Das Altpapier am 10. Oktober 2022: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier am 10. Oktober 2022 Schönenborn hat seinen Heitmeyer nicht gelesen

10. Oktober 2022, 11:48 Uhr

Die öffentlich-rechtliche Verharmlosung des Rechtsextremismus erreicht in der Berichterstattung über die Landtagswahl in Niedersachsen ein neues Level. Die ARD berichtet zwar angemessen über die Proteste im Iran, aber nur an ihren Rändern - und insgesamt macht es mal wieder die BBC besser. Ein Altpapier von René Martens.

Die abgebrochene "Tagesschau"-Schalte

Journalistinnen und Journalisten, die über Demos aus dem rechtsextremen Milieu  berichten, zeigen auf Twitter ständig Bilder, die einen Eindruck davon vermitteln, wie massiv sie teilweise von Demonstrierenden in ihrer Arbeit behindert werden. Im linearen Fernsehen sieht man das weitaus seltener. Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit: Im Frühjahr 2021 musste die Schalte in eine "Tagesschau"-Sendung abgebrochen werden, weil Steine in Richtung Reporter geflogen waren (Altpapier).

Ähnliches geschah am Samstag in Berlin während einer Demonstration, zu der die AfD aufgerufen hatte: Olaf Sundermeyer vom RBB wurde während einer Live-Schalte in eine "Tagesschau"-Sendung am Samstagnachmittag von einem offenbar aus dem norddeutschen Raum stammenden Rechtsextremisten bedrängt und angepöbelt, weshalb sich die Regie auch hier entschied, die Übertragung abzubrechen.

Weitere Beispiele für den von den Demonstrierenden ausgelebten Hass auf Medienschaffende finden sich zum Beispiel in einem mit Videobeispielen aufwartenden Thread einer freien Journalistin, die bei Twitter Armilla Brandt heißt:

"Aggressives Abfilmen des Kamerateams, dann Schlag mit Schild gegen mein Handy. Ich werde am Nacken gepackt und zurückgezogen. Der Mann versucht mir daraufhin mehrfach aggressiv das Handy aus der Hand zu schlagen. Am Ende gelingt es ihm das Handy zu beschädigen."

Eine weitere Beschreibung:

"Mir wird von einer Person rechts die Maske aus dem Gesicht gerissen. Daraufhin Trans*feindliche Kommentare und Beleidigungen. Ich beschließe die Berichterstattung zumindest zeitweise abzubrechen."

Die in diesem Thread erwähnte "Stern TV"-Reporterin Sophia Maier beschreibt "extreme Pressefeindlichkeit" ("Wir wurden angerempelt, bei der Arbeit behindert, massiv beschimpft") und zeigt in einem kurzen Video einen "exemplarischen Dialog" mit einem Wüterich, der ihr rät: "Ja, gucken Sie mal andere Sender als MDR und ZDF".

Kommt der Zahlenanalyst der ARD der Demokratie abhanden?

Wir wissen nicht, wie Jörg Schönenborn die Protagonisten nennen würde, die in der "Tagesschau" und in Maiers Video zu sehen sind, aber dass er sie als "ängstlich" bezeichnen würde, ist nicht völlig ausgeschlossen.

"Der AfD gelingt es, all die zusammenzubinden, die besonders ängstlich, besonders besorgt, besonders wütend und besonders unzufrieden sind",

sagte er jedenfalls am Sonntagabend im "Tagesthemen Extra" zur Landtagswahl in Niedersachsen.

Die Rechtsextremismus-Verharmlosung gehört ja zu den Kernkompetenzen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, am Sonntagabend hat sie nun noch einmal ein neues Level erreicht.

Der freie Journalist Hans Hütt kommentierte Schönenborns Äußerungen bei Twitter folgendermaßen:

"Der Zahlenanalyst ist im Begriff, der Demokratie abhanden zu kommen, wenn er chauvinistische Politikpositionen als legitim würdigt, weil sie Prozente gewinnen. Schönenborn ignoriert die Studien von Wilhelm Heitmeyer."

Damit bezieht sich Hütt auf diese Langzeitstudie. Die Leipziger Autoritarismus-Studie (siehe Altpapier) kennt Schönenborn möglicherweise auch nicht.

