Teasergrafik Altpapier vom 10. November 2021: Porträt Autor Christian Bartels
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Das Altpapier am 10. November 2021 Die nicht immer leichte Abwägung

10. November 2021, 10:47 Uhr

Jetzt spricht Mathias Döpfner, auf englisch über "employee relationships" bei Springer, auf deutsch über des Konzerns "Vorreiter"-Rolle bei "Respekt, Angstfreiheit, Diversität". Außerdem: ein Ruck-Feuilleton zur Corona-Lage, eine weitere (ziemlich traditionsreiche) Medienzeitschrift weniger... Ein Altpapier von Christian Bartels.

Döpfner zur Springer-Lage

Wie schrieb Bettina Gaus in ihrer letzten Spiegel-Kolumne im Zusammenhang der (ja besonders von der New York Times vorangetriebenen) Springer/Reichelt-Enthüllungen?

"Wäre es wünschenswert, wenn sich Moralvorstellungen wie in den USA auch in Deutschland durchsetzten? Darüber lässt sich sicher streiten. Aber ich wäre nicht begeistert."

Offenbar setzen sich Moralvorstellungen wie in den USA nun auch bei Springer durch. "Der Medienkonzern Axel Springer will seine Angestellten dazu verpflichten, sexuelle Beziehungen von Führungskräften mit Mitarbeitenden offenzulegen", übersetzt sueddeutsche.de Aussagen des Springer-Chefs Döpfner gegenüber der Financial Times (€). "Wir können keine doppelten Standards akzeptieren ... Wir werden globale Vorgaben einführen, die auf angelsächsischen Regeln basieren", ergänzt spiegel.de, das bei den Springer/Reichelt-Enthüllungen ja auch eine große Rolle spielte.

US-amerikanische Konzerne dominieren in Deutschland inzwischen großen Teilen der Medien-Verbreitungswege erst recht in der Geld-Welt. Das führt offenbar dazu, dass sehr viele US-amerikanische Standards sich durchsetzen.

Als Präsident des deutschen Zeitungsverlegerverbands, der Mathias Döpfner nicht nur ist, sondern trotz allerhand Kritik auch bleiben möchte, gab er außer der britischen FT (die er gerne für seinen Konzern gekauft hätte) aber auch einer großen deutschen Zeitung ein großes Interview. Michael Hanfeld führte es für die FAZ (€). Gegen Ende geht es um dasselbe Thema:

"Schon vor vier Jahren wollten wir, unter dem Eindruck der MeToo-Bewegung in USA auf meine persönliche Initiative hin, eine Regel verabschieden, die Mitarbeiter verpflichtet, Liebesbeziehungen in einer Hierarchie offenzulegen. Aber das wurde von unserem damaligen Betriebsrat vehement abgelehnt. Unsere Arbeitnehmervertreterinnen zögern bis heute, eine solche Regel einzuführen"

Hm, gendert Döpfner da, also meint "Arbeitnehmervertreterinnen" Vertreter der Arbeitnehmerinnen mit? Unklar, wie auch die Frage, ob Döpfner jetzt Betriebsrat-Überzeugungsarbeit leisten will, oder ob so was in den letztlich doch steilen Springer-Hierarchie von oben entschieden werden kann. Vorrangig geht's im FAZ-Interview ohnehin um anderes. Die Überschrift "Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich absolut nicht so denke" bezieht sich auf den in Deutschland größten Aufreger dieser Enthüllungen, also Döpfners private, aber sehr öffentlich gewordene Whatsapp-Nachricht mit einem DDR-BRD-Vergleich. Dazu sagt er:

"Natürlich ist eine private Konversation etwas anderes als eine öffentliche Rede. Aber privat ist eben nicht immer privat. An diesem Punkt beginnt doch erst die nicht immer leichte Abwägung für Journalisten. Wenn es zum Beispiel um strafrechtliche relevante Zusammenhänge geht, dann gilt kein Schutz, weder für Telefongespräche noch für Textnachrichten am Handy. Hinzu kommt: Investigativer Journalismus lebt von Leaks, wenn es um Enthüllungen von Korruption oder Machtmissbrauch geht. Es ist nicht immer so einfach, es ist immer eine Einzelfallentscheidung und wird in den Redaktionen ja auch so diskutiert ..."

