Das Altpapier am 4. Januar 2023: Porträt der Altpapier-Autoren René Martens
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Kolumne: Das Altpapier am 4. Januar 2023 Falscher Umgang mit journalistischen Standards

04. Januar 2023, 13:05 Uhr

Welche "Mängel im internationalen Journalismus" hat der Ukraine-Krieg sichtbar gemacht"? Wie sollten hiesige Journalistinnen und Journalisten über die "Mechaniken" rassistischer Agitatoren berichten? Warum geht es der Theaterkritik nicht gut? Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

"Wir sind der Wahrheit verpflichtet"

Das in vielen journalistischen Debatten auftauchende Schlagwörtchen "Neutralität" bleibt uns auch zu Jahresbeginn erhalten. Es spielte eine Rolle in meinem Jahresrückblick auf die Berichterstattung aus der Ukraine und dem Iran, der am Donnerstag vergangener Woche erschienen ist. Heute kommt es in einem Interview aufs Tapet, das Nicolas Freund für die Medienseite der "Süddeutschen Zeitung" mit Olga Rudenko, der Chefredakteurin der Online-Zeitung "Kyiv Independent", geführt hat.

Der SZ-Medienseite muss man zugutehalten, dass sie den "Kyiv Independent" heute bereits zum zweiten Mal innerhalb von nicht einmal zwei Monaten in Form eines Interviews würdigt - im November war Daryna Schewtschenko, die Chefmanagerin der Zeitung, die Gesprächspartnerin gewesen (siehe Altpapier). Gegenüber Rudenko sagt Freund nun:

"Es muss schwer sein, in einem Krieg neutral zu bleiben."

Woraufhin diese entgegnet:

"Wir sind nicht neutral, aber wir sind der Wahrheit verpflichtet. Es ist wichtig, dass das klar ist."

Der Krieg habe "viele Mängel im internationalen Journalismus sichtbar gemacht", sagt Rudenko außerdem. Ein Beispiel, das sie auf Nachfrage Freunds nennt:

"Die behauptete Neutralität. Es gibt in diesem Krieg Angreifer und Verteidiger. Manche Medien versuchen, indem sie sich augenscheinlich an journalistische Standards halten, eine irreführende Gleichheit zwischen den beiden Seiten herzustellen. Das führt dazu, dass ein Reporter etwas in der Ukraine erlebt, Moskau behauptet aber etwas Anderes, was meistens nicht wahr ist. Die Reporter fügen das zu dem hinzu, was sie selbst gesehen haben. Fakten auf der einen Seite zu nehmen, Propaganda auf der anderen und das dann gleichzusetzen, funktioniert nicht."

Für diesen "Mangel", lassen sich im "internationalen Journalismus", um bei Rudenkos Wortwahl zu bleiben, verschiedene Beispiele finden. Zu den krassesten gehört die im US-amerikanischen Journalismus immer noch verbreitete Einstellung, Republikaner und Demokraten als gleichwertige Teilnehmer des Diskurses zu betrachten. Das war auch ein Thema im letzten Altpapier des alten Jahres. Wobei ja deutsche Medien diese False Balance reproduzieren.

Zurück zum SZ-Interview: Rudenko formuliert hier auch das Ziel, "dass wir in andere Länder in der Region um die Ukraine expandieren. Belarus zum Beispiel existiert in den englischsprachigen Medien praktisch nicht. Ich wünsche mir, dass 'The Kyiv Independent' die englische Stimme dieser Region wird". Ergänzen ließe sich an dieser Stelle vielleicht, dass Belarus im deutschsprachigen Journalismus 2022 auch kaum noch "existierte", anders als 2020.

Einen Blick auf die Kriegsberichterstattung aus der Ukraine wirft auch der "Tagesspiegel" (Dienstags-Ausgabe). Er berichtet über die vom European Centre for Press and Media Freedom organisierte Konferenz "Re:Cover", auf der ukrainische Medienschaffende über Kriegsjournalismus diskutierten (siehe dazu auch einen Bericht der DW-Akademie, der kurz vor Weihnachten erschienen ist).

Valeriia Semeniuk, selbst ukrainische Journalistin, schreibt:

"In allen Medien der Ukraine geht es um den Krieg, um gebrochene Schicksale, um den Tod von Menschen, um Trauer und Tränen. Die Journalisten dokumentieren den Krieg ausführlich, auch diejenigen, die früher andere Themen hatten. Olena Loginova zum Beispiel hat die Korruption im Umfeld von Präsident Selenskyj untersucht. Jetzt sammelt sie Beweise für russische Kriegsverbrechen. 'Das scheint mir jetzt wichtiger zu sein. Ich werde auf jeden Fall auf das Thema Korruption in der ukrainischen Regierung zurückkommen, aber erst nach dem Krieg.'"

