Parsifal
Regisseur Jay Scheib wollte mit dem Einsatz von Augmented Reality-Brillen die analoge und virtuelle Darstellung des "Parsifal" verweben. Bildrechte: Enrico Nawarth

Bayreuther Festspiele AR-Bilderflut im Festspielhaus: Der neue "Parsifal" überzeugt jedoch einzig musikalisch

27. Juli 2023, 08:44 Uhr

Gut gemeint ist längst nicht gut gemacht. Dass Festspielchefin Katharina Wagner dem Augmented Reality-Experiment eine Chance gibt, ist aber hoch anzurechnen. Der neue "Parsifal" in der Regie von Jay Scheib, der das analoge Bühnengeschehen um eine virtuelle Erzählebene erweitern wollte, sollte dringend überarbeitet werden, meint MDR KLASSIK-Redakteurin Bettina Volksdorf.

Kurz nach den ersten, wie aus dem Nichts kommenden Tönen des Liebesmahl-Motivs geht es los: Von nun an wird man als AR-Brillen-Träger pausenlos mit Bildern überflutet. Bilder, die einen für kurze Zeit staunen lassen, doch schon bald gründlich langweilen.

Parsifal
Gut gemeint ist längst nicht gut gemacht. Dass Festspielchefin Katharina Wagner dem AR-Experiment aber eine Chance gibt, ist ihr hoch anzurechnen. Bildrechte: Enrico Nawarth

Zudem hat diese Hightech-Brille ihr Gewicht, sie erwärmt sich und das Blickfeld ist eingeschränkt. Das bedeutet, dass man den Kopf drehen und wenden muss, um oben und unten, links und rechts auch ja nichts zu verpassen. Zwischendurch kurz ein Blick unterhalb der Brille auf das reale Bühnengeschehen, wo viel rumgestanden oder gelegen wird. VJs filmen und streamen das statische Geschehen über große Strecken live als Teil des Bühnenbildes.  

Experiment "Parsifal" mit Augmented Reality 

Parsifal
Das Experiment mit AR-Brille ist nach Einschätzung von MDR KLASSIK-Redakteurin Bettina Volksdorf missglückt. Bildrechte: Enrico Nawarth

Das Experiment, Wagners "Parsifal" gleichzeitig analog (Bühne) und digital (AR-Brille) zu präsentieren, bietet am Ende eine dreidimensionale Disney-Erlebniswelt, die in ihrer assoziativen Bebilderung der Handlung Herz und Hirn kaum anzuregen vermag. Kundry und Klingsor als singende Totenschädel – geschenkt! Menschen-Avatare, die auf das Publikum zu marschieren, zuckende Herzen, die letzten Flügelschläge blut-triefender Schwäne, anmutige Schmetterlinge, zwei Lämmlein und florale Dekoration in rauen Mengen. Jay Scheib und sein Team fanden leider nur wenige aussagekräftige Icons, wie eine vom Speer durchbohrte Weltesche, eine Schaukel aus Schwertern oder den durchs Universum trudelnden Zivilisationsmüll wie Plastik, Autos, Batterien oder Laptops. 

Der Gral ist: Kobalt! 

Apropos: Für Scheib, den Technologie-Freak aus Iowa, ist der heilige Gral Kobalt. Damit färbte man früher Glas und Keramik, heute wird das Schwermetall vor allem für Batterien und Akkus gebraucht, um Energie zu erzeugen. Das sichert Gesellschaften anno 2023 das Überleben, so wie einst den Gralsrittern das Blut Christi.

Parsifal
Bildrechte: Enrico Nawarth

Damit deutete Scheib erst im dritten Akt eine eigenständige, virtuell-generierte Erzählebene an: Wir sind es, die Umwelt und Natur zerstören, wir bedürfen der Erlösung von all den Gütern der Wohlstandsgesellschaft. Folgerichtig vernichtet Parsifal am Ende den Kobalt-Gral, um mit Kundry in eine ungewisse Zukunft zu gehen. Ein von Anfang bis Ende durchdachtes Regiekonzept sieht anders aus. 

Parsifal
Musikalisch kann die neue "Parsifal"-Inszenierung überzeugen. Bildrechte: Enrico Nawarth

Musikalisch aber ist dieser "Parsifal" ein Gewinn: Weil Wagners letztes Bühnenwerk perfekt auf die Akustik des Festspielhauses mit seinem versenkten Orchestergraben zugeschnitten ist und Hügel-Debütant Pablo Heras-Casada mit dem Fineliner auf die symphonischen Qualitäten des Werkes und Festspielorchesters setzt. Die Holzbläser – ein Traum! Der Festspielchor – überzeugend wie immer, doch selten klang er dynamisch so differenziert. Heras-Casado formt die Musik im steten Fluss aus einer eher zurückgenommenen Grundhaltung heraus, um dann um so wirkungsvoller musikdramatisch zu akzentuieren. 

Auch die Sängerbesetzung war exzellent und Festspiel-würdig: Andreas Schager z.B., der erst vor zwei Wochen als Sänger der Titelpartie einsprang und als Typ wunderbar passt. Seine Stimme füllt jeden Raum, spricht am besten im Forte an, dann auch mit gehörigem Vibrato, aber gestern stimmte das Gesamt-Paket. Geradezu frenetisch gefeiert wurde Elīna Garanča: Sie debütierte 2021 als Kundry an der Wiener Staatsoper, sprang im Mai in Bayreuth als Kundry ein und ist eine überragende Sänger-Darstellerin. Ihre kühl-intellektuelle Bühnenpräsenz und ihre kultivierte Art, diese Partie zu gestalten, nötigen Bewunderung ab. Insofern stellte Garanča sogar Georg Zeppenfeld als Gurnemanz ein wenig in den Schatten, gleichwohl man ihn wie stets problemlos verstand, sie hingegen kaum. Last but not least sind auch Derek Welton als Amfortas, Tobias Kehrer als (jugendlicher) Titurel und Jordan Shanahan als teuflisch-androgyner Klingsor zu nennen, die allesamt  überzeugten. 

Fazit

Respekt vor dem Mut von Festspielleiterin Katharina Wagner, die dieses Experiment ermöglichte, ja sogar angestoßen hat. Bayreuth ist Hort der Tradition und Innovation in einem; neue Maßstäbe bei der Umsetzung des gleichbleibenden Werkekanons von Richard Wagner zu setzen, ist Teil des Selbstverständnisses dieser Festspiele. Gut möglich, dass über den Einsatz neuer Technologien dem Musiktheater perspektivisch Wege geebnet werden, um neue Publikumsschichten für die Oper zu interessieren. Die Frage ist, wie intelligent, phantasievoll und stringent analoges und digitales Musiktheater künftig miteinander verwoben werden. Jay Scheib und sein Team haben – die "Werkstatt Bayreuth" macht es möglich – Zeit, nachzuarbeiten.

Dieses Thema im Programm: MDR KLASSIK | MDR KLASSIK am Morgen | 26. Juli 2023 | 09:10 Uhr