Sozialarbeiterin diskutiert mit Schülerinnen einer achten Klasse
Es braucht dringend mehr Hilfs- und Beratungsangebote, sagen die Vertreterinnen zweier Verbände aus Halle. (Symbolbild) Bildrechte: imago/Busse

Jugendkriminalität Sozialverbände zu Überfällen in Halle: Auf die Opfer zugehen

18. Oktober 2022, 07:48 Uhr

In Halle werden seit einem Jahr immer wieder Jugendliche von anderen Jugendlichen überfallen und zum Teil brutal angegriffen. Zwei Sozialverbände aus der Saalestadt finden: Wir müssen die Sorgen und Ängste vieler Jugendlicher ernster nehmen – und schon in den Schulen vorbeugen. Wie das funktionieren könnte.

"Niemandem ist geholfen, wenn wir die Panikmache weiter schüren." Davon ist Anna Manser überzeugt. Die Vorsitzende der Halleschen Jugendwerkstatt sagt mit Blick auf die Serie von Raubüberfällen in der Saalestadt, dass es wichtig sei, öffentlich über das Thema zu sprechen.

Davon erhofft sie sich, dass die Debatte konstruktiver und versöhnlicher wird. Im Moment würden zu oft Verantwortlichkeiten hin- und hergeschoben. "Klar wäre es schön, wenn die Stadt sich kümmert", so Manser, auf der anderen Seite trage aber auch jeder Einzelne Verantwortung.

Was die Polizei schon über die Raubüberfälle weiß

Seit fast einem Jahr ist die Zahl der Raubüberfälle, von denen vor allem Jugendliche betroffen sind, rasant angestiegen. Die Polizei spricht aktuell von mehr als 250 Fällen und hat im April eine Ermittlergruppe gegründet. Alle Überfälle seien nach dem gleichen Schema abgelaufen. Männliche Jugendliche, die am Abend oder in der Nacht alleine oder in kleinen Gruppen unterwegs sind, würden von einer Gruppe gleichaltriger angesprochen und dann überfallen.

Dabei gehen die Täter nach Angaben der Ermittler äußerst brutal vor. Sogar Waffen kämen zum Einsatz. Die Angreifer sollen zwischen 12 und 57 Jahre alt sein. Die meisten seien aber unter 25. Jeder Vierte habe einen Migrationshintergrund. Die Täter treten in Gruppen mit bis zu 25 Mitgliedern auf und nehmen ihren Opfern vor allem Smartphones, Apple-Kopfhörer, Bargeld und Markenschuhe ab. Dabei drohen sie mit Gewalt, wenn die Opfer sich wehren oder versuchen, die Polizei zu rufen. In einigen Fällen seien auch Ausweise fotografiert worden, um die Jugendlichen zum Schweigen zu bringen.

Trotzdem schlägt Manser vor, dass die Stadt Halle mehr tut, um das Problem in den Griff zu bekommen. Nach ihrer Ansicht wäre ein Gesprächsabend im Stadthaus ein guter Ansatz. Dort könne über Ängste und Sorgen, aber auch über Lösungsvorschläge, gesprochen werden. Besonders für Eltern und Schüler sei so ein Angebot im Moment sehr wichtig, glaubt Anna Manser. Das könne im ersten Schritt auch ein Elternabend sein. Weitere Möglichkeiten seien Workshops oder Themenabende.

Stadtgesellschaft hat zu spät reagiert

Manser kritisiert, dass auf Probleme wie die Raubüberfallserie in Halle immer erst dann reagiert wird, wenn es eigentlich schon zu spät ist. Solche Phänomene kämen ja nicht aus einem luftleeren Raum, sondern würden durch gesellschaftliche Schieflagen begünstigt: "Wir reagieren erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist – in dem Fall, wenn die Täter richtig brutal und aggressiv auf andere losgehen. Dann schreien wir alle auf, aber nicht, wenn diese Jugendlichen vorher auf der Straße rumgammeln, die 6. Klasse abgebrochen haben und sich keiner zuständig fühlt."

