Zwei Kinder und eine ältere Frau auf einer großen Treppe vor einem grauen Haus mit Bildern in den Fenstern.
In Tangerhütte soll der Jugendclub zum Jahresende geschlossen werden. Bildrechte: MDR/Aud Merkel

Gemeinde muss sparen Kinder ohne Lobby: Jugendclub in Tangerhütte schließt

06. September 2023, 13:19 Uhr

Die Einheitsgemeinde Tangerhütte muss sparen und will weniger Geld für die Jugendarbeit ausgeben. Das soll hauptsächlich durch das Einsparen der Betriebskosten für das Gebäude des Jugendclubs erreicht werden. Mit einer Umgestaltung der mobilen Angebote für Jugendliche und einer neuen Anlaufstelle im Kulturhaus will die Gemeinde die Schließung ausgleichen.

Drei Jungs mit BMX-Fahrrädern lungern schon auf den Stufen des Jugendclubs herum. Sie wollen noch nicht richtig wahrhaben, dass er bald geschlossen wird. Bruno Palke mit Basecap sagt: "Hier sind auch andere Kinder. Da kann man Freunde finden. Es ist schon besser, wenn jemand aufpasst, damit die Kinder keinen Blödsinn machen."

Ein Jugendclub wurde bereits geschlossen

Als Eileen Wolf-Köppe kommt, wird sie von den Jungs herzlich begrüßt. Sie ist sich sicher: "Kinder ab einem bestimmten Alter wollen auch einfach mal unter sich sein oder laute Musik hören. Dafür brauchen sie einen Ort und Ansprechpartner". Wolf-Köppe schließt den Club auf, damit sich die Jungen die Scooter-Roller herausholen können. Es sei schon der zweite Jugendclub, den sie abwickeln müsse. Seit 2006 arbeitet die Sozialpädagogin in der Tangerhütter Jugendarbeit.

Frau mit weißen schulterlangen Haaren und schwarzer Brille lächelt.
Sozialarbeiterin Eileen Wolf-Köppe begleitet junge Menschen in Tangerhütte seit 2006. Bildrechte: MDR/Aud Merkel

Schon einmal wurde die Jugendarbeit in Tangerhütte reduziert. Übrig blieb der kleine Jugendclub am Werner-Seelenbinder-Ring. Eileen Wolf-Köppe macht immer weiter: "Wir können gemeinsam mit ihnen ein Stück ihres Lebensweges gehen, ihnen Unterstützung geben und Lösungsansätze für ihre Probleme anbieten. Hilfe zur Selbsthilfe. Man baut eine Beziehung auf und dann öffnen sie sich."

Fünf bis zwanzig Kinder und Jugendliche nutzen die Tagesangebote des Clubs, kommen manchmal nur zum Spielen und Abhängen. Manchmal gibt es größere Aktionen oder Ausflüge. Dann sind es auch mal mehr.

Kinderpflegehelferin war früher oft im Jugendclub

Emily Bergwein kennt den Jugendclub seit ihrer Kindheit. Jetzt ist sie 20 Jahre alt und macht eine Ausbildung zur Kinderpflegehelferin in Magdeburg. Sie hat einen kleinen Blumenstrauß für Eileen Wolf-Köppe mitgebracht. Wann immer sie es schafft, besucht sie ihren ehemaligen Club.

Emily Bergwein blickt zurück: "Seit der Grundschule bin ich in den Jugendclub gegangen, habe hier oft meine Hausaufgaben gemacht und gespielt. Das hat mich bis zur 8. Klasse geprägt. Die Betreuer waren immer hilfsbereit, hatten ein offenes Ohr für alle. Man konnte seine Talente zeigen. Ich fände es schade, wenn es diese Möglichkeit für Jüngere nicht mehr gäbe."

Fördermittel laufen aus

Eileen Wolf-Köppe teilt sich die Jugendarbeit in der Einheitsgemeinde Tangerhütte mit zwei weiteren Mitarbeiterinnen. Zwei sind bei der Stadt angestellt, eine über einen Träger. Es sind keine vollen Stellen, manche haben noch andere Aufgaben bei der Stadt. Die Personalstunden sollen nur wenig verändert werden. Aber der Jugendclub als permanente Anlaufstelle mit regelmäßigen Öffnungszeiten wird zum Ende des Jahres geschlossen.

