"Wir können unsere Geschichte nicht verleugnen" Wittenberg: So lief die Ausstellung über christliche Judenfeindschaft
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01. September 2024, 11:40 Uhr
Wittenberg hat zuletzt viel einstecken müssen: Aus Thüringen kam die Kritik, dass sich Wittenberg als Sitz des deutsch-israelischen Jugendwerkes schon disqualifiziert habe, weil die Stadt den Beinamen "Lutherstadt" trägt – Luther war im Alter Antisemit. Außerdem ist die "Judensau"-Skulptur an der Stadtkirche weiterhin ein Stein des Anstoßes. Stadt und Kirche holten die provokante Schau "Von christlicher Judenfeindschaft" in die Stadtkirche. Vier Wochen war sie zu sehen. Eine Bilanz.
- Vier Wochen lang war in Wittenberg die provokante Ausstellung "Von christlicher Judenfeindschaft" in der Stadtkirche Wittenberg zu sehen.
- Die Stadtkirche als Ausstellungsort birgt eine besondere Brisanz.
- Die Schau soll helfen, zu erkennen, wo antijüdische Vorurteile herkommen.
Es ist eine Schau der Worte, die viele Besucher der Wittenberger Stadtkirche sprachlos zurücklässt. Ein Frau aus dem hessischen Bad Vilbel schüttelt immer wieder den Kopf. "Diese Parallelen zur heutigen Zeit sind ja erschreckend", sagt sie. Natürlich habe sie gewusst, dass eine Verunglimpfung von Juden eine lange Tradition hat. Aber dass auch heute noch viele Vorurteile gegenüber Juden weiter verbreitet werden, darüber müsse man sich Sorgen machen. Gerade mit Blick auf den Nahost-Konflikt.
Ausstellung arbeitet christliche Geschichte auf
Tatsächlich ist die Wanderausstellung mit dem Titel "Von christlicher Judenfeindschaft" dazu angetan, dass sich auch christliche Kirchen ihrer eigenen Vergangenheit stellen. Auf 29 Tafeln wird anhand wiederkehrender Motive und Verschwörungserzählungen die Absurdität und Grausamkeit christlichen Judenhasses aufgezeigt. Dabei geht es immer wieder um den "Generalverdacht" gegenüber Juden wie den angeblichen Hostienfrevel, den Ritualmord, das Brunnenvergiften oder den Wucher. Die Ausstellung umfasst alle Jahrhunderte seit Entstehung des Christentums.
Wittenbergs Stadtkirchenpfarrer Matthias Keilholz sagt dazu. "Es gibt eine Menge, was im Christentum passiert ist, worauf wir nicht stolz sein können. Aber ich finde, wir müssen uns damit auseinandersetzen, damit so etwas nicht wieder vorkommt."
Schmähplastik an Wittenberger Stadtkirche
Dass die Exposition gerade in der Wittenberger Stadtkirche, also in Luthers Predigtkirche, ihren öffentlichen Raum fand, birgt noch eine besondere Brisanz. Denn an der Fassade des Gotteshauses sorgt eine im 13. Jahrhundert angebrachte Skulptur seit Jahren für reichlich Ärger. Ein jüdischer Kläger fordert die Abnahme der Wittenberger "Judensau". Solch ein Schandmal habe an einer christlichen Kirchen nichts zu suchen. Nachdem er bislang alle Prozesse verlor, scheiterte zuletzt der Gang vor das Bundesverfassungsgericht. Nun will er vor den europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen.
Doch in Wittenberg wird das Vorgehen verteidigt, die umstrittene Skulptur an Ort und Stelle zu belassen. Oberbürgermeister Torsten Zugehör verweist darauf, dass sich Wittenberg schon zu DDR-Zeiten mit dem Schandmal offensiv auseinandergesetzt und eine Gedenk- und Erinnerungskultur entwickelt habe. "Da waren wir damals schon anderen Städten weit voraus. Wir verstecken nicht derartige Zeugnisse der Vergangenheit, sondern stellen uns ihnen. Nur damit kann man im Denken etwas bewirken."
Landeskonservatorin: "Wir können unsere Geschichte nicht verleugnen"
Auch die Landeskonservatorin Sachsen-Anhalts, Elisabeth Rüber-Schütte, spricht sich gegen eine Entfernung der Plastik aus. "Als Denkmalpfleger geht es auch um geschichtliche Werte. Wir können unsere Geschichte nicht verleugnen. Wenn ich solch ein Zeitzeugnis abnehme, überhöhe ich es auch und kann mich damit nicht mehr gut auseinandersetzen."
Ähnlich formuliert es Stadtkirchenpfarrer Keilholz. "Wenn etwas im Museum verschwindet", erzählt der Theologe, "verstummt es auch". Es werde der öffentlichen Debatte entzogen, die aber gerade jetzt geführt werden müsse.
Antijüdische Vorurteile lange Bestandteil christlicher Theologie
Und damit sind wir wieder bei der Wanderausstellung "Von christlicher Judenfeindschaft". Der Pfarrer findet, sie könne dazu beitragen, zu erkennen, wo antijüdische Vorurteile herkommen. Noch bis Mitte des 20. Jahrhundert habe man Juden alle Schandtaten in die Schuhe geschoben – auch als fester Bestandteil christlicher Theologie und kirchlichen Handelns.
Ein Ehepaar aus Augsburg in Bayern geht bedächtig durch die Schau in der Stadtkirche, studiert die Tafeln. Zuvor hatten sie nach einem Hinweis des Wittenberger Stadtführers sich draußen das Schmährelief angesehen.
"Die Schau ist gut gemacht", berichtet der Geschichtslehrer. "Sehr vielschichtig, gibt tiefe Einblicke, wie Juden immer als Sündenböcke herhalten mussten." Trotzdem ist auch er dafür, diese "furchtbare Skulptur" nicht abzunehmen. Man könne eine wie auch immer verfehlte Vergangenheit nicht einfach wegwischen.
MDR (André Damm, Hanna Kerwin)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 31. August 2024 | 17:00 Uhr
Shantuma vor 6 Wochen
Gut, dass ich kein Christ bin. Und gut, dass ich nicht in den Jahren 1933 bis 1945 lebte.
Somit brauche ich diese Schuldkultur nicht annehmen.
Ich bin somit freier, als all die Schuldbekennenden, denn ich kann meine eigenen Schlüsse aus der Geschichte ziehen und muss mich nicht der Schuld unterwerfen.