Teasergrafik Altpapier vom 26. Januar 2021: Porträt Autor Christian Bartels
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Das Altpapier am 26. Januar 2021 Es gibt keine Screenshots des gesprochenen Worts

26. Januar 2021, 11:04 Uhr

Liegt in der Flüchtigkeit eine Chance? Jedenfalls hat Deutschland eine hochwertige Clubhouse-Diskussion, Bodo "Early Adopter" Ramelow sei Dank. Telegram hat eine halbe Milliarde Nutzer. Außerdem: Eine besonders grundsätzliche Öffentlich-Rechtlichen-Kritik ("Verrat am Kulturauftrag")... Ein Altpapier von Christian Bartels.

Vielstimmige Clubhouse-Debatte dank & mit Ramelow

Online und digital wird alles immer noch schneller. Das gilt für die Etablierung neuer Apps/Plattformen/Netzwerke (zwischen denen einst bestehende Grenzen ja auch rasch verschwimmen) wie für gründliche Diskussionen über sie. Tatsächlich läuft in Deutschland, dank des erfolgreichen Ministerpräsidenten und Candy Crush-ers Bodo Ramelow (Altpapier gestern), bereits eine hochwertige und vielstimmige Diskussuion über "Clubhouse".

Knaller-Zitate kommen nicht zuletzt von Bodo Ramelow selbst, der ja auch in traditonellen, noch öffentlicheren Räumen nicht mit Äußerungen geizt. Der SZ (Medienseite) gegenüber schöpfte er den schönen Begriff "Ramelow-Maßstab", der künftig als Muster für Politiker bei Clubhouse gelten könne. Madsacks RND zitiert ihn so:

"Die Betreiber müssen erst mal begreifen, welchen Hype sie da in Deutschland ausgelöst haben, und ihre Konsequenzen daraus ziehen ... Wenn ich da meinen Regierungssprecher mitbringen muss, dann ist Clubhouse für Politiker tabu."

Gewiss, sobald die kalifornischen Betreiber der App spitz kriegen, dass die Regierenden in Deutschland ihre App entdeckt haben, werden sie lächeln und vielleicht auch einen Blick in die  Datenschutzgrundverordnung werfen. Spannend wäre, ob diese Hybris Ramelow-exklusiv ist oder in der Ministerpräsidentenkonferenz, die außer für schnell-informelle Lockdown-Verlängerungen dummerweise (bloß ohne Bundeskanzlerin) auch für die meiste Medienpolitik zuständig ist, mehrheitsfähig.

Die SZ bietet Ramelow ganz große Bühne. Auf der Meinungsseite gilt ihm ein Kommentar mit feiner Pointe ("Statt die Twitter-Trends anzuführen, muss Ramelow sein Land aus dem Lockdown führen. Dann könnten vielleicht auch die analogen Clubs wieder öffnen"), und überdies ein großes Feuilleton (€) Andrian Kreyes. Das enthält neben Na-ja-Bonmots ("Erweiterung der Krampfzone") und einem Blick in die USA, wo Clubhouse "längst schon in den Empörungs- und Hassstrudeln angekommen" sei, auch die praktische Definition: "Je nach Alterskohorte kann man Clubhouse entweder als Twitter mit Ton beschreiben, nur dass nicht alle mitmachen dürfen. Oder als 'Anne Will' ohne Bild."

Chancen und Risiken der App umreißen vielleicht am klarsten Autorinnen in weiteren Blättern. Auf der FAZ-Medienseite schreibt Andrea Diener:

"Clubhouse ist nun auch flüchtig. ... Zitate kann nicht einmal derjenige überprüfen, der sie selbst getätigt hat. ... Aber wie kann Journalismus künftig mit Clubhouse umgehen, und wie geht Clubhouse mit dem Journalismus um? Und zwar möglichst so, dass die Unmittelbarkeit der App nicht vollkommen verloren geht und am Ende doch wieder alle dasselbe reden wie jeden Abend in den Talkshows oder bei Pressekonferenzen?"

