Interview Wissenschaft, Kommunikation und Corona – Forschende müssen sich der Debatte stellen
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05. Mai 2021, 10:50 Uhr
Wie objektiv ist Wissenschaft, wie frei ist sie in Corona-Zeiten? Wie hat sich das Nachdenken über Wissenschaftskommunikation verändert? Was müssen Wissenschaft, Politik und Journalismus überdenken? Dr. Annette Leßmöllmann, Professorin für Wissenschaftskommunikation am Karlsruher Institut für Technologie, hat im Gespräch mit MDR KULTUR Moderatorin Ellen Schweda Antworten darauf.
Wie ordnen Sie ein, was wir in den vergangenen Wochen erlebt haben?
Ich denke, was wir insbesondere in den letzten Wochen erlebt haben, war vor allem eine Problematik auf der politischen Seite. Ich denke, dass man gegen so ein Auf-und Ab und Hin-und Her in den politischen Entscheidungen nur schwer ankommunizieren kann. Wir haben in den Monaten davor und zu Beginn der Pandemie unterschiedliche Phasen erlebt. Es gab einige Phasen, wo man sagen kann, es ist gut kommuniziert worden. Es gab einige, wo man den Eindruck hatte, die Politik verlässt sich zu sehr auf die Forschung.
Haben Sie ein Beispiel für diese Phasen?
Zum Beispiel vor genau einem Jahr war es eben so, dass versucht wurde, mit genau einer Studie eine politische Entscheidung, sagen wir mal, zu vereinfachen. Das war die Gangelt-Studie von Hendrik Streeck. Und Herr Laschet, der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, hat gesagt: "Diese Studie begründet jetzt die Lockerung des Lockdowns." Solche Sachen sind schwierig, weil das einfach nur eine Studie war, zu der aus der Wissenschaft direkt Kritik kam. Und dann hat sich mit der Zeit herausgestellt, dass es einfach sehr verschiedene Umgangsweisen mit Forschung gab. Die einen Ministerpräsidenten machten es so, die anderen so. Es wurde natürlich viel gelernt, das war eine ziemliche Lernkurve. Inzwischen ist klar, die Politik muss ihre Entscheidungen selbst treffen und im Zweifel überlegen, wie sie die Wissenschaft anfragt.
Prof. Dr. Annette Leßmöllmann ist Sprachwissenschaftlerin und Linguistin, hat Geschichte und Philosophie studiert. Seit 2013 ist sie am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), heute Prodekanin der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften und Studiendekanin Wissenschaft – Medien – Kommunikation. Sie hat jahrelange Erfahrungen als freie Wissenschaftsjournalistin in der Praxis, Lehre und Forschung.
Sie sprechen von einer ziemlichen Lernkurve. Auch vor Corona wurde gefordert, dass wir eine bessere Wissenschaftskommunikation brauchen. Stark in den Fokus rückte das mit Donald Trump und seinen "alternativen Fakten". Wie hat sich das Nachdenken über Wissenschaftskommunikation seit dieser Zeit auch durch Corona verändert?
Ich denke, dass insbesondere auch diese "Marches for Science" etwas verändert haben. Da gab es eine ziemliche Debatte: Sollen Forscher auf die Straße gehen und für sich einstehen? Oder sollen sie sich aus dem politischen Geschäft heraushalten? Sollen Forschende für ihre Sache Aktivistinnen und Aktivisten sein? Legitimiert sie das, oder delegitimiert sie das? Ich denke, es ist klargeworden, dass man sich zum Teil in irgendeiner Form einfach einsetzen muss. Man muss nicht gleich demonstrieren, sondern, dass man zeigt, wofür man als Forschender steht. Die Forschung wird sich auch in den Forschungsinstitutionen bewusst, dass sie sich in der Gesellschaft zur Debatte stellen muss.
Sehen Sie diese Notwendigkeit auch jetzt?
Das wird uns bleiben. Wir leben in einer sehr verwissenschaftlichten Welt. Und die großen Herausforderungen – Stichwort Klima-Thema, Wasserknappheit, Dinge wie Agrar, Essen, Mobilität, KI – das sind alles sehr forschungsnahe Themen in der Mitte der Gesellschaft. Algorithmen verändern die Art, wie wir kommunizieren. Das betrifft jeden von uns. Da hat die Wissenschaft etwas zu sagen, sie kann sich nicht zurückziehen und sagen: 'Ist mir egal'.
Welche Rolle wächst der Wissenschaftskommunikation und der Wissenschaft in so einer Krisensituation zu? Was bedeutet da Verantwortung?
