Weniger Spenden, mehr Bedarf Tafeln am Limit

26. Februar 2023, 05:00 Uhr

Kommunen und Bundespolitik scheinen die Tafeln zunehmend als staatliche Institutionen zu begreifen. Diese wollen gerne mehr staatliche Unterstützung, um Lebensmittelverschwendung zu vermeiden und kritisieren die bundesdeutsche Armutsbekämpfung. Die Tafeln wollen gerne an den Tisch der Entscheiderinnen und Entscheider – ihre Warnrufe finden aber kaum Gehör. Eine Analyse.

Torben Lehning
Bildrechte: MDR/Tanja Schnitzler

Was vor 30 Jahren in Berlin als soziales Projekt einer Berliner Frauengruppe gegen Armut startete, ist mittlerweile zu einer festen Institution geworden. Ohne die über 960 Tafeln in Deutschland wüssten viele Menschen hierzulande nicht, woher sie ihre Lebensmittel bekommen sollen. Die größtenteils ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer knüpfen regionale Netzwerke mit Supermärkten und dem Großhandel, sammeln und verteilen das, was in den Supermarktregalen aussortiert wird, um es an bedürftige Haushalte zu verteilen. Die Arbeit läuft größtenteils über private Vereine, teilweise auch über soziale Träger.

Der Bedarf ist groß. Über 2 Millionen Menschen stehen regelmäßig an den Essenausgabestellen an, um etwas auf den Tisch zu bekommen. Dabei sind 13 Millionen Menschen hierzulande von Armut betroffen oder sind unmittelbar von ihr bedroht.

Dass nicht alle Bürgerinnen und Bürger, die die Unterstützung gebrauchen könnten, tatsächlich auch die Angebote der Tafel nutzen, liegt vor allem an zwei Gründen, meint Mandy Oelke, Leiterin für Soziale Arbeit und Ehrenamt im DRK Kreisverband Börde e.V. in Sachsen-Anhalt.

Viele Menschen kommen schlichtweg aus Scham nicht zu uns. Sie wollen nicht bei uns anstehen, nicht bei uns gesehen werden und denken, sie gehören da nicht hin. Außerdem sind manche Tafeln so überlastet, dass sie gar keine neuen Leute aufnehmen können.

Mandy Oelke, Leiterin für Soziale Arbeit und Ehrenamt im DRK Kreisverband Börde e.V. Sachsen-Anhalt

"Verteilungskämpfe" an den Tafeln

Und trotzdem: seit Jahren nimmt die Zahl derer, die das Angebot der Tafeln nutzen immer weiter zu. Inflation, Energiekrise und die steigende Zahl von Flüchtlingen aus dem Ausland sorgen für einen immer größeren Andrang an den Ausgabestellen. Nach Angaben des Bundesverbands Deutsche Tafel e.V. ist die Anzahl der Bedürftigen im vergangenem Jahr Deutschlandweit durchschnittlich um 50 Prozent gestiegen. Etwa 30 Prozent der Tafeln mussten laut Bundesverband zwischenzeitig einen Aufnahmestopp verhängen, da ihnen Helferinnen und Helfer, Räumlichkeiten und Geld fehlen.

Gleichzeitig geben die Supermarktketten immer weniger Lebensmittel an die Tafeln weiter. Der Tafel-Vorsitzenden Brühl sagt, das liegt vor allem daran, dass die Discounter in ihrem Sinne besser kalkulieren würden: also weniger einkaufen und dadurch weniger abzugeben hätten.

Sowohl für die Bedürftigen als auch die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer ist die Situation immer schwerer auszuhalten, erklärt Oelke. "Mittlerweile haben wir wieder Verteilungskämpfe wie zur Flüchtlingskrise 2015/2016. Das passiert nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus Futterneid. Wir machen keine Unterschiede", betont Oelke. Sie würden allen Leuten so gut helfen wie sie können. "Und wenn wir es gut erklären, verstehen es die meisten dann auch."

