Eine Mitarbeiterin überprüft die Produktion von Kapseln.
Qualitätskontrolle beim deutschen Pharma-Unternehmen Stada. Bildrechte: picture alliance / dpa | Frank Rumpenhorst

Analyse Darum wird es weiter Lieferengpässe bei Medikamenten geben

26. August 2023, 18:07 Uhr

Immer wieder sorgen Berichte über Engpässe bei wichtigen Medikamenten wie Antibiotika, Krebspräparaten, Blutdrucksenkern oder Schmerzmitteln für Aufregung. Was läuft schief in Deutschland und wie ernst ist die Lage vor der erwarteten neuen Infektionswelle im Winter? Welche Rolle spielen die oft kritisierten Festpreise und Rabattverträge? Die verschiedenen Akteure sehen unterschiedliche Lösungsansätze.

MDR AKTUELL Mitarbeiter Andreas Sandig
Bildrechte: MDR/punctum.Fotografie/Alexander Schmidt

Gesundheitspolitik in Deutschland ist seit Jahrzehnten ein schwieriges Thema: Die Kosten steigen stetig, die Versorgung wird aus Sicht vieler Menschen immer schlechter. Apotheken müssen Kunden wegschicken, weil Präparate nicht vorrätig oder gar nicht lieferbar sind. Das Thema ist komplex. Einst war Deutschland die Apotheke der Welt, heute werden Wirkstoffe und Medikamente vor allem in Asien produziert. Es gibt viele Akteure – mit unterschiedlichen Ansätzen zur Problemlösung.

BfArM: Lieferengpass ist nicht gleich Versorgungsproblem

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) informiert in einer Internet-Datenbank über Lieferengpässe für Medikamente. Sprecher Maik Pommer erläutert MDR AKTUELL, dass ein Lieferengpass nicht gleichbedeutend mit einem relevanten medizinischen Versorgungsproblem sei. Oft könne eine Firma nur ein bestimmtes Präparat in bestimmter Darreichungsform (also Tablette, Saft oder Zäpfchen), in bestimmter Dosierung oder Packungsgröße vorübergehend nicht liefern.

In der Regel stehen laut Pommer wirkstoffgleiche Medikamente anderer Hersteller zur Verfügung, um Engpässe bei bestimmten Präparaten auszugleichen. Bei insgesamt über 100.000 zugelassenen Medikamenten in Deutschland gebe es derzeit etwa 500 Liefereinschränkungen, aber nur bei einer Handvoll echte medizinische Versorgungsprobleme. Dazu zählten etwa das Brustkrebspräparat Tamoxifen, aber auch gängige Medikamente wie Antibiotika oder Ibuprofen-Fiebersaft für Kinder.

Das BfArM hat nach Angaben von Pommer verschiedene Stellschrauben, um auf Engpässe zur reagieren. Das betreffe einerseits das Liefermanagement. Dann werde kurzfristig in anderen Ländern nachgeordert oder es werde bei nicht lieferbaren Mengen oder Packungsgrößen auf kleinere ausgewichen. Als einen Grund für zuletzt aufgetretene Engpässe sieht Pommer Nachholeffekte bei bestimmten Infektionskrankheiten nach der Corona-Pandemie.

Apotheken fordern für Medikamenten-Umbestellung 21 Euro statt 50 Cent

Die Bundesregierung hat auf die Probleme mit dem Lieferengpassgesetz (ALBVVG) reagiert. Es hebt unter anderem die Preisbindung für Kinderarzneimittel weitgehend auf, um den Ankauf zu erleichtern. Außerdem sollen für bestimmte Medikamente Vorräte angelegt werden und Apotheken können jetzt leichter Ersatzmedikamente ausgeben.

Die Apotheken müssen laut Gesetz den Arzneimittelbedarf für mindestens eine Woche vorhalten. Die meisten Arzneimittel sind drei Jahre haltbar. Christian Splett von der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) schränkt jedoch ein, eine Apotheke könne nicht alles in Reserve halten, das läge auch an den Lagerkosten.