In Krisen hat man es ja nicht mehr mit einer "normalen Wissenschaftskommunikation" zu tun, sondern mit einer Krisensituation. Da ist der Druck viel größer auf die Wissenschaft, Wissen bereitzustellen, das als Handlungsgrundlage dient, oder zu beraten oder auch zu helfen. Sie ist dann in diesem vermaledeiten Dilemma, gerade bei Corona war das so vor einem Jahr ganz besonders stark, es kommen ständig neue Studien und aus diesen Studien muss man quasi täglich herausfiltern, was mache ich jetzt damit in Bezug auf das Handeln. Da geht es nicht locker um Grundlagenforschung und mal sagen: 'Oh, wir haben hier diese Erkenntnis'. Es geht um Politik und die Menschen wollen wissen, ob sie ihre Kinder in die Schule schicken können oder nicht. Das ist ein sehr, sehr hoher Druck. Das ist ein Effekt von so einer Krise.
Was halten Sie davon, wenn bestimmte Figuren zu Medienstars werden, die dann sehr viel Legitimität für sich verbuchen und sich einerseits im Diskurs durchsetzen, aber auf der anderen Seite auch Figuren sind, die polarisieren?
Das ist eine ganz schwierige Entwicklung. Man muss sich natürlich immer fragen, wie stark und wie gut ist das durch die Forschung dann auch abgedeckt. Es gibt kein Gremium, das entscheidet, den oder die schicken wir auf den heißen Stuhl in die Talkshows. Das ist häufig auch eine individuelle Entscheidung. Das kann gut laufen. Aber es kann auch passieren, dass dann dort Leute sitzen, die vielleicht eher polarisieren, als dass sie einordnen, was da passiert.
Eine gewisse Vernetzung der Forschung über die Disziplinen hinweg – ich denke da an die Schweiz, da gibt es eine "Taskforce Corona" mit siebzig Menschen aus verschiedensten Wissenschaften – vielleicht wären solche Vernetzungen eine bessere Lösung.
Alexander Kekulé, selbst Virologie und Medienstar, spricht von zwei kritischen Punkten: Zum einen zu viele einzelne Figuren mit zu großem individuellem Einfluss auf das Geschehen. Zum anderen habe die Kommunikation zwischen Politik und Wissenschaft zu oft hinter verschlossenen Türen stattgefunden in direktem Kontakt zwischen Wissenschaftlern und Politikern. Die Öffentlichkeit hätte eine größere Rolle spielen müssen. Nicht nur, wenn die Ergebnisse präsentiert werden, sondern auch in der Wissensfindung. Wie sehen Sie das?
Also zu Punkt eins würde ich sagen, müsste er sich auch an die eigene Nase fassen, denn er hat sich auch als eine Figur inszeniert. Da müsste man fragen, ob das nicht etwas ist, das er auch sich selber sagen müsste. Und im zweiten Punkt gebe ich ihm absolut recht. Ich gucke da wieder in die Schweiz, weil ich mir dieses Beispiel genauer angeschaut habe. So eine Taskforce, die eine Kommunikationsperson hat, die dafür sorgt, dass die einzelnen kommunikativen Schritte transparent nicht nur auf der Webseite dargestellt werden, sondern auch in die sozialen Medien gespielt werden. Alle Sitzungsunterlagen sind öffentlich einsehbar. Das ist glaube ich eine Transparenz, da können wir in Deutschland noch lernen.
Ist diese große Öffentlichkeit, die Wissenschaft in den letzten Wochen und Monaten erfahren hat, eigentlich gut für die Wissenschaft?
Das ist ein Thema, das in der Wissenschaft durchaus kontrovers diskutiert wird. Es gibt die Fraktion von Forschenden, die sagen, das sei so wissenschaftsfern, das wird uns schaden, wenn wir in die Öffentlichkeit gehen. Das ist keine sehr große Fraktion, aber es gibt sie, weil in der Wissenschaft einfach andere Ziele gesetzt werden. Es geht um, grob gesagt, wahr und falsch. In der Öffentlichkeit geht es viel um Emotionalität, um Werte oder auch Orientierung. Also um etwas, das die Wissenschaft gar nicht als ihre Kernaufgabe ansieht. Wenn wir aber an so etwas wie Corona denken, brauchen wir die wissenschaftliche Expertise. Dann ist es für die Forschenden ein Schritt, an die Öffentlichkeit zu gehen. Und sie muss sich dann leider auch den Dingen, oder vielleicht ist es ja auch eine Herausforderung, die positiv zu sehen ist, aussetzen, die die Menschen umtreibt.
Für den Transport von Wissenschaft in die Öffentlichkeit sind die Medien wichtig. Welche Verantwortung tragen die in Sachen Genauigkeit und Objektivität?
Eine riesige Verantwortung, was auch eine große Herausforderung ist. Dazu muss man sich zum einen mit Wissenschaft intensiver auseinandersetzen. Man muss wissen, ob alles, wo "Studie" draufsteht, auch etwas ist, worüber man berichten kann. Es gibt ausgesprochen schlechte Studien, über die sollte man lieber nicht berichten oder nur kritisch. Das heißt, wenn es um Wissenschaft geht, darf man überhaupt nicht blauäugig sein. Deswegen ist das schwierig, anstrengend und eine große Herausforderung.