Zu einer Passage zur öffentlich-rechtlichen Ukraine-Berichterstattung von ARD und ZDF im bereits erwähnten Jahresrückblick drängt sich noch eine Ergänzung aus einem zwischen den Jahren erschienenen Interview mit dem ZDF-Intendanten Norbert Himmler auf, das gestern hier schon am Rande erwähnt wurde. In dem Rückblick heißt es:

"Die ARD hat bis Anfang September, also mehr als ein halbes Jahr seit Beginn der Invasion, gebraucht, um zwei feste Ukraine-Korrespondenten zu installieren. Beim ZDF steht eine solche Maßnahme noch aus."

Das gilt zwar weiterhin, aber vielleicht nicht mehr lange, denn Himmler sagt im besagten Gespräch mit dpa (via digitalfernsehen.de):

"In der Ukraine werden wir uns verstetigen. Das ist mir besonders wichtig."

Wenn rassistische Klassiker ausgebuddelt werden

Die aktuelle Rassismus-Offensive, für die die üblichen Verdächtigen die Angriffe auf Polizei und Feuerwehr während der Silvesternacht zum Anlass genommen haben, kommentiert Meret Weber fürs Zeit-Online-Ressort ze.tt:

"Statt darüber zu reden, ob Silvester ohne Böllern für mehr Sicherheit sorgen könnte, werden nun jedoch alle Klassiker der rassistischen Neukölln-Debatte ausgebuddelt: die Sonnenallee als rechtsfreier Raum, der Kontrollverlust der Polizei, die Angriffe auf Rettungskräfte und Polizist:innen als Beweis eines fehlenden Respekts vor dem Staat und seinen Institutionen. Es wird von mangelnder Integration gesprochen, von gefährlichen Jugendlichen, organisierten Kriminellen. Was dabei oft vergessen wird: Dass die Eskalation nicht anlasslos ist. Ja, wir brauchen eine politische Debatte über die Konsequenzen der Silvesternacht. Aber keine Debatte, in der so getan wird, als sei die Eskalation eine kulturelle oder gar angeborene Eigenschaft, die den jungen Leuten abtrainiert werden müsste. Als gäbe es eine ‘natürliche' migrantische Kriminalität, die nur ordentlich wegintegriert werden müsste."

Eine Gegenposition vertritt auf Seite 1 der FAZ Jasper von Altenbockum (Blendle-Link), dessen Kommentar in puncto Menschenfreundlichkeit mit seinem, sagen wir mal: legendären "Lichtenhagen-Text" von 2012 (Altpapier, Altpapier) durchaus mithalten kann.

Nadia Zaboura, Co-Host des SZ-Medien-Podcasts "quoted", geht in Threads bei Mastodon und Twitter auf Äußerungen unterschiedlich prominenter Politikerinnen und Politiker von CDU und FDP ein, die die Attacken auf Sicherheits- und Rettungskräfte für die eigene Profilschärfung nutzten:

"Das Gute an den ganzen Spahns, de Vries, Adlers, Priens und Co. ist nicht nur ihr Maskenfall und der unverstellte Blick auf ihr Antlitz. Das Gute ist auch, dass die öffentliche, vernunftbasierte Debatte diese Worte aus Politikermund weder ignoriert noch goutiert, sondern klar benennt: Rassismus."

Was sollten Journalistinnen und Journalisten nun tun?

"Kühl & nüchtern darüber berichten, welche zugrundeliegenden Mechaniken diese Agitatoren wählen und nutzen. Welche Impulse sie bedienen. Welche Wortwahl und wo diese historisch zu verorten ist."

Denn:

"Wir sehen hier im frühen 2023 einen Präzedenzfall des Versuchs, die öffentliche Debatte rassistisch zu kapern und zu steuern. Es liegt an diesem Journalismus und an dieser Gesellschaft, an uns, angemessen und schlau damit umzugehen."

Hier scheint mir ein grundsätzlicher Optimismus mitzuschwingen, der davon ausgeht, dass es in den etablierten Medien einen antirassistischen Grundkonsens gibt. Ich teile diesen Optimismus nicht, freue mich aber, wenn sich in den nächsten Tagen zeigen sollte, dass ich falsch liege.

Zur Lage der Theaterkritik

Für die taz nimmt Tobi Müller ein Foto von einer FAZ-Feuilletonkonferenz von 1993, das die FAZ kürzlich veröffentlicht hat, als Ausgangspunkt für Reflexionen zur Lage der Theaterkritik. "Die ins Auge springende Sicherheit des FAZ-Feuilletons" fällt ihm auf, "das Selbstbewusstsein dieser Runde" wirke "attraktiv", schreibt er. Und:

"Wie autoritär oder freiheitlich das FAZ-Feuilleton von innen wirklich war, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber was das Bild vermittelt: Man dachte nicht gleich bei jedem Satz daran, wie gut oder schlecht das in eine Insta-Kachel passt und ob der Text beim richtigen Publikum gut ankommt. Gemeint sind nicht Begriffe oder Worte, sensibilisierte Sprache ist normaler Wandel, den es zwischen Generationen und Weltanschauungen zu verhandeln gilt. Kritik heute heißt aber in vielen Fällen, zu antizipieren, wie die Follower reagieren. Kritik als Crowdpleaser. Aus meiner Praxis: Einige Re­dak­teu­r:in­nen warnen regelmäßig vor den Kommentaren, wenn sie etwas kontrovers finden. Ob das Demokratisierung bedeutet oder Opportunismus und Stream­lining zur Folge hat, das sind die großen Fragen unserer Tage im Kulturkampf. Die Kritik als Textsorte steht da mittendrin."