Gerade an Tagen, an denen nicht alle Bedürftigen mit der von ihnen gewünschten Menge Lebensmitteln nach Hause gehen könnten, hätten sie und ihre Mitarbeitenden viel Beschwichtigungsarbeit zu leisten, erklärt Oelke. Eine faire Behandlung aller Bedürftigen sei ihrem Team das wichtigste. Deswegen würde die Ausgabe-Reihenfolge der Lebensmittel auch nach dem Losverfahren verteilt. Probleme gäbe es vor allem dann, so Oelke, wenn Bedürftige von Jobcentern oder Migrationsbehörden zu ihnen geschickt würden und dann davon ausgingen, ihnen seien Leistungen zugesichert worden. Das sei aber nicht so.

Eine Institution, die keine sein will

Ihrem Selbstverständnis nach sind die Tafeln Organisationen, die Lebensmittel retten und bedürftige Menschen versorgen – beides passiert freiwillig – so gut wie es eben geht. Diese ehrenamtliche Arbeit wird größtenteils durch Spenden finanziert. Ihre staatliche Unabhängigkeit wollen sich die Tafeln auch bewahren. Vor allem deswegen, weil es sie eigentlich gar nicht geben dürfte, meint Brühl.

Wir machen immer wieder die Erfahrung, dass staatliche Stellen Menschen zu den Tafeln schicken, bevor Geldbezüge geregelt würden. Es ist eine fatale Einschätzung, dass Tafeln staatliche Aufgaben übernehmen, weil es eben die Aufgabe des Staates ist, Menschen bedarfsgerecht zu versorgen.

Jochen Brühl, Vorsitzender Deutsche Tafel e.V.

So würde beispielsweise die kürzlich beschlossene Bürgergelderhöhung von 50 Euro definitiv nicht ausreichen, um Menschen vor Armut zu schützen, so Brühl. Lange Schlangen vor den Tafeln sollten von der Politik nicht als Zeichen verstanden werden, dass man Tafeln mit Bundesgeldern unterstützen müsse, sondern dass man etwas an den Umständen ändern müsse, die Menschen an die Tafeln treiben.

Schluss mit der Symptomlinderung, die Tafeln fordern Ursachenbekämpfung und wollen die Bundespolitik auf dem Weg dorthin unterstützen.

Die Tafeln wollen an den Tisch

Es wirkt nahezu absurd, dass in Deutschland jährlich nach wie vor 20 Millionen Tonnen genießbare Lebensmittel im Müll landen. Das meiste davon wird wohlgemerkt von privaten Haushalten weggeschmissen. Doch auch Discounter und Co. spenden längst nicht alles, was sie spenden könnten. Schlichtweg weil es für sie steuerrechtlich günstiger ist, Lebensmittel wegzuwerfen, als sie an die Tafel zu spenden.

Hier fordern die Tafeln seit Jahren ein Lebensmittelrettungsgesetz, das einen rechtlichen Rahmen schafft, von dem alle profitieren könnten. Laut Bundeslandwirtschaftsministerium ist ein Haftungsausschluss für gemeinnützige Organisationen, die Lebensmittel an Dritte verteilen wegen EU-Richtlinien ausgeschlossen. Steuerrechtliche Erleichterungen für Lebensmittelspender würden jedoch derzeit, gemeinsam mit dem Bundesfinanzministerium, ausgelotet, sagte eine Sprecherin des Landwirtschaftsministeriums MDR AKTUELL.

In Zeiten in denen die Last der Tafeln immer weiter steigt und sich der Sozialstaat zunehmend auf die Spenden von Privatmenschen verlässt, wollen die Tafeln an den Tisch der Entscheiderinnen und Entscheider geholt werden. Die Bundespolitik könnte davon profitieren. Wenn es um die Vermeidung von Lebensmittelverschwendung geht, kennt sich wohl kaum ein Partner besser aus.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL RADIO | 26. Februar 2023 | 06:00 Uhr

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