In dieser Phase gebe es für die Jugendlichen kaum Momente, in denen sie erlebten, dass ihre Bedürfnisse gesehen und gehört werden und ihnen entsprochen wird. Das sei eine grundsätzliche Fehlkonstruktion in unserem System.

Wir reagieren erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, in dem Fall, wenn die Täter richtig brutal und aggressiv auf andere losgehen. Dann schreien wir alle auf, aber nicht wenn diese Jugendlichen vorher auf der Straße rumgammeln, die 6. Klasse abgebrochen haben und sich keiner zuständig fühlt.

Anna Manser Hallesche Jugendwerkstatt

Außerdem sei es für die öffentliche Wahrnehmung gerade auch nicht förderlich, dass seitens der Stadt und der Polizei momentan der Eindruck entstehe, man wolle erstmal abwarten, wie sich alles entwickelt. Manser betont, dass sie damit nicht sagen wolle, dass Stadt und Polizei zu langsam arbeiteten. Es gehe ihr einfach darum, aufzuzeigen, wie wichtig es ist, dass die Menschen in Halle den Eindruck gewinnen, dass dieses Problem ernstgenommen wird.

Dafür brauche es Aufklärungs- und Gesprächsangebote und man müsse sichtbar machen, dass es in der Stadt Leute gibt, die in der Nähe der Jugendlichen sind und auf sie aufpassen. Das könnten Streetworker oder Polizisten sein.

Mehr Angebote für Jugendliche

Anna Manser glaubt, dass es im Moment besonders wichtig ist, auf die Jugendlichen zuzugehen und Räume zu schaffen, in denen sie sich gehört fühlen. Die Opfer hätten so große Angst, dass bekannt wird, wer sie sind, das dürfe man auf keinen Fall so lassen. Man müsse das Problem unbedingt ernst nehmen.

Simone Hetsch von der Arbeiterwohlfahrt (AWO) sieht das ähnlich: "Es muss Beratungsstellen geben, wo die Jugendlichen einfach hingehen können, wo sie unkompliziert Hilfe bekommen und ihnen nicht das Gefühl gegeben wird, selbst Schuld an dem zu sein, was ihnen passiert ist." Hetsch arbeitet als Teamleiterin eines flexiblen Jugendwohnangebots in Halle-Neustadt. Sie fordert, dass es wieder mehr Sozialarbeiter in den Schulen und Angebote für die Jugendlichen gibt, in denen man über genau solche Probleme wie die Raubüberfallserie sprechen kann.

Es muss Beratungsstellen geben, wo die Jugendlichen einfach hingehen können, wo sie unkompliziert Hilfe bekommen und ihnen nicht das Gefühl gegeben wird, selbst Schuld an dem zu sein, was ihnen passiert ist.

Simone Hetsch Arbeiterwohlfahrt Halle

Leider wüssten viele Jugendliche aber auch gar nicht, wo ihnen geholfen werden kann. Nach Aussage von Hetsch müsste es eigentlich Aushänge in Schulen geben, die über Hilfsangebote und Beratungsstellen informieren. Aber auch im öffentlichen Raum brauche es Treffpunkte für die Jugendlichen, an denen sie sich sicher fühlen und Spaß haben können, sagt Anna Masner, und zwar "ohne dass sie gleich vom Ordnungsamt maßgenommen werden, ob sie kiffen oder nicht".

Dieser Balanceakt zwischen Freiheit und Sicherheit sei wichtig, denn viele Jugendliche hätten gerade das Gefühl, sich nicht mehr uneingeschränkt in der Stadt bewegen zu können. Dass es außerdem gerade nicht gelinge, eine Atmosphäre zu schaffen, in der Jugendliche sich trauten, eine Strafanzeige zu machen und die Rache der Täter fürchteten, findet Manser "dramatisch".