Nun, gerade in der Flüchtigkeit liege auch eine Chance, entgegnet Ann-Kathrin Hipp im Tagesspiegel, denn

"Irgendwo zwischen Twitter, Facebook, Instagram und Co. hat ein nicht zu unterschätzender Teil der Menschen angefangen, viel übereinander und in eigener Sache zu kommunizieren und überwiegend schriftlich zu streiten. Die Kommentarspalten der Plattformen sind zu den Orten geworden, in denen Politisches auf mitunter 280 Zeichen oder SMS-Kürze diskutiert und kritisiert wird. Wer die beste Punchline und die meisten Likes hat, gewinnt. Wer pöbeln will, zieht anonym ins Netz. Echte Dialoge entstehen eher selten."

Und "die Hemmschwelle, von Ohr zu Ohr rumzuhassen, scheint im akustischen Raum größer, als auf der Tastatur". Einstweilen gibt es noch keine Screenshots des gesprochenen Worts. Ist das eher gut oder eher schlecht?

Es ist Vergangenheit, die Chancen wurden vertrieben und haben sich verflüchtigt, meint ungefähr melancholisch "einer der Organisatoren und Moderatoren der beschriebenen Clubhouse-Runde", den faz.net für einen (schriftlichen) Beitrag gewonnen hat. Es ist also eine wirklich vielstimmige Diskussion. Und ein positiver Spin könnte so gehen: Für Medienkompetenz, die Medien-interessierte Politikerinnen und Politiker immer als erstes (aber theoretisch) im Munde führen, wenn sie was über Medien sagen wollen oder sollen, hat Bodo Ramelow performativ und praktisch schon jetzt mehr getan als all seine amtierenden Kolleginnen und Kollegen in den letzten Jahren gemeinsam.

Mehr Deplatforming; halbe Milliarde Telegram-Nutzer

Megatrend in ziemlich vielen Netzwerken, indirekt ausgelöst von Donald Trump: Deplatforming bzw. "digitales Hausverbot", wie es der Spiegel-Netzwelt-Newsletter nennt. Dort zeigte sich Patrick Beuth, weil auf die Meldung, dass nun auch Youtube nun auch Ken Jebsen deplatformt hat, außer Beschimpfungen auch die nüchterne Zuschrift "Stört mich nicht, folgen kann man ihm bei Telegram" eingang. Und weil sich im deutschsprachigen Bereich viele anderswo so oder so gesperrte Zeitgenossen auf dieser App/ Plattform finden, fragt Beuth "Was bringt das digitale Hausverbot?" bzw. stellt unterschiedliche Untersuchungen und Ansichten zusammen.

"Der Rückzug auf Alternativplattformen kann die Löschung aus dem digitalen Mainstream nicht ausgleichen", meint etwas das Jenaer Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft. "Die Betroffenen könnten sich weiter radikalisieren, wenn die Ausweichplattformen weniger streng moderieren und Gegenrede durch Andersdenkende fehlt", haben dagegen englischsprachige Studien festgestellt, die Beuth ebenfalls zitiert. Ob Jebsens Reichweite sich nun "um mindestens einige Hunderttausend Abonnenten verringert" oder Youtube-Rauswurf ihm "kurzfristig noch mehr Aufmerksamkeit verschafft" hat, lautet die aktuelle Frage. Derzeit profitiert jedenfalls Telegram, so wie Wettbewerber wie Signal und Threema, von der leicht bröckelnden Super-Dominanz Facebooks nach der Ankündigung, die Datenmassen seiner Tochter Whatsapp mit der eigenen (wortbrüchig) zusammenzuführen. Das berichtet Michael Kroker auf blog.wiwo.de:

"Telegram verzeichnete Mitte Januar innerhalb von 72 Stunden rund 25 Millionen neue Nutzer und knackte die Marke von 500 Millionen Usern."

Jetzt aber ins Öffentlich-Rechtliche!

 "Verrat am Kulturauftrag"? Scharfe ÖR-Kritik

Der umtriebige, auch in Clubhouse-Zusammenhängen gern (u.a. wegen des schön lebhaften Gesprächs mit dem gestern hier erwähnten WamS-Chefredakteur Johannes Boie im RBB-"Medienmagazin" u.a. darüber) erwähnte Daniel Bouhs hat für uebermedien.de rekapituliert, wie ARD und ZDF ihre Berichterstattungen in "der Live-Nacht von Washington", also als am 6. Januar das Capitol gestürmt wurde (Altpapier), inzwischen sehen, und hat mit Hauptstadtstudio-Führungspersonal drüber gesprochen. "ZDF zufrieden, ARD zerknirscht", lautet die in der Überschrift enthaltene Zusammenfassung. Dennoch bzw. deshalb gebe es weder Pläne für eine Neuorientierung der Spartensender noch für eine Kooperation zwischen ARD und ZDF:

