Deutlicher Anstieg Verfassungsschutz stuft fast 40.000 Menschen als Rechtsextremisten ein

20. Juni 2023, 21:00 Uhr

Das Bundesamt für Verfassungsschutz ordnet deutlich mehr Menschen in Deutschland dem rechtsextremistischen Spektrum zu als noch vor einem Jahr. Grund ist unter anderem, dass erstmals viele Angehörige der AfD hinzugerechnet werden. Dem aktuellem Verfassungsschutzbericht zufolge stieg die Zahl rechter Straftaten an, während die Zahl linker Straftaten sank.

Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, und Nancy Faeser (SPD), Bundesministerin für Inneres und Heimat, äußern sich bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2022 in der Bundespressekonferenz.
Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang (l.) und Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Bildrechte: picture alliance/dpa | Christoph Soeder

Das Bundesamt für Verfassungsschutz ordnet deutlich mehr Menschen in Deutschland dem rechtsextremistischen Spektrum zu als noch vor einem Jahr. Dem aktuellen Verfassungsschutzbericht zufolge stieg die Zahl 2022 auf bundesweit 38.800 Personen – das entspricht einem Zuwachs von 14,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Bundesinnenministerin Nancy Faeser sagte, die größte Gefahr für die Demokratie sei nach wie vor der Rechtsextremismus. Der SPD-Politikerin zufolge ist aber auch eine hohe Radikalisierung im gewaltorientierten Linksextremismus zu konstatieren.

10.000 Mitglieder von AfD und JA werden dem Rechtsextremismus zugerechnet

Einer der Gründe für die starke Zunahme auf der rechtsextremen Seite ist, dass der Verfassungsschutz erstmals Angehörige der AfD hinzurechnet. So schätzt das Bundesamt, dass 10.200 Mitglieder der Partei und ihrer Jugendorganisation "Junge Alternative" als Anhänger extremistischer Strömungen zuzurechnen sind. Damit werden nicht alle AfD-Mitglieder solchen Strömungen zugeordnet, da innerhalb der Partei dem Verfassungsschutz zufolge weiterhin eine "inhaltlichen Heterogenität" besteht.

Die AfD-Spitze kritisierte den Bericht. Co-Chefin Alice Weidel sagte, hier werde alles aufgefahren, um die AfD zu diskreditieren. Co-Chef Tino Chrupalla sagte, der Verfassungsschutz habe "einfach wieder eine pauschale Zahl genannt". Die AfD prüfe, ob sie rechtlich dagegen vorgehe.

Verfassungsschutz: Deutlich mehr extremistische Straftaten

Einen Höchststand stellt der Verfassungsschutz bei den extremistischen Straftaten fest. Laut dem Bericht wurden im vergangenen Jahr bundesweit rund 35.500 Delikte mit extremistischem Hintergrund registriert. Gut 2.800 davon waren Gewalttaten.

Die Zahl rechtsextremistisch motivierter Straftaten stieg im vergangenen Jahr um 3,8 Prozent auf knapp 23.500 Fälle.

Haldenwang warnt vor Linksextremisten in kleinen Gruppen

Die Zahl linksextremistisch motivierter Straftaten ging dem Verfassungsschutz zufolge um rund 37 Prozent zurück – von 10.113 auf 6.976. Darunter waren 842 Gewalttaten (2021: 1203). Das linksextremistische Potenzial stieg laut Verfassungsschutz hingegen um 5,2 Prozent auf 36 500 Menschen.

Haldenwang sagte, eine große Gefahr gehe von kleinen, im Geheimen agierenden Gruppen aus, die mit großer Brutalität insbesondere gegen den politischen Gegner, insbesondere Rechtsextremisten, vorgehen. Linksextremistische Gewalt richte sich aber auch gegen Polizeikräfte, die teilweise in Hinterhalte gelockt würden. Haldenwang verwies auf einen Fall in Leipzig, wo eine Flasche mit brennbarer Flüssigkeit auf einen Polizisten geworfen worden sei: "Wäre der Polizist getroffen worden, man weiß nicht, wie es ausgegangen wäre."

Sachsen verzeichnet die meisten Straftaten von Links

Die meisten von Linksextremisten verübten Gewalttaten wurden dem Bericht zufolge mit 173 aus Sachsen gemeldet. Im gleichen Zeitraum wurden im Freistaat 58 rechtsextremistische Gewalttaten erfasst. Der Obmann der Grünen im Innenausschuss des Bundestages, Marcel Emmerich, erklärt dazu, diese Zahlen sorgten für Fragezeichen. Er warnte: "Es wäre fatal, wenn mit zweierlei Maß gemessen wird und dadurch insbesondere Gewalttaten von rechts nicht als solche erfasst werden, obwohl die rechtsextreme Szene dort nach allem, was wir wissen, stark vertreten ist."

