Delegierte stimmen auf einem AfD-Parteitag ab
Wenn gegenwärtig gewählt werden würde die AfD bundesweit auf 18 Prozent kommen. Bildrechte: dpa, MDR/Uli Wittstock/Matthias Piekacz

Kommentar Schweigen im Walde: AfD im Umfragehoch, was nun?

11. Juni 2023, 10:30 Uhr

Dem ARD-Deutschlandtrend zufolge wären AfD und SPD bei einer Wahl aktuell gleichauf. Umfragen zeigen, die Menschen sind nicht nur mit der Bundes-, sondern auch mit der Landespolitik unzufrieden. Es braucht mehr Bürgernähe und Realismus, fordert MDR-Reporter Uli Wittstock. Ein Kommentar.

Portrait-Bild von Uli Wittstock
Bildrechte: Uli Wittstock/Matthias Piekacz

Es wäre ein Treffen auf Augenhöhe, sollte an diesem Wochenende gewählt werden: Die Kanzlerpartei SPD und die AfD kämen laut ARD-Deutschlandtrend auf rund 18 Prozent. Die mitregierenden Grünen und auch die FDP wären von ihren Bestmarken weit entfernt. Zwar läge die CDU klar vorn, kann aber als größte Oppositionspartei vom Frust der Menschen nicht profitieren. Nun blickt man bundesweit ein wenig verdutzt auf die Zahlen, denn dem Osten ist diesmal dieser AfD-Erfolg nicht zuzuschreiben.

In Sachsen-Anhalt kein Thema

Es folgte die Stunde der Politologen, die zum wiederholten Male erklärten, dass Menschen, die unzufrieden seien, dies auch durch ihre Wahlentscheidung deutlich machten. In Sachsen-Anhalt hingegen herrscht höfliches Schweigen, so als wäre Berlin so weit entfernt wie Bagdad. Die Grünen, sonst beim Thema AfD hoch engagiert, schweigen ebenso wie der Ministerpräsident, der seinen letzten Wahlkampf ganz klar und auch erfolgreich gegen die AfD geführt hatte.

Die SPD und FDP tun ja hierzulande schon länger so, als wären sie in Berlin nicht an der Regierung beteiligt und die Linke ist wieder einmal vor allem mit sich selbst beschäftigt. Doch ich befürchte, das Problem lässt sich nicht durch Aussitzen klären.

Blickwechsel nötig

Nun sind die Möglichkeiten der Landespolitik begrenzt. Weder am Ukraine-Krieg noch an der Inflation oder am Klimawandel werden die Landtagsdebatten etwas ändern. Anders sieht es hingegen bei solchen Themen wie Lehrermangel, ausreichende Finanzierung der Städte und Gemeinden oder Folgen des demografischen Wandels aus. Bei Umfragen in Ostdeutschland zeigt sich regelmäßig, dass sehr viele Menschen die Politik als abgehoben erleben und dieser Eindruck offenbar wächst, je weiter sich die Befragten von den Entscheidungen entfernt fühlen.

Und das ist das tiefer sitzende Problem, denn solche Rücksetzungsgefühle zu bewirtschaften, ist ein politisches Geschäft, das überwiegend Populisten überlassen wird. Dabei wäre schon viel geholfen, wenn diese Erfahrungen, die nicht selten auch etwas mit Ängsten zu tun haben, von allen politischen Akteuren ernst genommen würden.

Gelebte Bürgerferne

Konkret zeigte sich das in dieser Woche an einem Beispiel im Landkreis Stendal. Weil es an Personal und Geld fehlt, finden in Zukunft die amtsärztlichen Untersuchungen zur Schultauglichkeit zentral nur noch in Stendal statt und nicht mehr wie bisher an mehreren Standorten im Landkreis verteilt. Das heißt für etwa eintausend Familien, dass ein deutlich größerer Aufwand nötig wird, um eine amtliche Bescheinigung zu ergattern.

Wichtige Fragen wurden gar nicht erst debattiert: Ob es überhaupt einer amtsärztlichen Untersuchung bedarf oder ob da möglicherweise nicht auch Kinderärzte solche Bescheinigungen ausstellen könnten. Der Landkreis erklärte das neue Verfahren mit den Vorgaben des Landesverwaltungsamtes, das habe zu viel Personal in der Verwaltung bemängelt. 

In den Ministerien des Landes scheinen aber andere Gesetzte zu gelten. Dort stieg die Zahl der Beschäftigten in den letzten zehn Jahren um 500 an. Das kritisierte Sachsen-Anhalts Bund der Steuerzahler. Dass neue Stabsstellen in den Ministerien zur Bekämpfung der Demokratieverdrossenheit beitragen, darf bezweifelt werden. Wer aber Menschen wie Untertanen befiehlt, sich gefälligst da oder dort einzufinden, scheint nicht im 21. Jahrhundert angekommen zu sein.

