Eine Person sitzt am Tisch mit dem Handy und informiert sich über den Antrag für Bürgergeld.
Für Geringverdiener in bestimmten Einkommensbereichen zahlt sich Mehrarbeit kaum aus. Bildrechte: IMAGO / Fotostand

Sozialpolitik Bürgergeld und Grundsicherung: Gutachten empfiehlt Reform

06. November 2023, 11:02 Uhr

Beim seit 2023 geltenden Bürgergeld und bei den Grundsicherungsleistungen für Aufstocker gibt es offensichtlich Konstruktionsfehler: Eigentlich angestrebter Zuverdienst zahlt sich in bestimmten Einkommensbereichen kaum aus – und kann sogar zu Nettoeinbußen führen. Gutachter kritisieren zudem Parallelstrukturen und Intransparenz.

MDR AKTUELL Mitarbeiter Andreas Sandig
Bildrechte: MDR/punctum.Fotografie/Alexander Schmidt

Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium empfiehlt eine Reform der sozialen Grundsicherung. Ein Gutachten sieht "große Defizite" bei der Abstimmung verschiedener Leistungen, insbesondere den Zuverdienstregeln. Denn: Geringverdiener haben bis zu bestimmten Einkommensgrenzen Anspruch auf Beihilfen. Grundsatz ist eigentlich, dass sich Arbeit lohnen soll und netto mehr einbringt als Sozialleistungen – doch die Praxis sieht teils anders aus.

Die Wissenschaftler untersuchten die Einkommensverläufe exemplarischer Haushaltstypen in München und Leipzig. Es wurde berechnet, welches Nettoeinkommen dem Haushalt bei verschiedenen Bruttoarbeitseinkommen bleibt, wenn er die maximalen Fürsorgeleistungen in Anspruch nimmt.

Hauptproblem sind hohe und intransparente Transferentzugsraten

Dabei zeigte sich, dass sich ein höheres Bruttoeinkommen in bestimmten Einkommensintervallen kaum lohnt, weil im Gegenzug Sozialleistungen zu stark abgeschmolzen werden. Im Extrembeispiel von Eltern mit zwei Kindern in München führte das zum paradoxen Ergebnis, dass bei einer Erhöhung des Bruttoeinkommens eines Elternteils zwischen 4.000 und 5.000 Euro sich die staatlichen Leistungen so stark verringern, dass der Familie netto einige Euro weniger bleiben.

Eine besondere Rolle spielen dabei regional unterschiedlich hohe Wohnkosten. Die Höhe der Abschmelzrate des Wohngeldes wird nach einer speziellen Formel errechnet. Der am Gutachten beteiligte Wirtschaftswissenschaftler Ronnie Schöb von der FU Berlin fasst für MDR AKTUELL zusammen: "Je höher die Miete, desto höher die Abschmelzrate."

Regional große Unterschiede bei den Arbeitsanreizen

Das Bürgergeld soll Arbeitslosen ein soziokulturelles Existenzminimum garantieren. Das schließt die sogenannten Kosten der Unterkunft ein, die Miete für eine angemessene Wohnung sowie Heizung und Warmwasser. Im zweiten Hilfesystem werden Menschen mit relativ geringem Einkommen ein Wohngeld-Zuschuss und zusätzliche Hilfen für Kinder gewährt. Laut dem Gutachten hat die unterschiedlich hohe Abschmelzrate des Wohngeldes aber zur Folge, "dass sich die bedarfsorientierte Grundsicherung für Geringverdiener-Haushalte gleichen Typs mit gleichem Bruttoeinkommen regional stark unterscheidet und zu großen Unterschieden bei den Arbeitsanreizen führt".

Bemängelt werden vom Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesjustizministerium auch die Intransparenz von Leistungen sowie bürokratische Auswüchse. Es sei für einzelne Empfänger kaum ersichtlich, welcher Anteil eines (zusätzlichen) Bruttoeinkommens behalten werden darf. Unterschiedliche Zuständigkeiten und Rechtskreise für die Förderinstrumente erschwerten die Beantragung der Leistungen sowie die Abstimmung der Systeme. Das könne dazu führen, dass Transferbezieher wiederholt zwischen beiden Grundsicherungssystemen wechseln müssen. Denn Bürgergeld, Wohngeld und Kindergrundsicherung sind jeweils bei anderen Bundesministerien angesiedelt.