Der Argumentations-Bogen geht noch weiter, gleich anschließend zum den viel diskutierten Fall des Solinger Jungen, dessen Geschwister von seiner Mutter getötet wurden und aus dessen Whatsapp-Nachrichten Springers Bild zitierte (aber auch die Süddeutsche, wie Döpfner betont). Döpfner wägt ab, differenziert und verkompliziert (was ja oft deckungsgleich ist). Er äußert sich ziemlich präsidial (dass er BDZV-Präsident bleiben möchte, ist die gleich erste Aussage), aber offensiv dann natürlich auch. Direkt vorm ersten hier zitierten "Schon vor Jahren"-Auszug sagt er etwa:

"Was unsere Kultur des Respekts, der Angstfreiheit, der Diversität und Inklusion betrifft, sind wir nicht Schlusslicht, sondern Vorreiter."

Springers "Kultur des Respekts" – das lädt die sehr zahlreichen Springer- und Bild-Kritiker, die ja stets viel Aufmerksamkeit mobilisieren, natürlich zum Kritisieren (und Aufmerksamkeits-Mobilisieren) ein.

Nochmals zu Bettina Gaus. Wie es dazu kam, dass sie zuletzt für den Spiegel schrieb, also die taz, bei der sie den größten Teil ihres journalistischen Lebens zugebracht hatte, verlassen hatte, kam in den zahlreichen Nachrufen zur Sprache. Es geschah im Zuge der "heftig" eskalierten taz-internen Debatte über den umstrittenen Text "All cops are berufsunfähig", piqte Achim Engelberg für piqd.de aus Jan Fleischhauers Focus-Nachruf auf Gaus heraus: "Diese Verletzung der Menschenwürde empörte Bettina Gaus, die links und bildungsgesättigt war und einen guten moralischen Kompass hatte".

"Aufklärungskampagne" der "Besten" (u.a. zur Corona-Lage)

Ist es die vierte oder doch schon eine weitere Welle der Corona-Diskussionen, die derzeit breiten Raum in vielen Medien einnimmt? Ob der Begriff "Tyrannei", der geschickt in einer Talkshow gesetzt wurde, angemessen ist, war gestern hier Thema. Was Christian Drosten bei der Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis-Verleihung sagte, war es vorige Woche. "Drosten ist überall" heißt heute die FAZ-Überschrift über den Bericht (€) zu Ergebnissen von Studien, die gestern hier ebenfalls Thema waren.

Tagesaktuell verdient eine Art Ruck-Feuilleton des umtriebigen Nils Minkmar in der Süddeutschen (€) Beachtung. Wie es sich für klassisches Feuilleton gehört, schägt es weite Bögen etwa über Frankfurt (das neue Romantik-Museum) und Frankreich (Präsident "Macrons großer Mut, eine politische Entscheidung eben auch gegen Widerstände zu treffen", Louis Pasteur, Michel Foucault ...), bezieht aber auch eindeutig Position gegen "Das tödliche Zaudern des Staates", wie die Online-Überschrift lautet. Unter Medien-Aspekten ist der Ausstieg interessant:

 "Es ist Zeit, die Plattformen und Nischensender à la Russia Today so zu regulieren wie deutsche Medien auch und für eine ambitionierte öffentliche Warn- und Aufklärungskampagne durch die Besten ihrer Branche".

