Arbeitsmarkt und Inklusion Warum ein Bitterfelder Unternehmen auf schwerbehinderte Mitarbeiter setzt

18. April 2023, 19:19 Uhr

Beim Bitterfelder Unternehmen SIS hat etwa jeder zehnte Mitarbeitende eine Behinderung. Man wolle beeinträchtigten Menschen eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt geben, sagt die Geschäftsführerin. Doch mit mangelnder Rücksichtnahme und Unterstützung machen Ämter und Behörden es dem Unternehmen bisweilen schwer.

Lucas Riemer
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Zettel und Stift hat Christian Kuba an seinem Arbeitsplatz immer griffbereit. "Wenn ich etwas vergesse, könnte das schwerwiegende Folgen haben", sagt der 29-Jährige. Damit ihm genau das nicht passiert, hat er sich angewöhnt, alles, was wichtig ist, sofort zu notieren. Der gelernte Industriekaufmann arbeitet beim Bitterfelder Unternehmen SIS, das sich um die Instandhaltung vieler Anlagen im benachbarten Chemiepark Bitterfeld-Wolfen kümmert.

Kuba ist für das Lager bei SIS zuständig, nimmt Waren an und erfasst, wer wann was geliefert hat. Dass er manchmal Schwierigkeiten hat, sich Dinge zu merken, liegt an seiner Erkrankung. Kuba hat Multiple Sklerose (MS), eine Krankheit des Zentralen Nervensystems, die sich bei ihm unter anderem durch Konzentrationsschwierigkeiten und Muskelschwächen bemerkbar macht.

Diagnose MS: "Es war schwer, danach wieder ins Arbeitsleben reinzukommen."

Als er vor rund zehn Jahren die Diagnose bekam, musste er länger beruflich pausieren und seine Ausbildung zum Lageristen abbrechen, erinnert sich Kuba: "Es war schwer, danach wieder ins Arbeitsleben reinzukommen." Das Unternehmen SIS bot ihm schließlich einen Praktikumsplatz an. Kuba überzeugte, durfte bleiben und absolvierte eine neue Ausbildung, diesmal zum Industriekaufmann. Inzwischen arbeitet er seit neun Jahren bei SIS.

"Wir haben sein Potenzial erkannt", sagt Nadine Wiedemann, Geschäftsführerin bei SIS. Wegen seiner MS-Erkrankung gilt Christian Kuba als schwerbehindert. Ein Prädikat, dass den Zugang zum Arbeitsmarkt für gesundheitlich beeinträchtigte Menschen wie ihn oft schwer macht. Dabei sind Unternehmen mit mindestens 20 Mitarbeitenden in Deutschland gesetzlich verpflichtet, auf mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen.

Was "schwerbehindert" bedeutet

Nach § 2 SGB IX sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Menschen sind schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt. Behinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30 sollen nach § 2 Abs. 3 SGB IX schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz nicht erlangen oder nicht behalten können.

Quelle: "Arbeitsmarktsituation schwerbehinderter Menschen 2021" (Bundesagentur für Arbeit)

Beschäftigung Schwerbehinderter: Sachsen-Anhalt auf dem letzten Platz

Doch in der Praxis sieht es meist anders aus: Daten der Bundesagentur für Arbeit zeigen, dass im Jahr 2021 in Sachsen-Anhalt lediglich 3,3 Prozent aller Arbeitsplätze bei Arbeitgebern mit mindestens 20 Mitarbeitenden mit schwerbehinderten Menschen besetzt waren, bei privaten Arbeitgebern sogar nur 2,9 Prozent. Im bundesweiten Vergleich liegt Sachsen-Anhalt damit auf dem letzten Platz.