"Wenn zwei Korrespondentinnen oder Korrespondenten die Lage beschreiben, haben wir im besten Fall das umfassendere Bild, als wenn wir sagen, bei 'Breaking News' bemüht sich nur die ARD oder nur das ZDF",

zititert Bouhs Schausten. Wobei interessant ist, dass Schausten und der sich ebenfalls äußernde ARD-Kollege Rainald Becker in Peer Schaders gestern hier erwähnter dwdl.de-Kolumne ausgiebig dafür kritisiert wurden, dass sie oft auf "fast exakt dieselben Fragen fast exakt dieselben Antworten erhalten" und in der Berichterstattung für "publizistische Vielfalt" gerade nicht stehen ...

Die grundsätzlichste Öffentlich-Rechtlichen-Kritik seit längerem kümmert sich um solche Redundanzen jedoch nicht. Sie nimmt die laufend weitergehenden Einsparungen im (einst) kulturell orientierten Radio zum Anlass (vgl. zuletzt dieses Altpapier), die aktuell die vom derzeitigen ARD-Vorsitzenden Tom Buhrow geleitete Anstalt, nämlich "vier Literatursendungen und -rubriken" im Programm WDR 3 beträfen, steht im SZ-Feuilleton und trägt online (€) die Überschrift "Verrat am Kulturauftrag".

Felix Stephan wirft den Anstalten unter vielem anderem "narzisstische Öffentlichkeitsverachtung" vor und spricht dabei z.B. das Rechtsaußen-Problem der Gesellschaft an ("Die Rechten drängen in den kulturellen Raum, wo immer sie können", und "unterbreiten den freien Kritikern, die von den öffentlich-rechtlichen Medien stempeln geschickt werden, Angebote"), das Renten-Problem der Öffentlich-Rechtlichen ("Mehr als eine halbe Milliarde Euro zahlt der öffentlich-rechtliche Rundfunk allein für Renten, während junge Kritiker beim Radio heute kaum mehr ernsthafte Honorare erhalten") und beschreibt das als Generationen-Problem:

"Der Brexit wurde von deutschen Journalisten oft erzählt als Sabotage einer älteren Generation, die sich an den Jungen vergeht, als Rache der Todgeweihten an der Jugend. Strukturell gesehen aber verhält es sich mit dem Gehaltsgefüge des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland nicht grundlegend anders. Der Unterschied ist: Es ist kein einzelnes Ereignis, sondern eine fest installierte, sich selbst aufrechterhaltende und erneuernde Struktur, die permanent dafür Sorge trägt, dass immer mehr junge Frauen und Männer, die über Bücher nachdenken, schreiben und sprechen wollen, gezwungen sind, sich nach Alternativen umzuschauen. Es gibt keine Anlässe mehr für empörte Augenaufschläge in 'Tagesthemen'-Kommentaren und große moralische Töne, wenn man derartig durchtrieben nach innen fuhrwerkt."

Der Text verdient, gelesen zu werden. Die Bezahlschranke (bei Blendle kostet er 79 Cent) sollte kein Hindernis sein, schon weil privatwirtschaftlicher Journalismus eben nicht aus dem Rundfunkbeitrag finanziert wird.

Geht der gute alte Stern unter?

Rasch vorm Korb noch weiter ins Presse-Milieu. "Es war einmal eine große deutsche Zeitschrift", so begann vorige Woche Brigitte Baetz in Deutschlandfunks "@mediasres" das Gespräch mit Journalistik-Professor Frank Lobigs. Es ging um geplante Umstrukturierungen beim Stern, der daher kürzlich auch mal wieder hier im Altpapier vorkam. Der auf Medienökonomie spezialisierte Professor sieht bereits voraus, dass Gruner+Jahr bzw. sein Mutterkonzern Bertelsmann "parallel zur Marktschrumpfung" weitere "zentrale Themenredaktionen" zusammenlegen werden.

