschen Allianz nichtübertragbarer Krankheiten (DANK). Vom Ernährungsministerium fordert sie, an den Plänen festzuhalten und von der regierenden FDP, sie möge sich nicht vor den Karren der Werbewirtschaft spannen lassen.
Zumindest aber scheint die geplante Richtlinie bereits ihre Schatten vorauszuwerfen. Oder vielleicht ist es nur vorauseilender Gehorsam, mit dem Kinderlebensmittelmarken versuchen, sich ihren Platz am Markt zu sichern – auch ohne Werbung. Der einst kritisch beäugte Fruchttiger wirbt grammatikalisch sicher mit "super nicht süß" und zeigt sich bereits seit über einem Jahrzehnt als Mischung aus Fruchtsaft und Wasser im Verhältnis sechzig zu vierzig, ohne weitere Zusätze. Vorausgegangen war damals eine Kampagne von "Foodwatch" gegen das in der Werbung als "gesunder Durstlöscher" positionierte Getränk. Nach wie vor wirbt der Hersteller aber damit, dass Kinder viel trinken müssen – ohne darauf zu verweisen, dass dies für Wasser und ungesüßten Tee gilt, aber nicht für Fruchtsäfte.
Neue Werbewege scheint man indes beim berühmten Plastikspielzeug in Schokoei-Hülle zu gehen: Wer den goldenen Froschkönig in seinem Naschwerk findet, erhält – ganz zeitgemäß – einen SUV samt Wohnwagen, Zitat: "Zuhause ist da, wo die Familie ist". Das klingt eher nach heiler Vorstadtidylle statt einer Werbewelt in Bällebad-Ästhetik. Es ist zumindest nicht davon auszugehen, dass Kinder die Zielgruppe der Werbeaktion sind. Die schwesterlichen Schokoriegel des Herstellers üben indes (zurückhaltend), mit Werbesprüchen neue Zielgruppen zu erreichen. "Die Schokolade der Kindheit" ist beim derzeitigen Retro-Blick der Werbebranche nur folgerichtig und erinnert an die Positionierung von Spielwarenherstellern, die gern auch Erwachsene erreichen möchten. Für das neue Gesetz werden diese Bestrebungen aber nicht mal im Ansatz reichen.
Auch passive Werbung in Kritik
Insgesamt scheint sich das Bewusstsein zu regen, dass es eine gute Idee ist, die Jüngsten vor eher ungünstigen Werbebotschaften zu schützen, auch passiv: Erst kürzlich monierte ein Forschungsteam die Art und Weise, wie weltweit Muttermilchersatz (Formula) vermarktet wird, bis hin zu Versprechungen, die Eltern suggerieren sollen, der gefütterte Zögling würde durch das Nahrungsergänzungsmittel zum Wunderkind. Da kann man fast schon froh sein, dass Ronald McDonald vom Mutterkonzern freiwillig in Frührente geschickt wurde. Und der anthromorphe Kühlregal-Pinguin seinen Job an ein realistisch animiertes Tier weiterreichen musste. Aber Moment … finden Kinder watschelnde Pinguine nicht unfassbar süß?
Links/Studien
Die Studie Application of the WHO Nutrient Profile Model to products on the German market: Implications for proposed new food marketing legislation in Germany erschien auf dem Preprint-Server medRxviv.
DOI: doi.org/10.1101/2023.04.24.23288785
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Hauptsache Gesund | 27. April 2023 | 21:00 Uhr
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