Hütt äußert noch die Hoffnung, dass "die ARD nun auch über Herrn Schönenborn zu grübeln haben wird". Dass die etablierten Medien nennenswert dazu beitragen werden, entsprechende Denkprozesse in Gang zu bringen, halte ich für wenig wahrscheinlich. Der ARD-Hierarch, der im Zusammenhang mit der Wahlberichterstattung in den nächsten Tagen am stärksten in die Kritik geraten wird, ist NDR-Chefredakteur Andreas Cichowicz, der in der Hauptausgabe der "Tagesschau" mit dem Satz "Dann hoffen wir mal, dass es in Niedersachsen nicht zu einer Groko kommt am Ende" auf- bzw. aus seiner Rolle fiel (siehe u.a. "Kölner Stadt-Anzeiger").

Iran-Berichte: Es fehlt die "konzertierte, journalistische Tiefenrecherche"

Die Kritik an der öffentlich-rechtlichen Berichterstattung über die Proteste im Iran (siehe auch Altpapier von vergangenem Dienstag) hält an. So eine Art Gesicht dieser Kritik ist ja die Journalistin und Ärztin Gilda Sahebi (siehe diesen @mediasres-Beitrag von Altpapier-Autorin Annika Schneider aus der vergangenen Woche). Nun greift Sahebi einen Tweet des BBC-Redakteurs Shayan Sardarizadeh (und ein kurzes Video) auf, der deutlich macht, was in der hiesigen Berichterstattung fehlen könnte:

"Since #MahsaAmini protests in Iran began, we across multiple BBC departments have been verifying videos on a daily basis, keeping a national heatmap, monitoring online hashtags and the impact of the internet shutdown."

Dass auch in hiesigen Sendern Mitarbeitende so etwas tun, ist natürlich nicht auszuschließen. Falls sie es tun, bekommt man es aber kaum mit.

In den Drukos unter Sahebis Tweet entwickelt sich dann ein instruktiver Austausch darüber, was gut und weniger gut ist an der derzeitigen Iran-Berichterstattung - und was geändert werden müsste.

Die Podcasterin Nora Hespers erwähnt positive Beispiele aus dem Hörfunk und bei Instagram - woraufhin Olaf Steenfadt von der Initiative "Unsere Medien", der zuletzt in diesem Altpapier vorkam, entgegnet, dass bei den Öffentlich-Rechtlichen ja beides möglich sein sollte: "zielgruppengerechte Ansprache auf verschiedenen Wellen einerseits, aber eben auch konzertierte, journalistische Tiefenrecherche, mit modernsten Mitteln". Und Nadia Zaboura ("Quoted - der Medienpodcast") fragt: "Weshalb wird nur punktuell und ereignisgetrieben über Iran berichtet? Weshalb fehlt in deutschen Medien die Gesamtnarration?".

Ein aktuelles Beispiel für misslungene ARD-Berichterstattung liefert Sahebi in einem weiteren Tweet. Ihre Kritik richtet sich an Formulierungen bei tagesschau.de:

"Der Iran komme nicht ‚zur Ruhe‘, weil die Demonstranten Gewalt anwendeten. Die wenigen Mittel, die die Protestierenden haben, um sich vor der brutalen Staatsmacht zu wehren, werden als Angriff beschrieben. Lupenreine Täter-Opfer-Umkehr."

Noch ein bisschen krasser ist allerdings, dass tagesschau.de "die gewalttätige Niederschlagung friedlicher Proteste" (Sahebi) als "Auseinandersetzungen" bezeichnet. Wir haben es hier offenbar mit einem Beispiel dafür zu tun, wie auf Neutralität bedachte Formulierungen die Unwahrheit vermitteln. Um mal ein vielleicht etwas schiefes Fazit zu riskieren: In ihrer Ungenauigkeit kann die ARD-Berichterstattung über den Iran mit der wahlaktuellen über die AfD durchaus mithalten.

"Ich kann Volker nicht verteidigen"

Seit Freitag läuft die vierte Staffel von "Babylon Berlin", und das nimmt "Spiegel"-Redakteur Christian Buß gegenüber den Regisseuren Henk Handloegten, Achim von Borries und Tom Tykwer sowie in dem auf dem Gespräch basierenden Artikel (€) zum Anlass, zu problematisieren, dass mit Volker Bruch ein rechter, derzeit gegenüber den Medien offenbar schweigsamer Hobbypolitiker gewissermaßen das männliche Gesicht der renommierten Serie ist:

"Ein Hauptdarsteller, der dazu Anlass gibt, von ihm zu glauben, er hinge Verschwörungs­ideologien an, kann wohl kaum mit öffent­lich-rechtlichen Geldern honoriert werden. Zugleich wäre aber auch ein fortgesetztes Schweigen Bruchs ein Problem: Das Aushängeschild der wohl politischsten deutschen Serie der Gegenwart steht nicht für Interviews bereit? Das lässt sich nur schwer von einem Senderverbund legitimieren, der dem Informationsauftrag verpflichtet ist."