Die Konsequenzen für Unternehmen, die nicht mindestens fünf Prozent Schwerbehinderte beschäftigen, sind gering: Abhängig von der tatsächlich erreichten Quote schwerbehinderter Mitarbeitender wird für jeden nicht besetzten Pflichtarbeitsplatz lediglich eine sogenannte "Ausgleichsabgabe" zwischen 140 und 360 Euro im Monat fällig.

"Wirtschaftlich wäre es günstiger, diese Ausgleichsabgabe zu zahlen, statt tatsächlich Menschen mit Behinderung zu beschäftigen", sagt SIS-Geschäftsführerin Nadine Wiedemann. Die Kosten, um einen Arbeitsplatz im Lager oder auch im Büro barrierefrei zu gestalten, seien schließlich meist hoch. Wiedemann setzt bei SIS trotzdem auf eine andere Strategie. "Menschen wie Christian brauchen eine Chance, im Arbeitsleben Fuß zu fassen", sagt Wiedemann.

Auszeichnung für besonderes Engagement

Etwa jeder zehnte Beschäftigte bei SIS hat eine Behinderung, neben Christian Kuba betrifft das vier weitere Mitarbeitende. Vor kurzem wurde das Unternehmen für seine Verdienste um die Integration von Menschen mit Behinderung ins Berufsleben mit dem Preis "Pro Engagement" des Landesbehindertenbeirates ausgezeichnet.

Ginge es nach Geschäftsführerin Nadine Wiedemann, könnte es bei SIS noch mehr Mitarbeitende mit Beeinträchtigungen geben: "Wir haben letztes Jahres eine Buchhalterin oder einen Buchhalter mit Behinderung gesucht. Wir haben das Integrationsamt und die Agentur für Arbeit angeschrieben, wir haben es öffentlich ausgeschrieben, aber nicht ein Mensch mit Beeinträchtigungen hat sich darauf beworben."

Wiedemann wünscht sich ein spezielles Jobnetzwerk für Menschen mit Behinderung: "Dann könnte man selber durchsuchen, welcher potenzielle Mitarbeiter mit Beeinträchtigungen auf diese Stelle passen könnte. Das würde auch die Mitarbeiter bei der Arbeitsagentur und im Integrationsamt ein bisschen entlasten."

Vor allem positive Erfahrungen

Die Erfahrungen, die ihr Unternehmen bislang mit Mitarbeitenden mit Behinderung gemacht habe, seien ganz überwiegend positiv, sagt die Geschäftsführerin. "Mitarbeitende mit Beeinträchtigungen sind sehr motiviert. Die legen richtig los, wenn sie den Job haben. Und sie bleiben. In all den Jahren habe ich bei uns noch keinen erlebt, der sich einen anderen Job gesucht hat." Auch die Ausfallzeiten etwa durch Krankheit seien im Durchschnitt nicht höher als bei Mitarbeitenden ohne Behinderung, hat Wiedemann beobachtet.

Die Zusammenarbeit mit den Behörden bei der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen laufe dagegen durchwachsen, berichtet Wiedemann. Während sie das örtliche Integrationsamt lobt, fehle es bei anderen Behörden bisweilen am nötigen Verständnis für die Belange von Menschen mit Beeinträchtigungen. Eine Erfahrung, die auch Christian Kuba machen musste.

Fehlende Unterstützung durch Behörden

Für seinen Job benötigt der Industriekaufmann einen Führerschein. Im Frühjahr 2021 bestand er die theoretische Führerscheinprüfung. Wegen seiner MS-Erkrankung brauchte er für die praktischen Fahrstunden jedoch zusätzliche Zeit, hinzu kam ein Wechsel der Fahrschule, weil es zwischen Kuba und seinem Fahrlehrer nicht harmonierte.

Das Problem: Das Ergebnis der theoretischen Prüfung ist nur ein Jahr gültig. Kuba bemühte sich gemeinsam mit seiner Chefin Nadine Wiedemann um eine Fristverlängerung – letztlich erfolglos. "Ich war kurz davor, fertig zu werden, und musste dann nochmal komplett von vorne anfangen", erinnert sich Christian Kuba, der inzwischen einen Führerschein hat.