Nun gibt es neue neue schlechte Nachrichten aus derselben Ecke, die wiederum meedia.de als erster hat: Beim Stern soll auch die "Pressedatenbank, die seit Jahren für Journalisten wichtigste Recherchequelle, zum Jahresende geschlossen werden", der Betriebsrat sieht in all dem "die härteste, einschneidendste und für die Redakteursschaft schlimmste" "Zäsur in der mehr als 70jährigen Historie des Stern", und es "könnte ... wohl zum Streik in der Redaktion kommen".

Zufällig taucht der Name der traditionsreichen Zeitschrift aktuell noch in völlig anderem Zusammenhang auf. Tatjana Kerschbaumer hat für den Tagesspiegel, offenbar ohne konkreten Sendungs-Anlass, den bei ProSieben aktiven, zuvor bei RTL gewesenen  Reporter Thilo Mischke ( "Rechts. Deutsch. Radikal.", siehe Altpapier) interviewt und gefragt: "Wollen Sie nicht für die Öffentlich-Rechtlichen arbeiten?" Antwort:

"In meiner gesamten Karriere als Journalist gab es nur eine einzige Sache, die ich wollte. Ich wollte mal zum 'Stern'. Ich wollte wirklich gerne für dieses Reportagemagazin arbeiten, was ich dann auch drei Jahre gemacht habe. Aber es gab in meiner Karriere keinen Punkt, an dem ich gesagt habe: Ich möchte zu den Öffentlich-Rechtlichen."

Das lesenswerte Interview enthält dann noch die eine oder andere ebenfalls scharf ÖR-kritische Aussage, bevor es in die eher auf die gesamte Menschheit bezogene Prophezeiung "Wir werden, glaube ich, an unserer eigenen Dummheit vergehen. Weil wir nur uns selbst sehen" mündet.

Klingt nicht, als ob es hülfe, sich bei Clubhouse bloß nicht zu sehen. An Pathos herrscht in den Was-mit-Medien-Diskussionen des noch jungen Jahres also kein Mangel.


Altpapierkorb (UrhDaG, Pop-up-Kultursender, "datenschutzrechtlicher Nonsens", Rainer Haseloff, Favicons, Afghanistan)

+++ Ein neues Akronym für Was-mit-Internet-Debatten lautet "UrhDaG" und steht für "Urheberrechts-Diensteanbieter-Gesetz". Auf der FAZ-Medienseite (Blendle) sieht Michael Hanfeld in der neuesten Version der deutschen Umsetzung der EU-Urheberrechtsrichtlinie, an der zahlreiche Bundesministerien mitwirken, "für Urheber und Verlage durchaus Erfreuliches". +++ Von der zentralistisch-unbürokratischen Einrichtung eines linearen Pop-up-Kultur-Fernsehsenders in Frankreich, um die unterm Lockdown leidende Kulturszene zu unterstützen, berichtet ebd. (ebenfalls Blendle) Jürg Altwegg.

+++ Nach Ansicht vieler unterschiedlicher Experten bemerkenswert schlecht formuliert ist die neue Fassung des von Bundespräsident Steinmeier gestoppten Gesetzentwurfs zur "Bekämpfung von Rechtsextremismus und Hasskriminalität" der Groko-Bundesregierung. Von einer "Komplexitätsfalle" und "datenschutzrechtlichem Nonsens" sei in der Anhörung die Rede gewesen, berichtet heise.de.

+++ "Was zwischen der New York Times und der Journalistin Lauren Wolfe vorgefallen ist, das wissen nur Wolfe und die Mitarbeiter dieser Zeitung", also nicht der Süddeutschen, die über die spektakuläre Trennung berichtet, sondern die NYT.

+++ "Man könnte also Herrn Haseloff einfach mal eine Empfehlungsliste aus den Mediatheken zukommen lassen", verteidigt bei epd medien Ulrike Steglich die Öffentlich-Rechtlichen gegen Sachsen-Anhalts MP.

+++ Favicons sind die neuen Cookies ("werden zum Spionieren genutzt"), und gegen sie helfen auch keine Consentkästchen (WDR-Digitalistan).

+++ Und an den ermordeten afghanischen Journalisten Elyas Dayee, für dessen Arbeit "den Ruhm ... meist die privilegierten westlichen Kollegen" ernteten, erinnert Emran Feroz in der taz.

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.

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