Splett hält das neue Medikamentenmangelgesetz "nicht für den großen Wurf". Es biete den Apotheken zwar etwas mehr Flexibilität und Freiraum zur Preisgestaltung. Doch das Grundproblem der Abhängigkeit von einigen wenigen großen Herstellern in China oder Indien bleibe. Er sagte MDR AKTUELL, bestellt werde in der Regel beim billigsten Anbieter. Das dränge europäische Hersteller aus dem Markt. Es bleibe abzuwarten, was die Pläne von Gesundheitsminister Karl Lauterbach brächten, über neue Ausschreibungskriterien Pharmaproduzenten in der EU zu stärken.

Der Apothekerverband wünscht sich neben weiteren Lockerungen bei der Preisgestaltung auch mehr Austauschmöglichkeiten für knappe Medikamente sowie eine höhere Vergütung bei der Bestellung wirkgleicher Ersatzpräparate. Der im ALBVVG festgelegte Preisaufschlag von 50 Cent für die Apotheken gleiche den zusätzlichen Aufwand für Rücksprachen mit Praxen und Großhandel nicht im Ansatz aus. Der Apothekenverband hält bei einen durchschnittlichen Zeitaufwand von 15 bis 30 Minuten 21 Euro für angemessen.

Gesetzliche Krankenkassen verteidigen Festbeträge und Rabattverträge

Eine zentrale Rolle bei Arzneilieferengpässen spielen offenbar die Preise beim Ankauf, mit Festbeträgen und Rabatten. Die Gesetzlichen Krankenkassen legen Obergrenzen zur Erstattung fest, orientiert am unteren Drittel der Preise für vergleichbare Arzneimittelgruppen. Das betrifft etwa 80 Prozent aller ärztlichen Verordnungen in Deutschland. Dazu kommen Mengenrabatte, die bei Großabnehmern wie in Deutschland entsprechend hoch ausfallen. Kritiker machen diese Niedrigpreispolitik mitverantwortlich dafür, dass sich viele Hersteller zurückziehen und Deutschland bei hoher Nachfrage und Lieferengpässen hinten anstellen muss.

Das sieht der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) etwas anders. Sprecher Jens Ofiera sagte MDR AKTUELL, der gesetzliche Mechanismus der Festpreise habe sich bewährt und Rabatte für Großbestellungen seien marktüblich. Die gesetzlichen Kassen hätten unter anderem die Aufgabe, die insgesamt hohen Ausgaben für Arzneimittel unter Kontrolle zu halten – und damit auch die Beiträge der Versicherten. Die Ursachen von Lieferengpässen bei Arzneimitteln seien vielfältig. Wo es Engpässe gebe, wie bei den Fiebersäften für Kinder, habe der Gesetzgeber mit der GKV und anderen Akteuren reagiert. Für Kinderarznei seien im ALBVVG die Festbeträge ausgesetzt worden. Ofiera verweist darauf, dass es auch bei Medikamenten ohne Preisbindung Lieferprobleme gegeben habe.

Der GKV-Sprecher hält Änderungen am Prinzip der Festbeträge und bei Rabatten nicht für zielführend. Spielraum für Einsparungen bei Medikamenten sieht er vielmehr bei einigen hochpreisigen Arzneimitteln, mit denen Pharmaunternehmen gute Gewinne machten. Als Maßnahmen gegen Medikamentenengpässe setzen die Kassen auf eine Verbesserung der Datenbank für Lieferprobleme, auf eine stärkere Bevorratung bestimmter Arzneimittel sowie auf die Diversifizierung der Produktion, um unabhängiger von einzelnen Herstellern zu werden.