Buß vollbringt in dem Text unter anderem das Kunststück, Bruch als "nicht rechts" zu klassifizieren, obwohl der Schauspieler doch, wie es weiter vorn im Text heißt, "einen Mitgliedsantrag bei der nach rechts weit offenen Coronaleugner-­Partei 'Die Basis'" stellte, aber das mindert nicht die generelle Kurzweiligkeit des Artikels. Die ist Buß' Insistieren auf der Personalie Bruch zu verdanken:

"Immer grimmiger werden die Mienen der Regisseure, offenbar haben sie keine Freude daran, sich zu den Eskapaden ihres Stars zu äußern. Das liegt auch daran, dass sie sich über Bruch nicht einig sind. Abgeschlossen scheint das Thema auch unter ihnen nicht."

Handloegten zum Beispiel "scheint aufgewühlt", als er sagt:

"Ich fühle mich sehr unwohl, in die Position gebracht zu werden, Volker zu verteidigen. Das möchte ich nicht, das kann ich nicht."

Was Bruch schauspielerisch abliefert, kommentiert Dietrich Leder für den KNA-Mediendienst (€):

"Volker Bruch kämpft (…) mit den diversen Aufgaben, mit denen seine Figur behängt wird: undercover als SA-Mann zuzuschlagen, als Mordermittler zu recherchieren, bei den Gangsterbossen als Vermittler aufzutreten und dann noch den liebevollen Partner bei Charlotte Ritter zu geben. All das überfordert Bruch sichtlich. Dass er am Ende dann noch behaupten muss, seine Figur sei aller Ängste ledig, nimmt man ihr ebenso wenig ab, wie man zuvor manchen Alptraum nachvollziehen konnte."

Ohnehin hat Leder einiges einzuwenden gegen die neue Staffel, anders als Claudia Tieschky in der SZ oder Andreas Kilb in der FAZ. Wobei man dessen Fazit auch in der Kategorie "vergiftetes Lob" einordnen könnte:

"In letzter Zeit wird wieder viel über den deutschen Film debattiert und über die Krise der Kinobranche, aus deren Abgaben er sich finanziert. Bei den Nominierungen für den Auslands-Oscar war die Auswahl so schwach, dass Edward Bergers Netflix-Produktion ‚Im Westen nichts Neues’ das Rennen machte (….) Wenn man jetzt ‚Babylon Berlin‘ sieht, erkennt man, dass die Krise keine finanzielle ist, sondern eine des Systems. Die kreativen Kräfte, die in die Serie geflossen sind, gehen der Branche seit Jahren verloren. Das Spitzenprodukt der deutschen Filmwirtschaft – hier ist es. Nur dass es nicht mehr im Kino läuft, sondern auf unseren Endgeräten, wo immer und wann immer wir wollen."

"98 Prozent der Gender-Pointen wurden schon gemacht"

Ab Ende des Monats steht bei der "Titanic" mit Julia Mateus erstmals eine Frau an der Spitze - was für den "Spiegel" (€) und Zeit Online (€) Anlass für ein Interview ist.

Natürlich gibt es, wie immer bei Interviews mit neuen Chefs, Themenüberschneidungen. Bei Zeit Online sagt Mateus zum Thema Sexismus:

"Inzwischen ist die Textredaktion der 'Titanic' überwiegend weiblich besetzt, deswegen kommt es gar nicht mehr vor, dass jemand einen sexistischen Witz vorschlägt. Manchmal erreichen uns noch Einsendungen, die auf sehr einfach gestrickte Gender-Witze setzen."

Gegenüber dem "Spiegel" erläutert sie das so:

"98 Prozent der Gender-Pointen wurden schon gemacht. Das Thema taugt nur noch fürs Kabarett."

Apropos Kabarett:

"Beweisen Lisa Eckhart und Dieter Nuhr nicht, dass auch Rechte Humor haben?",

wollen die "Spiegel"-Leute wissen. Dazu Mateus:

"Ich finde beide überhaupt nicht lustig, ich würde sie nicht als meine Kollegen bezeichnen. Aber klar, im Prinzip macht Eckhart dasselbe wie ich: Sie biedert sich an ein Publikum an. Nur eben an ein konservatives.