Familie in München bekommt bis zu 1.000 Euro mehr Wohngeld als in Leipzig

Um dieses Problem zu veranschaulichen, werden in dem Gutachten Einkommensverläufe von drei Haushaltstypen in München und Leipzig verglichen, für:

  1. eine alleinstehende Person,
  2. Alleinerziehende mit einem Kind unter 6 Jahren,
  3. ein Ehepaar mit zwei Kindern zwischen 7 und 13 Jahren, bei dem ein Elternteil das gesamte Bruttoeinkommen erwirtschaftet und das Ehepaar die Einkommensteuer gemeinsam veranlagt.

Das Wohngeld wird bis zu einer lokalen Höchstgrenze als Zuschuss zur Bruttokaltmiete gezahlt. Die Tabelle gibt daneben auch die tatsächlichen, durchschnittlich übernommenen Kosten der Unterkunft an. Für Heizung und Warmwasser gibt es einen bundesweit einheitlichen pauschalen Zuschuss. Aufgrund höherer Durchschnittsmieten in München sind die veranschlagten Wohnkosten dort teils mehr als doppelt so hoch wie in Leipzig. In Leipzig sind es bei Alleinstehenden maximal 402 Euro, in München 945 Euro. Beim Ehepaar mit zwei Kinder sind es in Leipzig maximal 777 Euro, in München fast 1.000 Euro mehr. Entsprechend wachsen die Mindestbedarfe, aber auch die Entzugsraten bei wachsenden Einkommen: In Leipzig liegen sie für Familien bei etwa 24 Prozent, in München bei über 30 Prozent.

Kosten der Unterkunft (KdU) in Leipzig und München im Februar 2023 in Euro
Leipzig durchschnittliche KdU maximale KdU Mindestbedarf durchschnittlich Mindestbedarf maximal
alleinstehend 355 402 857 904
alleinerziehend mit einem Vorschulkind 486 524 1.487 1.524
Eltern mit zwei Schulkindern 668 777 2.266 2.375
München durchschnittliche KdU maximale KdU Mindestbedarf durchschnittlich Mindestbedarf maximal
alleinstehend 575 945 1.077 1.447
alleinerziehend mit einem Vorschulkind 788 1.216 1.789 2.217
Eltern mit zwei Schulkindern 1.134 1.735 2.732 3.333

Zuverdienst-Grenzen beim Bürgergeld

Das Bürgergeld bietet durch die Hinzuverdienstregelungen Anreize, eine Arbeit aufzunehmen, seit 1. Juli 2023 mit folgenden Freibetragsstufen:

  • Grundfreibetrag 100 Euro
  • 1. Stufe - 20 Prozent (über 100 bis 520 Euro/Minijobgrenze)
  • 2. Stufe - 30 Prozent (über 520 bis 1.000 Euro)
  • 3. Stufe - 10 Prozent (über 1.200 Euro bzw. 1.500 Euro mit Kindern)

Daraus ergibt sich für ein Bruttogehalt von beispielsweise 1.200 Euro folgende Rechnung: (weitere Beispiele)

Vom Bruttoeinkommen 1.200 Euro bleiben abzüglich:

  • 100 Euro Grundfreibetrag
  • Freibetrag Stufe 1: 20% von 520 Euro = 84 Euro
  • FB Stufe 2: 30% von 480 Euro = 144 Euro
  • FB Stufe 3: 10% von 200 Euro = 20 Euro
  • Es bleiben 348 Euro Gesamtfreibetrag zusätzlich zum Bürgergeld-Regelsatz

Dazu die Gutachter: Die Anrechnungsregelungen für Wohngeld und Kinderzuschlag bewirken Einkommensintervalle ohne oder nur mit geringem Arbeitsanreiz. Ab einem Bruttoeinkommen von 1.200 Euro (ohne Kind) und 1.500 Euro (mit Kind) werden zusätzliche Einkommen voll mit dem Bürgergeld verrechnet.

Entscheidende Faktoren bei der Berechnung von Grundleistungen sind also die Wohnkosten. So bleibt bei der vierköpfigen Familie in Leipzig vom höheren Bruttoeinkommen eines Elternteils zwar auch netto einiges übrig. Jedoch gibt es einen großen Einkommensbereich von 2.410 Euro bis 4.030 Euro, in dem der Leipziger Haushalt nur relativ wenig davon behalten kann. In München ergaben sich sogar zwei Lohnintervalle, in denen sich Mehrarbeit kaum lohnt oder sogar zu Nettoeinbußen führen kann.