Für seine Chefin war die Reaktion der Führerscheinbehörde ein Unding: "Das hat meinen Blutdruck hochgebracht. Man hat uns geschrieben, dass es möglich wäre, die Frist zu verlängern, man bei Christian aber 'keinen besonderen Härtefall' erkennen könne. Das ist das, was uns als Unternehmen ärgert. Warum hat man es nicht einfach gemacht?"

Wunsch, ernst genommen zu werden

Und noch etwas bemängelt Nadine Wiedemann. Wann immer es um Unterstützung durch Ämter oder die Beantragung von Fördermitteln für die behindertengerechte Ausstattung von Arbeitsplätzen gehe, müssten sich die Geschäftsführerin oder ihre Assistentin selbst auf Recherche begeben. Ein gebündeltes Informationsangebot für Unternehmen, die Menschen mit Behinderung beschäftigen, gebe es bislang nicht, sei aber dringend nötig, sagt Wiedemann.

"Ich wünsche mir, dass für Leute wie mich mehr getan wird und wir ernst genommen werden, auch wenn man unsere Beeinträchtigungen vielleicht nicht sofort sieht", sagt Christian Kuba. Mit seinem Job bei SIS sei er zufrieden, und wenn er mal Hilfe brauche, könne er sich immer auf seine Kollegen verlassen. Was er sich wünschen würde? "Mehr Fortbildungen", sagt Kuba. Nadine Wiedemann versucht bereits, solche zu finden, die auf Kubas Einschränkungen Rücksicht nehmen. Doch das, sagt die Geschäftsführerin, sei leider gar nicht so einfach.

MDR (Lucas Riemer)

Dieses Thema im Programm: SACHSEN-ANHALT HEUTE | 18. April 2023 | 19:00 Uhr

8 Kommentare

kleinerfrontkaempfer am 20.04.2023

=>Lav
Nennt sich (politisch) "INKLUSION".
Und wenn die wirklich gewollt ist bestehen für viele Menschen Chancen. Sicher nicht 100%ig. Wer die Arbeit in geschützten Werkstätten kennt der weiß ein hoher Prozentsatz ist bei entsprechender Unterstützung, Förderung arbeitswillig an vorderster Front.

Jana am 20.04.2023

@DanielSBK

Sie können davon ausgehen, dass eine Firma solche Dinge prüft. wozu hat man denn bitte Betriebsarzt und Arbeitssicherheitsbeauftragte? Letztendlich müssen die für die Tätigkeit geforderten Fähigkeiten vorhanden sein und gut ist es.

Ihr kurzes Zitat ist doch gar kein Ausschlußkriterium. Oder denken sie ein Mensch mit MS ist körperlich und geistig nicht geeignet einen Joystick oder vergleichbares zu bedienen?

Jana am 20.04.2023

@Maria A.
Natürlich kommt es immer auf den Einzelfall an, aber teilweise sind die Hürden für eine Kündungung von Menschen mit Behinderung wirklich aberwitzig. Selbstvertständlich gestehe ich einem solchen Personenkreis einen besonderen Kündigungsschutz und durchaus auch längere Ausfallzeiten zu, aber eben nicht ad ultimo. Wenn Integrationsämter die Kündigung verweigern um ihre eigene Vermittlungsquote nicht zu verschlechtern, dann schreckt dies ab. Chancen ergeben sich daraus, dass man etwas wagt. Wenn es aber von dem Wagnis gefühlt kein zurück mehr gibt, dann lassen es leider viele gleich.

In manchen Bereichen können Handicaps ja durchaus von Vorteil sein. Wir haben bei uns einen behinderten Mitarbeiter mit starken Zwängen in der Auftragsvorbereitung. Bei dem passt immer alles, weil ihm alles andere ein Graus wäre.

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