Dann endet auch der Fördermittelvertrag mit dem Landkreis über einen freien Träger. Aus dem wolle man aussteigen und keinen neuen mehr beantragen. Ab 2024 könne man dann die Betriebskosten für das Gebäude des Jugendclubs sparen, sagt Wolf-Köppe. Außerdem wäre man nicht mehr an die Vorgaben der Förderrichtlinien gebunden. Zu den Anforderungen des Förderprogrammes gehört ein separates Gebäude für die Jugendarbeit. Die Eigenmittel wolle man lieber selber sinnvoll einsetzen.

Zwei dunkelgekleidete Jungs auf Rollern auf einem Skateplatz.
Bruno Palke und Noah Stolpe kommen nach der Schule gern zum Jugendclub. Bildrechte: MDR/Aud Merkel

Gemeinde Tangerhütte muss sparen

Das klingt nach einem guten Plan, ist aber de facto eine Reduzierung der eingesetzten Mittel für die Jugendarbeit. Ob es gelingt, mit weniger Geld die Bedarfe der Jugendlichen zu decken, wurde im Rathaus abgewägt. Bürgermeister Andreas Brohm (parteilos) beschreibt die Haushaltslage: Der Haushalt ist für die nächsten Jahre genehmigt, steht aber in den roten Zahlen. Schulden konnten zwar abgebaut werden, hauptsächlich über gestiegene Gewerbesteuereinnahmen.

Aber es stehen demnach auch große Zukunftsinvestitionen zum Beispiel in erneuerbare Energien an. Und wie überall steigen die laufenden Kosten. Für dieses Jahr plane man mit einem Defizit von zwei Millionen Euro. Insgesamt werden jährlich 18 bis 20 Millionen umgesetzt. Davon werden unter vier Prozent, also 600.000 bis 700.000 Euro, für freiwillige Leistungen ausgegeben.

Neben dem Unterhalt von Sportanlagen, Dorfgemeinschaftshaus oder Kultur ist die Jugendarbeit von diesen freiwilligen Leistungen nur ein Teil. Von den bisher in das Förderprogramm eingespeisten 75.000 Euro wolle man 50.000 Euro einsparen. Mit den verbleibenden 25.000 Euro soll dann die Jugendarbeit gestaltet werden.

Brohm: "Es kommt nicht so sehr auf den Raum an"

Bürgermeister Andreas Brohm ist optimistisch, dass das gut gelingt. Nach seinen Aussagen ist die Jugendarbeit bisher hervorragend und kann es auch bleiben. Brohm sagt: "Jugendarbeit ist Vertrauensarbeit. Es kommt nicht so sehr auf den Raum an, der kann auch auf der Straße sein. Wir werden weiterhin engagierte Personen haben, die Ansprechpartner sind."

Mann mit kurzen dunkelblonden Haaren und blauem Pulli vor einer Backsteinwand
Bürgermeister der Einheitsgemeinde Tangerhütte Andreas Brohm muss im Haushalt sparen. Bildrechte: MDR/Aud Merkel

Der im Sozialausschuss diskutierte Plan sieht vor, die mobile Jugendarbeit in den Ortschaften umzustrukturieren und zwei bis drei Tage stationäre Angebote in den Räumen des Kulturhauses in Tangerhütte zu schaffen. Andreas Brohm verlässt sich auf sein Fachpersonal, weiß aber auch, dass mehr besser wäre. Er spricht vom politischen Willen – und wo solle er noch sparen? "Aber da haben Kinder vielleicht die kleinste Lobby", sagt er, sichtlich berührt.

Jugendarbeit ist Vertrauensarbeit.

Andreas Brohm Bürgermeister von Tangerhütte

Bei Stadtratssitzung regten sich Stimmen gegen Sparmaßnahmen

Während man sich in der Gemeindeverwaltung über die Sparmaßnahmen relativ einig ist, regt sich Unbehagen in Tangerhütte. Bei der letzten Stadtratssitzung haben sich Stimmen gegen die Reduzierung der Gelder für die Jugendarbeit gemeldet. Die lange geforderten Jugendclubs in den eingemeindeten Orten Lüderitz und Grieben sind nun wieder auf Eis gelegt. Die mobilen Angebote für Jugendliche könnten das große Einzugsgebiet der Gemeinde mit 32 Ortsteilen nicht versorgen. Und stationäre Angebote gäbe es dann wieder nur in Tangerhütte.