Eine Informationsgrafik zu Einkommen und Grundsicherung
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Regionale Unterschiede beim Kinderzuschlag und zur Abdeckung des alltäglichen Bedarfs

Haushalte mit Kindern erhalten im zweiten Grundsicherungssystem vom Bund monatlich altersunabhängig je Kind 250 Euro Kindergeld und maximal 250 Euro Kinderzuschlag. Im Gegensatz zum Kindergeld wird der Kinderzuschlag bei steigendem Einkommen abgeschmolzen. Die entsprechende Transferentzugsrate hängt wie beim Wohngeld von der individuellen Lebenssituation ab. Für die beschriebenen Musterhaushalte mit Kindern liegt der Transferentzug im Schnitt zwischen 18 Prozent und 28 Prozent.

Das Gutachten zeigt auf, dass vergleichbare Haushalte in unterschiedlichen Orten hinsichtlich des alltäglichen Bedarfs ungleich behandelt werden. Haushalte in Leipzig und München haben nach Abzug der kompletten Warmmiete im zweiten Grundsicherungssystem bei maximaler Förderung mit Wohngeld, Kinderzuschlag und Kindergeld unterschiedlich viel Geld zur Abdeckung des alltäglichen Bedarfs zu Verfügung. So hat die vierköpfige Leipziger Familie bei einem Bruttoeinkommen von 2.400 Euro über 600 Euro im Monat mehr für die alltäglichen Ausgaben zur Verfügung als die Münchener Familie.

Die Gutachter kritisieren: "Dauerhaft werden die unterschiedlichen zeitlichen Fortschreibungen von Regelsätzen, den Höchstsätzen bei Wohnkosten und der Anpassung des Wohngeldes dazu führen, dass Transferbezieher unter Umständen wiederholt zwischen den zwei Grundsicherungssystemen wechseln müssen. Damit sind sie mit wechselnden Ansprechpartnern in der Verwaltung konfrontiert."

Reformvorschlag: Ein Grundsicherungssystem, ein Wohngeld, niedrigere Transferentzugsraten

Angesichts dieser Verwerfungen schlägt der Wissenschaftliche Beirat vor, die zweigeteilte Grundsicherung bei Einführung der geplanten Kindergrundsicherung zu vereinheitlichen und die Transferleistungen gerechter zu gestalten. Zugleich müssten die Hinzuverdienstregelungen transparenter werden und ein Wechsel in sozialversicherungspflichtige Jobs besser gefördert werden. Im Kern wird empfohlen:

  • Das neue Bürgergeld umfasst nur noch den alltäglichen Bedarf für Erwachsene entsprechend der aktuellen Regelbedarfsstufen 1 bis 3.
  • Die neue Kindergrundsicherung soll Regelbedarfsleistungen sowie Kindergeld und Kinderzuschlag bündeln und aus einem einkommensunabhängigen Garantiebetrag und einem Zusatzbetrag bestehen. Der Zusatzbetrag wird wie die aktuellen Regelbedarfe und der Kinderzuschlag mit steigendem Einkommen abgeschmolzen.
  • Die Kindergrundsicherung sollte ausschließlich den alltäglichen Bedarf Minderjähriger abdecken und, anders als geplant, keine speziellen Zuschüsse wie eine Kinderwohnkostenpauschale enthalten. So wird eine doppelte Förderung der Wohnkosten bei Kindern vermieden.
  • Die Kosten der Unterkunft (Bürgergeld) und das Wohngeld (zweites Grundsicherungssystem) werden in einem neuen Wohngeld zusammengefasst. Dabei gibt es wie bisher regional differenzierte Höchstgrenzen und es wird mit steigendem Einkommen abgeschmolzen.

Der aufwändigste Reformschritt ist aus Sicht der Forscher die Bündelung zu einem Wohngeld, weil Bund und Länder die Finanzierung neu regeln müssten. Um Arbeitsanreize zu fördern, empfiehlt der Wissenschaftliche Beirat niedrigere Transferentzugsraten für sozialversicherungspflichtige Arbeit.