Auch der AOK-Verband erwartet vom neuen Gesetz gegen Arzneimittelengpässe keine grundsätzliche Besserung. Sprecher Peter Willenborg sagte MDR AKTUELL, er sehe keine nachhaltige Verbesserung der Versorgungssicherheit, jedoch Mehrbelastungen bei den Kassen. Dadurch drohten weitere Beitragssatzerhöhungen. Die AOK widersprach auch Vorwürfen, dass die Niedrigpreispolitik der gesetzlichen Kassen mitverantwortlich für Lieferengpässe in Deutschland sei. Dagegen spreche die höhere Verfügbarkeitsquote rabattierter Arzneimittel gegenüber dem Restmarkt. Zudem unterschritten Anbieter teilweise sogar die Festbetragsgrenzen.

Deutsche Arzneimittelhersteller werfen GKV Preis-Dumping vor

Der Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH) bewertet die vom GKV-Spitzenverband initiierten Festbetragsaussetzungen als Ausdruck "von Ideenlosigkeit, denn als Perspektive". Sprecher Armin Edalat sagte MDR AKTUELL, der Gesetzgeber versuche, den Generika-Markt zu stabilisieren. Zu starke Preis- und Abschlagsregulierungen hätten ganz offensichtlich viele Hersteller aus dem Markt gedrängt. Für mehr Versorgungssicherheit "müssten Kostendämpfungsinstrumente wie Festbeträge oder Rabattverträge behutsam eingesetzt werden".

BAH-Sprecher Edalat zufolge ist der Anteil der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung für Arzneimittel seit vielen Jahren konstant, während die Einsparungen der Kassen durch Rabattverträge, Hersteller- und Apothekenabschläge sowie Zuzahlungen der Patientinnen und Patienten immer größer werden. Nach BAH-Daten haben die GKV 2022 ihr Arzneimittelkosten von 55,4 Milliarden Euro auf 44,6 Milliarden Euro gedrückt. Das seien knapp 20 Prozent – durch Rabatte und Abschläge der Hersteller sowie Zuzahlungen der Patienten.

Auch die im ALBVVG beschlossenen Bevorratungspflichten sehen die Arzneimittelhersteller kritisch. Sie sorgten für zusätzliche "finanzielle Belastungen und logistische Herausforderungen", ohne die ursächlichen Probleme zu lösen. Der BAH appelliert an die Politik, den Pharmastandort Deutschland zu stärken, indem Bürokratie abgebaut und Genehmigungsverfahren beschleunigt werden. So könnten noch vorhandene Hersteller in Deutschland vom Abwandern abgehalten werden.

Pro Generika kritisiert Abhängigkeit von einzelnen Herstellern

Pro Generika, der Verein von Produzenten generischer Medikamente (ohne Patentschutz) in Deutschland, führt Lieferengpässe vor allem auf die Abhängigkeiten von wenigen Herstellern zurück. Aufgrund des extremen Preisdrucks hätten sich viele Produzenten zurückgezogen. Bei vielen Antibiotika gebe es von den Wirkstoffen bis zum Präparat nur noch wenige chinesische Anbieter. Eine Erschütterung der Lieferkette oder eine massiv erhöhte Nachfrage – dann drohe ein Engpass.

Ein Hauptproblem scheint demnach die Sparpolitik im deutschen Gesundheitswesen zu sein. Pro-Generika-Sprecherin Anna Steinbach zufolge zahlen nur wenige europäische Länder noch niedrigere Preise für Generika. Sie verweist auf ein extremes Missverhältnis: 2021 seien acht von zehn in Deutschland verordneten Arzneimitteln Generika gewesen. Diese hätten aber nur 7,2 Prozent an den Arzneimittelausgaben ausgemacht. Die Infektionswellen nach der Corona-Pandemie haben das Problem aus Sicht von Pro Generika verschärft. Die auch in anderen Ländern gestiegene Nachfrage habe gezeigt, dass Produktionskapazitäten und der Warenbestandspuffer nicht ausreichten.