Das ist freilich arg einfach argumentiert. Dass Russia Today weitestgehend übers Internet verbreitet wird, dass im deutschen Internet wenig Regulierung stattfindet (und wenn, dann aus guten Gründen umstritten ist), dass Youtubes Schritte gegen RT-Kanäle durch anonyme internationale Löschteams anhand nicht sehr transparenter Regeln des Google-Konzerns vorgenommen wurden, dürfte Minkmar eigentlich auch wissen. Aber klar, wer Foucault und übrigens auch Sokrates mitnimmt, kann nicht überall detailscharf bleiben. Und eine "Warn- und Aufklärungskampagne" der "Besten" der Medien-Branche? Hm, welche Besten haben sich denn noch nicht geäußert? Vielleicht schließt Minkmar da an seinen Text-Einstieg an:

"Am auffälligsten ist die Abwesenheit: keine Plakate, keine Radiospots und vor den Nachrichtensendungen nur die übliche Werbung für das offenbar unvermeidliche Mittel gegen Blähungen. Jedes Smartphone, jedes Hustenmittel und jedes Tierfutter wird intensiver angepriesen als Impfungen und andere Maßnahmen, die in der Covid-Pandemie Leben retten."

Lange gab es eine Bundesregierungs-Werbekampagne fürs Impfen. Wie gut oder überzeugend sie war, wurde wohl nicht gemessen. Aber zumindest den Eindruck, vor allem Spezis der Regierungsparteien zugute zu kommen (wie in Österreich üblich), machte sie nicht. Das könnte ein pragmatischer Ansatz sein.

Unter der Überschrift "Welche Presse wollen wir in der Pandemie?", plädiert Telepolis-Chefredakteur Harald Neuber in der (konstruktiven) Selbstdarstellungs-Rubrik "Wochenrückschau mit Ausblick" für eine "pluralistische Sicht auf das Geschehen", das er, nicht überraschend, vor allem fürs eigene Angebot konstatiert.

Die medialen Corona-Diskussionen scheinen sich trotz mehr Studien und mehr Appellen weiter in Kreisen zu drehen, die nicht unbedingt größer werden. Überzeugendere Auswege als gewiss "oft moralisch und emotional" (Neuber), dabei aber möglichst vielfältig zu berichten, wurden noch nicht entdeckt.

Eine Medienzeitschrift weniger ...

Kommendes Jahr gibt es noch eine gedruckte Medienzeitschrift weniger:

"Nach knapp 70 Jahren wird die Zeitschrift 'Medienkorrespondenz' (MK) eingestellt", meldet die FAZ auf ihrer Medienseite (€): "Die Medienberichterstattung werde von einem neuen 'Mediendienst' fortgesetzt, einem wöchentlich erscheinenden digitalen Service der KNA", also der Katholische Nachrichten-Agentur, hat die FAZ sich von deren Chefredakteur Ludwig Ring-Eifel sagen lassen. "Der MK-Chefredakteur Dieter Anschlag geht nach fast 30 Dienstjahren den Ruhestand".

Derzeit erscheint die MK noch zweiwöchentlich gedruckt (und bietet diesen Internetauftritt, für den ich ebenfalls eine Kolumne schreibe). Die FAZ erinnert daran, dass 2013 schon mal die Einstellung der Funkkorrespondenz, wie das Blatt damals noch hieß, geplant war. Nach Protesten "zahlreicher Persönlichkeiten aus Politik und Medien" aber (vgl. etwa dieses Altpapier von damals) ließ der Ständige Rat der (katholischen) Deutschen Bischofskonferenz die FK/MK dann aber bestehen.

Auf Seiten der Evangelischen Publizistik ist epd medien sozusagen das Äquivalent zur Medienkorrespondenz. Es erscheint wöchentlich gedruckt bietet einen eher unscheinbaren Internetauftritt (aktuell etwa mit René Martens' anderthalb Wochen altem Springer-Artikel "Das Imperium der Wölfe") und twitterte die Einstellungs-Nachricht als erster. "Die Publikation der 'epd medien' durch den Evangelischen Pressedienst besteht fort", heißt es am Ende der FAZ-Meldung. Wobei die evangelische Kirche ebenfalls im Medienbereich spart, zum Beispiel an der Evangelischen Journalistenschule. Das ist eine weitere aktuelle Was-mit-Medien-Meldung.


