Gesundheitsministerium Triage-Gesetz: Überlebenschancen sollen ausschlaggebend für Entscheidung sein

26. Oktober 2022, 05:00 Uhr

Was, wenn sich Krankenhäuser füllen, aber zu wenig Geräte da sind? Wer soll versorgt werden, wer warten? Während der Corona-Pandemie ist diese Frage viel diskutiert worden. Ärzte sollen dann eine moralisch und ethisch schwierige Entscheidung fällen, die sogenannte Triage. Das Bundesgesundheitsministerium hat nun einen Gesetzentwurf vorgelegt. Er sieht vor, dass die Überlebenschancen von Patienten ausschlaggebend für die Entscheidung sein sollen. Daran gibt es viel Kritik.

Zehn Patienten, aber nur sieben Beatmungsgeräte – wer muss warten, wer wird versorgt? Für Sigrid Arnade ist klar: Jedes Leben sei gleich viel wert, sagt die Mitinitiatorin des Runden Tischs Triage, ein Zusammenschluss verschiedener Behindertenverbände. Wegen einer vermeintlich schlechteren Überlebenschance dürfe niemand hinten angestellt werden. "Zu sagen 'Survival of the Fittest, wir opfern die Schwächeren zugunsten der Stärkeren', schon das widerspricht unseren Grund- und Menschenrechten. Kein Leben ist mehr wert als ein anderes, junges nicht mehr als altes, nicht-behindertes ist nicht mehr wert als behindertes Leben. Und deshalb kann man so ein Kriterium nicht als ein Kriterium zur Entscheidung über Leben und Tod machen."

Gesetzentwurf: Überlebenschancen sollen ausschlaggebend sein

Sigrid Arnade schlägt vor: Wer zuerst ins Krankenhaus kommt, sollte auch zuerst behandelt werden. Kommen mehrere zur selben Zeit, sollte gelost werden. Egal, wie die Überlebenschancen eines Patienten aussehen. "Um das Ganze wirklich diskriminierungsarm zu machen – diskriminierungsfrei geht vielleicht gar nicht – geht nur ein Randomisierungsverfahren. Aber es darf nicht im Ermessen von Menschen, auch nicht von Ärztinnen und Ärzten, liegen, zu sagen: Du kriegst eine Überlebenswahrscheinlichkeit und du nicht."

Der nun vorliegende Gesetzentwurf des Gesundheitsministeriums enttäuscht Sigrid Arnade. Denn er sieht genau das Gegenteil ihrer Forderung vor. Ausschlaggebend soll demnach nur die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit eines Patienten sein. Zwar schreibt der Entwurf auch vor, dass Alte, Behinderte oder gebrechliche Menschen nicht benachteiligt werden dürfen. Doch wird das in der Praxis wirklich auch so umgesetzt? Der Gesetzentwurf birgt viel Konfliktstoff.

Kritik kommt auch von Ärztinnen und Ärzten

Auch Ärzte kritisieren ihn, und zwar aus einem anderen Grund: Der Entwurf schreibt Ärzten nämlich vor, dass Behandlungen niemals abgebrochen werden dürfen. Patienten, die zum Beispiel beatmet werden, müssen weiter beatmet werden, auch dann, wenn ein Patient mit besseren Aussichten ins Krankenhaus kommt. Das kritisiert die Bundesärztekammer.

Und der Münchner Medizinethiker Prof. Georg Marckmann gibt zu Bedenken: "Die vorgesehene gesetzliche Regelung bringt Ärzte in schwierige Entscheidungssituationen. Wenn Sie einen Patienten haben, von dem Sie wissen, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit sterben wird und Sie dürfen ihn nicht von der Intensivmedizin wegnehmen, dann sind Sie möglicherweise in dem Konflikt, dass Sie sich überlegen, ob Sie das doch tun sollten, um andere Person retten zu können. Und dann machen Sie sich möglicherweise strafbar."

Georg Marckmann befürchtet sogar mehr Todesopfer, wenn Patienten ohne Überlebenschancen weiter behandelt werden müssen. "Diese Patientinnen und Patienten belegen dann sehr lange ein knappes Intensivbett. Und am Ende versterben sie dann trotz aller intensivmedizinischen Bemühungen. In der gleichen Zeit hätten andere Patienten mit einer besseren Erfolgsaussicht behandelt werden können, sodass man insgesamt mehr Menschenleben retten kann."

Mit dem Entwurf setzt das Gesundheitsministerium einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts um. Das hatte im vergangenen Dezember den Gesetzgeber aufgefordert, Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderung zu treffen, damit diese in Krankenhäusern bei Triage-Entscheidungen nicht benachteiligt werden. Über den Entwurf debattiert in diesen Tagen der Bundestag. Am 10. November soll er im Bundestag beschlossen werden.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 26. Oktober 2022 | 06:00 Uhr

51 Kommentare

astrodon am 27.10.2022

@schwester65: ... und dabei ist die Personalsituation im Krankenhaus noch nicht mal die schlimmste, wenn man auf die stationäre Altenpflege schaut.
Kaputtgespartes System und Unvernunft sind zwar zwei Faktoren, die Pandemie sicher ein Multiplikator - aber Triage ist doch bei jedem größeren Unglücksfall angesagt. Und ich verstehe den Gesetzentwurf (hoffentlich richtig) dahingehend, dass eben die Prognose den Ausschlag geben soll - und nichts sonst.

ElBuffo am 27.10.2022

Es geht hier um die konkrete Überlebenswahrscheinlichkeut zum Zeitpzunkt der Entscheidung und nicht 5 Tage später. Wäre das so, wäre der ältere logischerweise immer gleich raus.

schwester65 am 27.10.2022

Als Intensivkrankenschwester auf einer Covidstation muss ich sagen, dass ich diese Diskussionen von beiden Seiten total schräg finde. Weder der Gesetzgeber noch Frau Arnade haben je Patienten mit schwersten Covidverläufen betreut und wissen nicht, was das bedeutet und mit wieviel physischem und psychischen Stress das auch für die Behandler verbunden ist. Viele von uns haben keine Kraft mehr und wollen den Beruf verlassen, viele sind schon weg. Das Gesundheitswesen wurde kaputtgespart, Gewinnmaximierung kam vor der Versorgung der Patienten, oft auf dem Rücken des Personals. Erst wegen dieses maroden Systems und der Unvernunft vieler Mitbürger muss überhaupt erst über Triage gesprochen werden. Aber ich muss eines klar sagen und das ohne irgendeine Festlegung des Wertes eines Menschenlebens.
Wenn ich gezwungen werde, Patienten mit Null Prognose weiterzuversorgen, während andere mit guter Prognose sterben, weil das Los so entschieden hat, dann werde auch ich diesem Beruf entsagen.

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