Nach Einschätzung von Pro Generika wird auch das neue Lieferengpassgesetz (ALBVVG) nicht viel bewirken. Das entlaste weder die Hersteller, noch setze es genug Anreize, um wieder in Europa zu produzieren. Zwar gebe es eine Preisöffnung bei Kinderarzneimitteln und Antibiotika, doch es gebe weitere Arzneimittel mit instabiler Versorgung.

Pro Generika fordert, Rabattverträge für fünf Jahre auszusetzen und die Festbeträge zu erhöhen. Nur das gebe Unternehmen die nötige Planungssicherheit. Zudem brauche es mehr Diversifizierung bei den Ausschreibungen, um die krasse Abhängigkeiten von einzelnen Herstellern und Weltregionen zu senken. Zugleich sei die Politik gefragt, mit allen Beteiligten abzuklären, bei welchen Arzneimitteln Deutschland unabhängig werden wolle vom Ausland. Diese Wirkstoffe müssten benannt werden und dann müsse man sehen, wie die Produktion hierzulande gestärkt werden könne.

Gesundheitsministerium verfolgt europäischen Lösungsansatz

Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) betont, von Lieferengpässen bei Medikamenten sei ganz Europa betroffen. Daher suche man Lösungen mit den EU-Partnern. Deutschland trete für mehr Kontrolle bei der Wirkstoffherstellung ein, verfolge aber auch eine Diversifizierung der Wirkstoffproduktion und Lieferketten. Doch der Aufbau neuer Produktionskapazitäten in Europa sei teuer und logistisch schwierig. Das könne nur produktspezifisch erfolgen.

Ein Schritt zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit ist laut BMG das im Juli beschlossene Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG). Es stärke die Wirkstoffproduktion in Europa und werde durch neue Preisgestaltungen die Lieferfähigkeit für versorgungskritische Arzneimittel verbessern. Weitere Instrumente sind demnach das Frühwarnsystems beim BfArM zur Erkennung von Lieferengpässen und eine Liste mit Arzneimitteln für Kinder, bei denen die Festpreise gelockert wurden.

Sind gesetzlich und privat Versicherte gleichermaßen betroffen?

Auf MDR-Nachfrage, ob Medikamenten-Engpässe GKV und Privatkassen gleichermaßen treffen, heißt es vom BMG: "Die Leistungen der Privaten Krankenversicherung hängen von der Ausgestaltung des individuellen Versicherungsvertrages ab. Für Apotheken besteht die Pflicht zur Belieferung unabhängig von der Art der Verschreibung. Soweit ein Arzneimittel in der Apotheke vorrätig ist, bestehen insofern in der Versorgung von gesetzlich und privat Versicherten keine Unterschiede. Die (...) Erleichterungen für Apotheken beim Austausch nicht verfügbarer Arzneimittel gelten ebenfalls für an GKV- bzw. PKV-Versicherte abgegebene Arzneimittel gleichermaßen."

Kassenärzte: Wir müssen unsere Preispolitik für Medikamente überdenken

Es bleibt also ein Problem und gibt dazu viele Meinungen. Was sagt die Ärzteschaft, die die Medikamente verschreibt? Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) unterstützt eine Reduzierung von Rabattverträgen. Das würde Arzneimittelhersteller mehr Anreize bieten, in die Produktion einzusteigen. Es sei auch strategisch sinnvoll, Produktionsstätten in Deutschland und Europa neu zu errichten und entsprechend zu fördern. Allerdings brauche das Zeit. Unter Umständen müsse man die Idee einer nationalen Arzneimittelreserve diskutieren.

KBV-Vizechef Stephan Hofmeister mahnte zu Jahresbeginn, es brauche für wichtige Arzneimittel mehrere Hersteller und mehr Kontrolle. Das mache es etwas teurer und komplexer, aber senke die Abhängigkeiten. "Und das hat zu tun mit der Art, wie wir Arzneimittel bestellen, wie wir sie bezahlen, wie wir unsere Verträge schließen. (...) Es gibt da eine Menge zu tun."

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 24. August 2023 | 10:13 Uhr

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