Graffito in einem Skatepark.
Die Jugendkriminalität wird immer aggressiver. Das sagt Thomas Senger vom Stadtelternrat. Bildrechte: MDR/Maximilian Fürstenberg

Überfälle, Gewalt und Diebstahl Was passieren sollte, um die Jugendkriminalität in Halle zu mildern

11. Dezember 2022, 17:39 Uhr

Wer genau an der steigenden Rate der Jugendkriminalität in Halle Schuld hat, lässt sich nicht genau sagen, aber es lässt sich präventiv dagegensteuern. In der Schule muss es laut Polizei zu Aufklärungsarbeit kommen. Am wichtigsten ist aber, dass die Taten angezeigt werden. Das passiert nämlich viel zu wenig.

Maximilian Fürstenberg
Bildrechte: MDR/Luca Deutschländer

Der Unterricht an einer Gesamtschule in Halle ist längst vorbei, die meisten Schülerinnen und Schüler zu Hause. Thomas Senger dagegen kommt gerade erst an in der Schule. Der Vorsitzende des Stadtelternrats in Halle will über die Jugendkriminalität in der Stadt sprechen. Als ein Lehrer auf dem Flur das zufällig mitbekommt, wird der Mann hellhörig.

Dem Lehrer wurde heute ein solcher Fall zugetragen, sagt er – es gehe womöglich um Erpressung eines Schülers. Wie er damit jetzt umgeht, müsse er jetzt überlegen, sagt der Mann. Thomas Senger kann das verstehen. "Die Eskalationsstufen sind nicht mehr so wirklich vorhanden, sondern die fangen mit einer sehr hohen Eskalationsstufe an und hauen dann gleich rein. Das schüchtert natürlich sehr stark ein", erklärt Senger.

Halle: Fast 400 Ermittlungsverfahren nach Jugendkriminalität

Diese Fälle von Jugendkriminalität häufen sich in Halle seit etwa einem Jahr. Seit Oktober 2021 gibt es 392 Ermittlungsverfahren, die mit Jugendkriminalität zu tun haben. Vorwiegend kommt es hier zu Raub- und Körperverletzungsdelikten, so die Polizeiinspektion Halle. Erbeutet werden dann Smartphones, Kopfhörer oder Geld. Dabei gibt es nicht nur ein Problemviertel oder einen bestimmten Ort, die Fälle verteilen sich laut Polizei über das gesamte Stadtgebiet.

Das Interessante: Täter und Opfer sind laut Aussagen der Polizeiinspektion Halle oft gleich alt – in den meisten Fällen zwischen 14 und 18 Jahren. "Die Täter sind in weiten Teilen oftmals noch strafunmündig. Wir hatten auch Täter, die um die zehn Jahre alt waren und mit Raubdelikten auftreten. Die werden vielleicht noch von älteren begleitet, aber das ist schon sehr auffällig", erzählt Tobias Teschner, Fachbereichsleiter für Sicherheit der Stadt Halle.

Er sagt, dass bei diesem Alter die Arbeit keine reine polizeiliche Arbeit mehr ist – sondern dass da noch der erzieherische Gedanke mit drinsteckt.

Corona hat die Situation verstärkt

Zurück zu Thomas Senger. Der Chef des Stadtelternrates hat sich inzwischen in einem Klassenraum niedergelassen. Ihmzufolge hat dieses stärker werdende aggressive Vorgehen teilweise mit der Corona-Pandemie zu tun. Er meint, dass das Abkapseln von Menschen dazu geführt hat, dass gesellschaftliche Normen, die die Jugendlichen eigentlich kennen und respektiert haben, ein Stück weit zurückgefahren worden sind. Belegen lässt sich das nicht, klar. Aber es ist der Ansatz einer Erklärung.

Die Täter haben dann festgestellt, ich kann mich hier ja austoben.

Thomas Senger Stadtelternrat in Halle

Auf der anderen Seite sieht Senger aber auch, dass die "Erfolgsquote" der Täter deshalb so hoch sei, weil sich die Opfer nicht wehren. Um es klar zu stellen: Damit meint Senger nicht, dass die betroffenen Jugendlichen zurückschlagen sollen – sondern dass die Lehrkräfte, Eltern oder die Polizei informieren. "Damit wird das Ganze ein bisschen nach unten gedrückt. Und dadurch hat sich, glaube ich, das Ganze auch ein Stück weit hochgepuscht. Und die Täter haben dann festgestellt, ich kann mich hier ja austoben", so Senger.