Gegenüber Zeit Online spricht Mateus dann auch über Medien-Strukturwandel-Betroffenheit. "Bei den aktuellen Witzen", so die neue Chefredakteurin, bemerke die Redaktion jedenfalls:

"Wenn wir Parodien machen, kennen unsere Leser oft die Printmedien gar nicht mehr, auf die wir da Bezug nehmen."


Altpapierkorb ("ZDF Magazin Royale" vs. "Cyberclown", Stella Assange vs. United Kingdom, "Stern" vs. NDR, Aiko Kempen vs. LKA Sachsen)

+++ Der in einer "ZDF Magazin Royale"-Sendung zur tendenziellen Russophilie bei Akteuren der deutschen IT-Sicherheit im Mittelpunkt stehende "Cyberclown" und CDU-Politiker-Sohn Arne Schönbohm steht infolge der royalen Recherchen vor seiner Ablösung als Chef des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). U.a. "Handelsblatt" und "Spiegel" berichten.

+++ "Die Öffentlichkeit hat fast keine Bilder von Julian zu sehen bekommen, seit er im April 2019 aus der ecuadorianischen Botschaft gezerrt und verhaftet wurde. Ich denke, das ist eine Strategie, um ihn aus dem Bewusstsein der Menschen zu verdrängen. Was Julian angetan wird, ist abstoßend. Aber solange die Menschen nicht an ihn denken, können die Regierungen damit durchkommen." Das sagt Stella Assange im Interview mit der SZ (Wochenendausgabe). Anlass des Gesprächs: Am Donnerstag eröffnet das Human Rights Film Festival in Berlin mit dem Dokumentarfilm "Ithaka", einem, so die SZ, "anrührenden Porträt" der Familie Assange.

+++ "Die derzeitige Berichterstattung über den Rechtsstreit zwischen NDR und 'Stern' in der Causa NDR Landesfunkhaus Kiel erweckt in Teilen den Eindruck, dass die 'Stern'-Recherchen mehrheitlich nicht zuträfen. Dem ist mitnichten so." Nach dem "Business Insider" (Altpapier vom Freitag) wehrt sich nun also auch das sich zuletzt mit NDR-Kritik profilierende RTL-Medium gegen eine mit Hilfe der Kommunikations-Pfiffikusse des NDR verbreitete Botschaft.

+++ Der Journalist Aiko Kempen verklagt das LKA Sachsen. Es geht um die heimliche Fütterung polizeifreundlicher Presseleute mit Informationen zum Fall der des Linksextremismus verdächtigen Lina E. Gegenüber Übermedien sagt Kempen: "In der Berichterstattung rund um den Fall Lina E. war für mich relativ schnell ersichtlich, dass von Behörden Informationen weiter gegeben wurden, die offensichtlich aus Ermittlungsakten stammen und eigentlich so noch nicht an Pressevertreter:innen hätten weitergegeben werden dürfen", sagt Kempen. Weiter heißt es bei "Übermedien": "Vor allem bei Berichten der 'Welt' sei es nach seiner Überzeugung 'sehr offensichtlich', dass Informationen aus Ermittlungsunterlagen stammen. Später seien dann auch andere Medienvertreter hinzugekommen. 'Da weiß ich teilweise aus erster Hand, dass sie Unterlagen einsehen durften, die sie eigentlich nicht hätten einsehen dürfen.'"

Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

1 Kommentar

Rainer Meyer am 10.10.2022

Wenn einem die Analyse des Wahlergebnissen von Schönenborn nicht gefällt, dann sollte man sich damit inhaltlich auseinandersetzen und nicht personelle Konsequenzen fordern. Schönenborns Überlegungen sind nämlich nicht nur plausibel und nachvollziehbar, sondern auch gut empirisch fundiert, was jeder Fernsehzuschauer gestern Abend überprüfen konnte.
Zu erklären ist, wie es der AfD gelungen ist, den Verlust an Wählern in den letzten Monaten und Jahren ins Gegenteil zu drehen. Vielleicht liegt es ja daran, dass die AfD gegenwärtig wie die einzige Opposition im Bundestag wirkt. Die Linken blockieren sich wechselseitig und die Union bzw. Merz wissen noch nicht so recht, wo es hingegen soll.
Dass in den letzten Monaten Angst, Besorgnis, Wut und Unzufriedenheit zugenommen haben, lässt sich auch schwer bestreiten.

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