(Der Artikel wurde am 5. November 2023 mit einer präziseren Unterscheidung der Übernahme der Kosten für die Unterkunft beim Bürgergeld und den Wohngeld-Zuschüssen für Aufstocker aktualisiert. Mehr dazu vom Bürgergeld-Verein)

Dieses Thema im Programm: MDR S-ANHALT | FAKT IST aus Magdeburg | 07. November 2023 | 22:10 Uhr

70 Kommentare

Micha R vor 25 Wochen

@ Ilse
"...1923 gab z.B. in Deutschland nur Millionäre, sogar viele Milliardäre."

Zum Ende der Hyperinflation 2023 sogar nur Milliaräre und Billionäre!
"Die Weimarer Republik steckte fünf Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs tief in der Krise. Die Preise explodierten im Lauf des Jahres 1923 in einem heute unvorstellbaren Maß - Anfang November kostete ein Brot 140 Milliarden Mark..."
https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2023/11/berlin-scheunenviertel-pogrom-5-november-1923-antisemitismus.html

Micha R vor 25 Wochen

@ ElBuffo
"...die Mindestwartezeit beträgt in Österreich 15 Jahre...."

Diese Mindestwartezeit gab es auch in der DDR, früher in ganz Deutschland.
Übrigens, weitere Belastung der Rentenversicherung ergeben sich durch §12a SGB II ab 2027!
In dem Paragraphen heißt es am Schluß: "...Für die Zeit vom 1. Januar 2023 bis zum Ablauf des 31. Dezember 2026 findet Satz 2 Nummer 1 mit der Maßgabe Anwendung, dass Leistungsberechtigte nicht verpflichtet sind, eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen."
Was ja nichts anderes bedeutet, als das ab 2027 beispielsweise Erwerbstätige, die aufstocken, dann bei Vollendung ihres 63. Lebensjahres verbunden mit Abschlägen vorzeitig eine Rente wegen Alters in Anspruch zu nehmen haben, während der Rentenversicherung damit gleichzeitig sowohl durch Wegfall deren RV-Beiträge wie durch vorzeitige Rentenzahlung an diesen Personenkreis zusätzliche Belastungen entstehen...

ElBuffo vor 25 Wochen

Da muss ich jetzt doch mal nachfragen, weil es so oft behauptet wird: Vor 20 Jahren herrschte Vollbeschäftigung und der Mindestlohn lag damals bei 12€? Und danach wurden staatlicherseits Möglichkeiten geschaffen, weniger zu zahlen?
In anderen Ländern ist es eben anders. In Österreich liegt der Beitragssatz schon seit zig Jahren bei 22,8%. Da ist den Rentnern also schonmal eine ganze Zeit lang tiefer in die linke Tasche gegriffen worden, um ihnen dann später etwas mehr in die rechte zu geben. Kann ja mal jemand den Taschenrechner bemühen und herausbekommen mit wieviel Tausend Euro weniger der Rentner in Österreich ins Rennen startet. Achja, die Mindestwartezeit beträgt in Österreich 15 Jahre. Die Beiträge all jener, die das nicht erreichen, kann man dann natürlich großzügig auf die anderen verteilen. Und die Leute, die das nicht erreichen, können auch nicht so stark den Durchschnitt drücken. Sowas sollte man schon fairerweise mit erwähnen, wenn man solche Gegenüberstellungn vornimmt.

Mehr aus Politik

Marco Buschmann, Bundesjustizminister 1 min
Bildrechte: mdr
1 min 29.04.2024 | 09:08 Uhr

Bundesjustizminster Marco Buschmann (FDP) hat sich im Bericht aus Berlin zu möglichen weiteren Spionage-Enttarnungen geäußert.

Mo 29.04.2024 08:53Uhr 00:17 min

https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/video-buschmann-spionage-enttarnungen100.html

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Video

Mehr aus Deutschland

Telekom-Mitarbiter bei einer Verdi-Kundgebung auf dem Brocken 1 min
Bildrechte: mdr
1 min 29.04.2024 | 15:54 Uhr

Im Tarifstreit mit der Deutschen Telekom hat die Gewerkschaft Verdi am Montag zu bundesweiten Warnstreiks aufgerufen. Etwa 1.500 Mitarbeiter aus mehreren Bundesländern kamen zu einer Kundgebung auf den Brocken.

Mo 29.04.2024 15:24Uhr 00:32 min

https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/wirtschaft/video-telekom-streik-brocken100.html

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Video