Sachsen-Anhalt: Reichsbürgerszene weiter gewachsen

In Sachsen-Anhalt ist die Zahl der sogenannten Reichsbürger weiter gewachsen. Das geht aus dem ebenfalls am Dienstag vorgelegten Bericht des Landes-Verfassungsschutzes hervor. Im Jahr 2022 wurden der Szene 650 Anhänger zugerechnet, nach 600 im Jahr 2021 und 500 im Jahr 2020. Vor dem Hintergrund der Coronapandemie und dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine habe die Szene erfolgreich neue Anhänger rekrutieren können und nutze dabei verschwörungsideologische Erzählungen. Die rechtsextremistische Szene verharrte in Sachsen-Anhalt laut Bericht mit 1.270 Personen etwa auf dem gleichen Niveau wie im Vorjahr. Der linksextremen Szene seien 600 Personen zuzuordnen.

Thüringens Verfassungsschutzpräsident warnt vor Querfront

Thüringens Verfassungsschutz-Präsident Stephan Kramer warnt vor der Bildung einer neuen Querfront aus linken und rechten Feinden der Demokratie. Zwischen der AfD-Anhängerschaft und dem Lager der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht gebe es unbestreitbar politisch-inhaltliche Schnittmengen, sagte Kramer der in Suhl erscheinenden Tageszeitung "Freies Wort".

Auch Bundesverfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang sagte bei der Vorstellung seines Berichts, man stelle fest, dass die Grenzen innerhalb von Phänomenbereichen verschwimmen und sich Mischszenen bildeten.

Erstmals Zahlen zum neuen Bereich "Delegitimierung des Staates"

Erstmals legte der Verfassungsschutz Zahlen zum neu definierten Phänomen "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" vor. Die Kategorie war in Folge der Corona-Proteste eingeführt worden. Der Inlandsgeheimdienst sieht hier ein extremistisches Potenzial von rund 1.400 Menschen bundesweit. Etwa 280 Menschen aus diesem Spektrum werden als gewaltorientiert eingestuft. Dabei geht es um Menschen, die nicht dem klassischen Rechts- oder Linksextremismus zuzuordnen sind, und nach Einschätzung des Verfassungsschutzes versuchen, "Krisensituationen und Ängste in der Bevölkerung zu instrumentalisieren, um staatliche Stellen und politische Verantwortungsträger zu diskreditieren".

Klimaschützer der "Letzte Generation" keine extremistische Gruppierung

Die Klimaschutzaktivisten "Letzte Generation" werden vom Verfassungsschutz derzeit nicht als extremistische Gruppierung angesehen. Haldenwang sagte, Extremismus setze eine Bedrohung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung voraus. "Das sehen wir bei der Letzten Generation noch nicht".  Die Masse der Menschen in der Klimabewegung setze sich für ihre Ziele unter dem Dach des Grundgesetzes ein. Es gebe aber "kleine Gruppierungen, die eindeutig extremistisch" seien. Irgendwo in diesem Spannungsfeld bewege sich die Letzte Generation.

China "größte Bedrohung" für Wirtschafts- und Wissenschaftsspionage

Das Bedrohungspotenzial durch Islamismus und islamistischen Terrorismus gilt dem Bericht zufolge weiterhin als hoch. Eine dringende Warnung enthält der Bericht zu China. Der Verfassungsschutz hält die Volksrepublik derzeit für "die größte Bedrohung in Bezug auf Wirtschafts- und Wissenschaftsspionage sowie ausländische Direktinvestitionen in Deutschland".

Zugleich rechnet der Verfassungsschutz vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs mit noch "aggressiveren Spionageoperationen Russlands" in Deutschland. Russische Nachrichtendienste bedienten sich teilweise drastischer Methoden und schreckten in äußerster Konsequenz auch nicht vor der Tötung von Oppositionellen und Abtrünnigen zurück, sagte Haldenwang. "Diese sehr robuste Art des Vorgehens, so etwas sehen wir bei Chinesen nicht."

dpa, afp, reuters (fef)

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL – Das Nachrichtenradio | 20. Juni 2023 | 12:00 Uhr

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