Neue Ideen gesucht

Sachsen-Anhalts Politik und Verwaltung befinden sich in einer Dauerherausforderung, die an Problemschärfe eher zunehmen wird. Themen wie Demografie, Gesundheits- und Pflegekosten, Klimawandelfolgen, Lehrermangel oder Digitalisierung machen es nötig, sich schneller als gedacht von bislang Bewährtem zu trennen, vor allem auch in der Verwaltung. Wenn derzeit in Sachsen-Anhalt über ein halbes Jahr auf den Bescheid für ein Wohngeldantrag gewartet werden muss, dann kann das nur als bürgerfern beschrieben werden. Es sind also nicht selten Alltagserfahrungen, die Menschen am Funktionieren der Demokratie zweifeln lassen.

Probleme bleiben akut

Da es derzeit keine einfachen Lösungen für die Großprobleme in Sachsen-Anhalt gibt, werden sie erst mal politisch beschwiegen. Inzwischen fallen Züge aus, weil es an Personal in Stellwerken fehlt und es regt niemanden auf, weil wir ahnen, dass dies erst der Beginn einer großen Veränderung ist. Gaststätten verlängern die Schließzeiten, vielleicht wird ja die Selbstbedienung wieder ein größeres Thema werden.

Das Bildungsrisiko verlagert sich in die Familien zurück und wer Geld für Nachhilfe-Lehrer hat, bezahlt den Lehrermangel aus eigener Tasche. Und die Folgen der Deindustrialisierung sind trotz zurückgehender Arbeitslosenzahlen an niedrigen Renten absehbar sowie an dem Umstand, dass jeder fünfte in Sachsen-Anhalt Mindestlohn bezieht. Sorglos lebt nicht, wer sich mit solchen Problemen herum zu schlagen hat.

Realismus gefragt

Dass es eine Sehnsucht gibt, von der Politik möglichst unbehelligt zu bleiben, ist verständlich, aber leider auch irreführend. Das zeigt sich exemplarisch an der gegenwärtigen Heizungsdebatte. Bereits vor zehn Jahren wurde in Dänemark der Einbau von Gasheizungen in Neubauten verboten und im Jahr 2016 wurde diese Regelung erweitert. Seitdem dürfen auch alte Gasheizungen nur noch durch klimaneutrale Anlagen ersetzt werden. Es ist seitdem niemand deswegen in Dänemark erfroren oder verhungert.

Jene CDU, die nun gegen die zugegebenermaßen unausgegorenen Heizungspläne Sturm läuft, hätte zehn Jahre Zeit gehabt, das Thema anzugehen. Realismus in der Politik heißt eben auch, reinen Wein einzuschenken und zwar insbesondere auch dort, wo die Menschen sich abgehängt fühlen. Dazu freilich muss sich die Politik auch einer Sprache bedienen, die von den Menschen verstanden wird.

Die AfD scheint derzeit in einer komfortablen Situation zu sein, denn sie kann quasi mit verschränkten Armen beobachten, wie die anderen versuchen, sich an den realen politischen Herausforderungen abzukämpfen, ohne selbst irgendeine realistische Lösung anzubieten. Nächstes Jahr wird in drei ostdeutschen Bundesländern gewählt, dann wird sich zeigen, ob diese Strategie verfangen hat oder nicht.

MDR (Uli Wittstock, Moritz Arand)

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL – Das Nachrichtenradio | 09. Juni 2023 | 12:30 Uhr

67 Kommentare

Britta.Weber vor 47 Wochen

Bernd, es sind Kommentare wie diese, die mich sprachlos machen. Der Aufstieg der AfD kommt nicht wegen des Heizungsgesetzes und die Vorurteile gegen den Öffenntlich-Rechtlichen Rundfunk bestätigt dieser ständig selbst (schauen Sie mal Anne Will oder Hartaberfair).

MDR-Team vor 47 Wochen

Herr Wittstock darf selbstverständlich auch die von Ihnen angesprochenen Themen kommentieren, wenn er das möchte. Hier hat er zum Beispiel die Klima-Proteste kommentiert: https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen-anhalt/magdeburg/magdeburg/letzte-generation-aktionen-kleber-klima-100.html

Britta.Weber vor 47 Wochen

Ein guter Kommentar von Herrn Wittstock. Kernprobleme (etwa verkorkste Energiepolitik und Migrationspolitik, tägliches Klimagedöns) anzusprechen, war ihm als MDR-Journalist sicher nicht möglich- der MDR schwimmt ja auf der grünen Welle. Dennoch sind viele richtige Dinge gesagt.
Ich glaube, die Stigmatisierung und die Nazikeule wirken bei vielen Menschen kaum noch (lediglich eifrige Foristen hier schwingen sie kräftig weiter).
Es wäre nötig, sich mit den genannten Problemen, die die Menschen bewegen, auseinanderzusetzen.
P.S. Ich bin unserem MP Haseloff sehr dankbar, dass er in Sachsen-Anhalt eine Landesregierung ohne die Grünen gebildet hat. Die CDU sollte die Abgrenzung von den Grünen auch im Bund stärker erklären und nicht dem grünen Zeitgeist folgen.

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