Der Beschluss liegt zwar noch nicht vor, Schließung und Umstrukturierung des Jugendclubs scheinen aber unausweichlich. Mehr Geld kommt nicht.

Achtjähriger beantragte Skate-Anlage

Vielleicht müssen die Kinder sich selbst zu Wort melden, wie einst Noah Stolpe. Der heute Elfjährige bat vor drei Jahren um eine Skater-Anlage. Noah Stolpe erinnert sich: "Ich habe den Bürgermeister angeschrieben. Als es dann hieß, wir können das machen, habe ich mir eine Gruppe zusammengesucht." Es folgte eine Spendensammlung.

Heute wird die Sportanlage von ihm und seinen Freunden mit BMX, Scooter und Skatebords genutzt. Die Anlage steht gleich neben dem Jugendclub und soll auch nach der Schließung für die Jugendlichen zugänglich bleiben.

Sozialpädagogin sieht auch Chancen

Eileen Wolf-Köppe kann sich einen Austausch mit anderen Projekten im Kulturhaus gut vorstellen. Vielleicht ergäben sich dadurch auch neue Möglichkeiten, zum Beispiel für Angebote zwischen den Generationen. Sie sagt: "Aus meiner Sicht birgt das Ganze auch Chancen. Wir könnten den Kopf jetzt auch in den Sand stecken. Aber wir sollten mit offenen und wachen Augen nach vorn schauen und versuchen, auch in der Zukunft für die Jugendlichen da zu sein."

Wir sollten nach vorn schauen und versuchen, auch in der Zukunft für die Jugendlichen da zu sein.

Eileen Wolf-Köppe Sozialpädagogin

Ihre Vision ist ein "Offenes Büro". Sie geht noch einmal zu den Großen, schon halb Erwachsenen, die hinter der Skateranlage herumalbern und weißt daraufhin, dass Kiffen nicht erlaubt ist. Die Kleinen schleppen ihre Scooter-Roller zurück, aber gehen wollen sie noch nicht so richtig. Solange es den Jugendclub noch gibt, bleibt es "ihr Ort".

MDR (Aud Merkel,Julia Heundorf) | Erstmals veröffentlicht am 05.09.2023

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 05. September 2023 | 09:30 Uhr

11 Kommentare

asta vor 35 Wochen

Hallo, ich bin Asta und habe damals auch von der Spendenaktion für den Skaterpark erfahren und ein bisschen Geld gespendet. Alles nach draußen zu verlagern finde ich problematisch, bei uns wurde ein Basketballplatz verlagert, weil ein Familienzentrum neu gebaut wurde und prompt gab es Beschwerden von den Anwohnern. Es wäre zu laut und zu nah an ihren Häusern. Und es ist ein ständiger Streitpunkt in der Ortsgruppe. Ich bin Rollstuhlfahrerin und komme immer wieder gerne nach Tangerhütte zum Rollstuhlsportfest. Klar sind manche Gebäude unwirtschaftlicher als andere, aber Kinder und Jugendarbeit ohne geschützte Räume, die auch zur Wahrung der Privatsphäre notwendig sind, zu planen, nur um Geld zu sparen, finde ich sehr problematisch. Liebe Grüße aus dem ehemaligen Westen.

Sonnenanbeter vor 35 Wochen

"Aber es stehen demnach auch große Zukunftsinvestitionen zum Beispiel in erneuerbare Energien an." Und einen Jugendclub zu erhalten, ist keine mindestens genauso sinnvolle Zukunftsinvestition. Interessante Prioritätensetzung. Oder ist man zu dem Ergebnis gekommen, dass die Jugend in Tangerhütte keine Zukunft hat. Dann sollte man das auch offen und ehrlich kommunizieren...

ChrisSDL vor 35 Wochen

Aber es ist auch zu klären, warum der Landkreis der Stadt ein eigenes Jugendgebäude vorschreibt für eine Förderung. Das ist doch mal wieder typisch bürokratischer weltfremder Irrsinn.

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