Altpapierkorb (Zwickau, Belfort, Wahrnehmung von Kriminalität, "Die Leute wollen Morde hören", "TV total")

+++ Was zur Corona-Lage leider auch gehört: Gewalt, wie kürzlich in Zwickau (AP-Korb gestern mit verlinkten Twitter-Videos). Der MDR "verurteilt" das, nicht überraschend. "Zu der nicht angemeldeten Versammlung hatten nach Angaben des MDR unter anderem die 'Freien Sachsen' aufgerufen. Die Gruppierung wurde vom sächsischen Verfassungsschutz als rechtsextremistische und verfassungsfeindliche Bestrebung eingestuft", berichtet der Tagesspiegel. +++ "Am frühen Nachmittag haben die Demonstranten Lautsprecher bei uns unten vor der Redaktion aufgestellt, es waren so 400 bis 500 Menschen. Irgendwann haben wir heftige Schläge an die Tür der Redaktion gehört. Die Tür hatten wir abgeschlossen, aber wir konnten von innen sehen, wie versucht wurde, sie einzudrücken. Die Demonstranten hatten ein Megafon dabei und haben im Treppenhaus Beleidigungen gebrüllt ...": Da erzählt Philippe Piot, Lokaljournalist im burgundischen Belfort, der SZ (erneut €), wie es in Frankreich zugeht.

+++ Nehmen Gewalttaten generell zu? Das hängt von den Statistiken, die erhoben werden, und ihren Interpretationen ab. "Deutschland ist eines der sichersten Länder der Welt", zitiert netzpolitik.org Bundesinnenminister Seehofer (den es nicht oft zustimmend zitiert), um sich dann zu wundern, dass anderen Erhebungen zufolge rund zwei Drittel der Deutschen an einen Anstieg der Kriminalität glauben: "In Deutschland ist die Wahrnehmung von Kriminalität seit Jahren vollkommen entkoppelt von der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung".

+++ Könnte das mit unseren Öffentlich-Rechtlichen zu tun haben, die ihr Publikum auf immer noch mehr Kanälen mit Krimis unterhalten? Heute bietet das ZDF einen Mordskrimi im Radsport-Milieu (jetzt schon in der Mediathek!, wie dutzende andere Folgen derselben Reihe auch). +++ Und "Die Leute wollen Morde hören" leitet SZ-Radioexperte Stefan Fischer seinen Artikel "zum Boom der Krimihörspiele bei ARD und DRadio" ein. Im Radio werde auch die Serialisierung von Figuren, die noch gar keine richtigen Fernsehkrimi-Helden sind, aber offenbar werden sollen, wie etwa des "von Angststörungen befallenen", von Bjarne Mädel gespielten Kommissars Sörensen, vorangetrieben.

+++ Die neue ARD-ZDF-Onlinestudie zur Internetnutzung ist unter ard-zdf-onlinestudie.de abrufbar. Unter der pfiffigen Überschrift "Bewegtbildmarkt in Bewegung" (auch wenn das folgende schwierige Fremdwort "habitualisiert" sicher SEO-Punkte kostet...) werden Erfolge für die ÖR-Mediatheken vermeldet: "Die ersten drei Plätze bei den 30- bis 49-Jährigen werden von WhatsApp, Netflix und den Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Sender belegt. Ähnlich bei den 50- bis 69-Jährigen: WhatsApp liegt auf Platz 1, gefolgt von den Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Sender und Netflix. Auch die ab 70-Jährigen zeigen die höchsten Werte bei WhatsApp, danach kommen die Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Sender sowie YouTube ...", heißt es auf Seite 1 des 23-seitigen PDFs.

+++ Heute um 20.15 Uhr auf Pro Sieben: der nicht zuletzt aus dem öffentlich-rechtlichen Kabarettsender 3sat bekannte Sebastian Pufpaff mit der überraschend ins Programm gehobenen Neuauflage der einstigen Stefan-Raab-Show "TV total" (z.B. Standard). "Leidtragende sind Linda Zervakis und Matthias Opdenhövel. Deren schwächelndes Infotainment-Format rückt nach Tagesspiegel-Informationen aus der Primetime am Montagabend am Mittwoch hinter das einstündige 'TV Total' ...".

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.

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