Gleichzeit haben die Medien, der Journalismus auch noch die Rolle des Expertenbeobachters der Wissenschaft, der nicht alles einfach übernimmt, was aus der Wissenschaft kommt. Sondern auch mal kritisch rückfragen, Anwalt der Hörenden und Lesenden sein und fragen: Ist das, was Ihr hier liefert, eigentlich das Relevante für uns?
Wissen, von dem wir noch gar nicht wissen, wie sicher es ist, ein hochkomplexer Transportprozess von der Wissenschaft, die mit Wissen wissenschaftlich umgeht, über die Medien, die Wissen hinterfragen und der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Und dann die Öffentlichkeit, in der Emotionen oft hochkochen. Wo sind die größten Herausforderungen, was sind die größten Probleme, was müssen wir an den verschiedenen Stellen lernen, damit das besser gelingt?
Das Problem ist Ihre Transportmetapher. Das kann man zwar so sehen, aber damit handelt man sich eine Menge Probleme ein. Denn dieses Wissenspaket verändert sich immens, sobald es die Wissenschaft verlässt. Sie als Journalistin stellen bestimmte Fragen, die ein Wissenschaftler, eine Wissenschaftlerin vielleicht gar nicht fragen würde. Sie bereiten die Sachen anders auf. Sie haben Aktualitätszwänge, Sie haben bestimmte Ressortgrenzen. Sie müssen bestimmte Erwartungen des Publikums erfüllen. Das sind alles Dinge, die haben mit der Wissenschaft gar nichts zu tun. Das heißt, dieses Wissenspaket verändert sich immens, sobald es in den Journalismus kommt. Da dann trotzdem genau, möglichst objektiv und präzise zu sein, und die Forschung nicht irgendwie zu "vergewaltigen", das ist die ganz große Herausforderung. Und kritisch wollen Sie ja auch noch sein. Ich habe einen großen Respekt vor Ihrem Job.
Die Medien sind also nicht Transporteur, sondern Weiterverarbeiter einer Rohware. Und was ist dann die Öffentlichkeit?
DIE Öffentlichkeit gibt es ja nicht. Es gibt ganz viele Teilpublika und ganz viele, teilweise, bis auf das Individuelle hinunter, unterschiedliche Herangehensweisen an Medien. Die Fragen, die man hat, die Einstellungen und Fragen, die man zur Wissenschaft hat, formen das, was man mit den Radiosendungen oder Youtube-Videos macht, die man rezipiert. Wenn am Frühstückstisch zum Beispiel über Forschung geredet wird, die sogenannte Anschlusskommunikation, nachdem man etwas zu einem wissenschaftlichen Thema gehört hat, als Forschender, dann kriegt man unheimlich gut mit, was die Leute damit machen, was in der Wissenschaft und in den Medien passiert. Da spielen ganz andere Dinge eine Rolle bis hin zur Dynamik in der Familie. Und das muss man sich einfach klar machen. Da ist Ihr Wissenspaket dann ziemlich ausgepackt und umgeformt und nochmal neu eingepackt worden.
Eine letzte Frage zum "Rücktransport". Was nehmen Sie aus diesen wilden Monaten als Forscherin der Wissenschaftskommunikation mit?
Es ist noch deutlicher geworden, dass Wissenschaftskommunikation nie nur vom Sender her gedacht werden darf. Erstmal sollte man sich überlegen, mit wem will ich reden, wen will ich konkret erreichen? Forschende, die sagen: 'Ich will die Öffentlichkeit informieren', haben schon verloren, weil es diese Öffentlichkeit nicht gibt. Das ist keine Zielgruppe, so kann man keine Kommunikation aufbauen. Da muss man sich erstmal überlegen: Wen erreiche ich und wen erreiche ich nicht? Es gibt viele Leute, die sind fern der Wissenschaft, haben sich gegen sie gewendet oder abgekehrt. Oder sie sind gegen die Medien. Für uns Forschende ist wichtig herauszufinden, wie kommt es dazu, dass Leute sich so entscheiden und positionieren. Oder was ist mit denen, die einfach uninteressiert sind? Das ist eine ganz interessante Zielgruppe. Die haben manchmal sehr wichtige Dinge zu sagen und da gehen einem manchmal Kronleuchter auf: Dass viele Selbstverständlichkeiten, die man als Journalist oder Journalistin oder als Wissenschaftlerin und Wissenschaftler hat, für viele Menschen gar nicht selbstverständlich sind. Das ist ein Thema, das wir unbedingt noch mehr beachten müssen, diese nicht erreichten Zielgruppen.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | Spezial | 30. April 2021 | 18:00 Uhr