Elternhaus spielt bei Angriffen auch eine Rolle

Senger, der viel mit Eltern und Schülern in Kontakt steht und selbst Vater ist, merkt, dass die Kommunikation bei den Schülern untereinander und die Akzeptanz unterschiedlicher Meinungen nicht mehr so stark vorhanden ist.

Er sagt: "Wir haben Schülerinnen und Schüler, die kommen aus Elternhäusern, die werden politisch, gesellschaftlich, also grundsätzlich geprägt. Da gibt es eben die unterschiedlichsten Ansichten von Menschen und diese unterschiedlichen Ansichten werden natürlich auf ihre Kinder übertragen." So spielt Senger zufolge das Elternhaus eine große Rolle, wie sich die Jugendlichen untereinander verhalten.

Und es gibt hier noch ein Problem: Hans Henning Flechtner, Kinderpsychologe aus Magdeburg sagt, dass, ganz allgemein betrachtet, einige Elternhäuser der Täter die Taten "bagatellisieren" – sprich die Kinder in Schutz nehmen und Schuldige woanders suchen. Dagegen, so Flechtner, müsse Aufklärung betrieben werden. Der bestmögliche Ort sei da die Schule.

Prävention gegen Überfälle: Aufklärungsarbeit im Unterricht?

Wenn es einen Fall von Jugendkriminalität in der Schule geben sollte, müsse das sofort von Lehrkräften thematisiert werden, sagt der Psychologe. Es müsse sich "gewehrt" werden, wie Senger es formuliert hat.

Tritt so ein direkter Beispielfall an Schulen nicht ein, sollten die Kinder die Möglichkeit haben, Fragen zu stellen und Jugendkriminalität offen zum Thema machen. Laut Flechtner sieht man dann auch, wie die Elternhäuser reagieren. Dabei könnte es hilfreich sein, wenn die Polizei in die Klassen kommt, Zusammenhänge zu Taten und Strafmaß erklärt, um gezielt Prävention zu betreiben, so der Psychologe.

So hat die Polizei in Sachsen-Anhalt im Jahr 2020 nach eigenen Angaben rund 865 Präventionsveranstaltungen für Kinder und Jugendliche angeboten – und damit rund 15.000 Teilnehmer erreicht.

Jugendwerkstatt: Auch die Stadt Halle muss etwas tun

Schule ist zwar der Ort, an dem man die meisten Jugendlichen erreichen kann, doch das ist nicht genug, findet Anna Manser. Die Leiterin der Halleschen Jugendwerkstatt sagt, Jugendliche bräuchten im Alltag Räume, um gesehen zu werden und sich entfalten zu können.

Damit meint sie: Nicht alle Jugendlichen haben von ihren Eltern gelernt, sich angemessen einfühlen zu können. Damit sie diese Möglichkeit haben, müssen, wie Manser es nennt, "Inseln" für die Jugendlichen geschaffen werden. Denn für sie ist es wichtig, dass man sich mit "Würde, Respekt und Achtung vor dem Anderen begegnet". Das sei der Schlüssel, um sich selbst überhaupt verändern zu können.

Laut Manser sollten diese Inseln Räume sein, wo die Jugendlichen in einen Raum kommen können, "der nicht von Verbotsschildern überflutet ist, sondern wo sie die Regulation lernen können". Diese Räume fehlen, findet sie.

Eine offene Turnhalle mit einigen Aufsichtspersonen, in der Jugendliche sich begegnen, Fußball spielen oder dergleichen wäre laut Manser schon ausreichend. Es brauche also kein riesiges Budget, um so etwas zu schaffen, erklärt sie.

Mehr geschützte Räume für Jugendliche schaffen

Wer genau an der steigenden Jugendkriminalität in Halle "Schuld" hat, lässt sich nicht wirklich sagen. Klar ist, dass es viele Faktoren gibt, die Jugendliche dazu veranlassen, auf Gleichaltrige loszugehen.

Manser erzählt, dass es früher Rudel von Jugendlichen gab, die zwar Probleme hatten, aber frohen Herzens waren. Heute gebe es viel mehr "einzelne Gestalten", die sich viel weniger öffnen können, aus Scham oder Angst vor Verletzung. Für sie ist es also die beste Möglichkeit, dass Jugendliche in geschützten Räumen aufeinander treffen und eine Lebensatmosphäre geschaffen werden muss, wo sie sich wieder geborgen fühlen können.

In einer früheren Version des Artikels hieß es, Thomas Senger sei Vater einer Tochter. Tatsächlich hat er mehrere Kinder. Wir haben die Textstelle entsprechend korrigiert.

MDR (Maximilian Fürstenberg)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 11. Dezember 2022 | 19:00 Uhr

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