In dem Text geht es also längst nicht nur um Theaterkritik. Müller weiter:

"Es steht außer Frage, dass die größte Medienrevolution seit Erfindung des Buchdrucks auch die Theaterkritik verändert. Aber sie hat ihren Status verloren als die feuilletonistische Kunst des Interdisziplinären (alles spielt eine Rolle: Körper, Musik, Raum, Mode, nebst Schauspiel und Text). Theater ist komplex, aber seine Kritik wird online nun einmal sehr schlecht gelesen. Sich rituell darüber zu beklagen, dass die Theaterkritik verschwinde, hat etwas Wohlfeiles: Wieso sollten Medienunternehmen in der moralischen Pflicht stehen, im Überfluss anzubieten, was niemand richtig haben will? Diesen Auftrag, das Kulturgut zu pflegen, erfüllen die öffentlich-rechtlichen Radios."

Erfüllen sie den denn (noch) ausreichend? Angesichts dessen, dass man bei "den Kulturwellen des ARD-Hörfunks allzu oft den Eindruck hat, dass eine der wichtigsten Maximen der Programmgestaltung die Honorarvermeidung ist", wie ich es im Oktober an dieser Stelle formulierte, bin ich mir da nicht sicher.


Altpapierkorb ("Kontext" siegt gegen Ex-AfD-Mitarbeiter, "Tagesspiegel"-Redakteur siegt gegen österreichisches Online-Magazin, "1899" verliert gegen Netflix-Management)

+++ Zwischen den Jahren ist eine wichtige presserechtliche Entscheidung womöglich untergegangen. "In der dritten Runde: Etappensieg gegen Neonazi", meldete "Kontext" in einer Pressemitteilung. Es geht um einen Erfolg in einer Hauptsachenverhandlung vor dem Landgericht Frankfurt, und zwar gegen Marcel Grauf, einen nunmehr "ehemaligen Mitarbeiter zweier AfD-Abgeordneter im baden-württembergischen Landtag". Die zweite "Runde" war ebenfalls positiv verlaufen. "Durfte die Wochenzeitung 'Kontext‘ über rechtsextreme Äußerungen eines AfD-Mitarbeiters berichten? Das Oberlandesgericht Karlsruhe hat darüber nun in erfreulicher Klarheit entschieden", schrieb der "Spiegel" seinerzeit, und das ist nun schon fast drei Jahre her. Zur Vorgeschichte siehe auch dieses Altpapier. Weitere "Runden" sind möglich. In einem ausführlichen Text in eigener Sache schreibt die Wochenzeitung: "Entwarnung können wir (…) leider noch nicht geben. Der Gegenseite bleibt die Option, erneut Einspruch einzulegen. Der Fall kann noch vor das Oberlandesgericht Frankfurt gehen, womöglich sogar vor den Bundesgerichtshof."

+++ "Mitarbeiter des linken Tagesspiegel als Schlepper verhaftet", titelte im November 2021 exxpress.at aus Österreich - eine Headline, die über die journalistische Qualität dieses Online-Mediums vermutlich recht viel aussagt. Der willkürlich Verhaftete war Sebastian Leber (siehe Altpapier), und der ging rechtlich vor gegen den Artikel. Die SZ berichtet: "Leber klagte wegen übler Nachrede und bekam im März 2022 vor dem Wiener Landesgericht für Strafsachen Recht.'Exxpress' wurde zu Zahlung von 10 000 Euro Schadenersatz verurteilt, ging aber in Berufung." Das Verfahren vor dem Oberlandesgericht ging nun Ende Dezember wiederum pro Leber und gegen Exxpress aus, das Online-Medium wurde zudem zur Veröffentlichung des Urteils verpflichtet. Lediglich der Schadenersatz wurde reduziert.

+++ Joachim Huber vom "Tagesspiegel" scheint gerade den Kapitalismuskritiker in sich entdeckt zu haben, jedenfalls schreibt er: "Wer immer noch nicht wusste, was Netflix in seinem Kern ist, der weiß es jetzt ganz genau: ein Wirtschaftsunternehmen. Für die Produkte des Streamingdienstes heißt das, dass rund einen Monat nach dem Start einer Serie auf die Zahlen geschaut wird. Wie ist das Verhältnis der Kosten zu den Nutzerzahlen?" Der Anlass seines Textes: Bei der Serie "1899" ist dieses Verhältnis aus Sicht der Unternehmensgewaltigen wohl nicht so dufte. Ergo: Es gibt keine zweite Staffel. Damit ist die Geschichte der "teuersten deutschen Netflix-Serie" ("Die Welt" Mitte November anlässlich des Starts) bzw. des "deutschen Prestige-Projekts" (dwdl.de aktuell) also schon beendet.

Das Altpapier von Donnerstag kommt wieder von mir.

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