Abnehmendes Sicherheitsgefühl

Einen Grund für die gestiegene Jugendkriminalität sieht Simone Hetsch darin, dass in den Corona-Jahren immer mehr soziale Projekte gekürzt oder gestrichen wurden. Sie bedauere, dass der soziale Bereich oft am stärksten unter Sparmaßnahmen zu leiden habe. In vielen Schulen gebe es mittlerweile nicht mal mehr einen Sozialarbeiter. Die, die noch übrig sind, seien manchmal alleine für fünf Schulen gleichzeitig verantwortlich. An solchen Stellen dürfe einfach nicht gespart werden, so Hetsch, vor allem, weil das Sicherheitsgefühl in Halle-Neustadt seit Jahren abnehme.

Sie erzählt, dass sie nachts immer wieder angepöbelt wurde, sogar mal ins Auto flüchten musste. Außerdem habe sie auch schon gesehen, wie ein Laden ausgeraubt und eine Frau mit einem Messer bedroht wurde. Deshalb hat Hetsch mittlerweile immer ein Pfefferspray dabei. Ihr sei klar, dass das vermutlich nicht erlaubt sei, sagt sie, aber sie habe eben Angst, genau wie die Jugendlichen.

"Hochrüstung auf beiden Seiten darf nicht sein"

Diese Entwicklung beobachtet auch Anna Manser mit Sorge. "Das kann doch jetzt wirklich nicht der Effekt sein, also die Hochrüstung auf beiden Seiten vor lauter Angst."

Prävention als effektivste Maßnahme

Sowohl Anna Manser als auch Simone Hetsch glauben, dass die beste Methode, Jugendliche davor zu bewahren, in die schiefe Bahn zu geraten, präventive Angebote sind. Alle Menschen haben nach Aussage von Manser das Bedürfnis, gesehen und anerkannt zu werden, ob nun von ihren Eltern, ihren Mitschülern oder der Gesellschaft. Angebote von sozialen Trägern, Sozialarbeiter in den Schulen und Streetworker auf der Straße könnten helfen, diesen Jugendlichen eine Perspektive zu bieten.

Dabei sei es ganz besonders wichtig, solche Angebote nicht nur in Brennpunkten wie Halle-Neustadt zu machen, sondern überall in der Stadt, sagt Manser. "Ich bin immer für Integration statt Isolation und wenn wir nur in den Brennpunkten arbeiten, bleiben die Jugendlichen dort weiterhin 'Jugendliche zweiter Klasse'." Statt weiter zu fördern, dass mit Halle-Neustadt Klischees verbunden werden, sollten die Jugendlichen voneinander mehr über ihre Lebensverhältnisse lernen – und Verständnis füreinander entwickeln. Bei den meisten fehle da immer noch das Wissen.

Manser und Hetsch hoffen deshalb, dass die Stadt solche Hilfs- und Beratungsangebote künftig wieder stärker fördern wird.

MDR (Annekathrin Queck)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wir wir | 17. Oktober 2022 | 17:00 Uhr

4 Kommentare

Hobby-Viruloge007 am 18.10.2022

Man sollte insbesondere die Forderung nach Stellen nicht überbewerten. Es geht hier am Ende um mehr Geld für die Sozialindustrie.

Ob das im Fall von Halle-Neustadt die alleinige Lösung ist, kann hinterfragt werden.
Es gab mal Zeiten, da war "Abziehen" Raub, wurde entsprechend verfolgt und bestraft.
In Halle-Neustadt scheinen, für Jugendliche rechtsfreie Räume entstanden zu sein. Wenn die lernen, dass das Gewaltmonopol des Staates nicht mehr gilt, dann ist das langfristig nicht gut.

Anni22 am 18.10.2022

Klar Schuld sind nicht die Täter, sondern die Leute die sich nicht genug gekümmert haben. Das stimmt sogar, aber anders als Sie denken. Man muss sich kümmern und Täter spürbar bestrafen und auch die Eltern, wenn diese ihren Kindern die Raubzüge und das Schulschwänzen nicht abgewöhnen. Kuschelkurs einstellen und klare Kante, dann klappt's auch mit dem Benehmen der "Kleinen"...

Volker S. am 18.10.2022

Durch das Totschweigen werden Sichtweisen und Meinungen verfälscht.

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