Bunt erleuchtet strahlt in Essen bei der Kulturveranstaltung ExtraSchicht in der Nacht der Industriekultur die Kokerei der Zeche Zollverein
Kunst und Kultur statt Kohle und Kokereien. So zeigten sich 2010 viele alte Industrieanlagen im Ruhrgebiet als Veranstaltungsorte fürs Europäische Kulturhauptstadtjahr (Archivfoto). Bildrechte: picture-alliance/ dpa | Achim Scheidemann

Hömma, Chemnitz Glück auf! aus dem Ruhrgebiet in die Kulturhauptstadt Europas 2025

25. Juni 2023, 06:00 Uhr

2025 wird Chemnitz Kulturhauptstadt Europas sein. 18 Monate vorher fragt sich so mancher auch in Chemnitz, was das der Stadt bringen soll? Im Ruhrgebiet in Nordrhein-Westfalen hatten gleich 53 Kommunen vor 13 Jahren so ein Kultur-Jahr organisiert. MDR SACHSEN hat im "Pott" an Ruhr und Emscher nachfragt: Wie kam das Kulturjahr an, wo einst das Herz der Steinkohleindustrie pochte und der Strukturwandel seit mehr als 50 Jahren Menschen und Landschaft prägt?

In eineinhalb Jahren wird Chemnitz als Kulturhauptstadt Europas im Rampenlicht stehen - ebenso wie die westslowenische Stadt Nova Gorica. Viele Menschen in Mitteldeutschland finden es gut, dass der Titel an Chemnitz gegangen ist (siehe Karte unten). Einem recht großen Teil scheint das Ganze weniger wichtig zu sein. Manche fragen sich auch, was das alles wird und bringen soll. Dazu noch Projekte mit englischen Titeln wie den Purple Path oder die abgesagte Apfelbaumparade "We parapom".

Chemnitz Kulturhauptstadt 2025
64 Prozent aller Teilnehmenden bei MDRfragt bewerten es positiv, dass Chemnitz 2025 Kulturhauptstadt wird. Nur neun Prozent finden das negativ. Mit 26 Prozent hat ein recht großer Anteil keine Angabe gemacht. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Kulturmanager: Skepsis und Fragen normal

"Diese Skepsis ist normal eineinhalb Jahre vor Beginn eines Kulturhauptstadtjahres. Da fragen sich die Einheimischen immer, was die da machen", sagt der Kulturmanager und Kulturpolitiker Prof. Dr. Oliver Scheytt. Er hat die "Ruhr.2010" geleitet, das Kulturhauptstadtjahr des Ruhrgebiets vor 13 Jahren. Und er hat Chemnitz für die Bewerbung des Kulturhauptstadtjahres beraten. Über englische Namen für Aktionen und Projekte sollten sich die Chemnitzer nicht wundern. Denn 2025 stehe ihre Stadt "im Lichte der europäischen Öffentlichkeit", meint Scheytt. Menschen von außerhalb, aus Ost- und Westeuropa, sollen angesprochen werden. Die Effekte für den Tourismus würden sich erst nach dem Veranstaltungsjahr zeigen. "Das haben wir in Weimar gesehen und auch im Ruhrgebiet. Die Zahlen steigen danach an", meint Oliver Scheytt.

Die Skepsis jetzt ist ein normaler Zustand.

Prof. Dr. Oliver Scheytt Kulturmanager und Kulturpolitiker, leitete das Kulturhauptstadtjahr Ruhr.2010

Wat soll datt denn?

"Im Ruhrgebiet sind die Besucherzahlen mit dem Kulturhauptstadtjahr tatsächlich signifikant gestiegen", freut sich der Sprecher des Regionalverbands Ruhr (RVR), Jens Hapke. Die Region habe es ab 2010 geschafft, sich als Städtereise-Ziel zu etablieren.

Jetzt tu ma Butter bei die Fische! - Die Ruhr.2010 in Zahlen

  • In 53 Städten gab es 5.500 Veranstaltungen.
  • Das Budget von 61,5 Millionen Euro wurde eingehalten, es gab infrastrukturelle Investitionen von rund 500 Millionen Euro.
  • Insgesamt kamen 10,5 Millionen Menschen zu den Veranstaltungen - als Zuschauer, aber auch als Akteure.
  • Von Januar bis September 2010 gab es ein Touristen-Plus von 13,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum 2009. Bei ausländischen Besuchern gab es im ersten Dreivierteljahr einen Zuwachs von 18,1 Prozent. 2010 zählte das Ruhrgebiet 6,5 Millionen Übernachtungen. 2018 waren es 8,3 Millionen Übernachtungen (+ 27 Prozent).

Herbert Grönemeyer
Rockmusiker Herbert Grönemeyer sang zur Eröffnung im Januar 2010 bei Schneefall und Sturm in der Kokerei Zollverein Essen die Ruhrgebietshymne "Komm zur Ruhr". Er hatte den Song extra dafür geschrieben (Archivfoto). Bildrechte: picture alliance / dpa | Julian Stratenschulte

Hömma, gehnwa Käffken auffe A40?*

Als Highlight galt ein Volksfest auf der Autobahn 40. Die tauchte sonst fast täglich in Staumeldungen auf. Doch Mitte Juli 2010 gingen zwei Millionen Menschen zur Aktion "Still-Leben". Auf einer Länge von 60 Kilometern skateten und radelten sie über die A40 oder saßen in der "Tischspur" beim Picknick und hatten Bütterken (geschmierte Brote), Kuchen und ein Pülleken (Flaschenbier) vor sich. Dabei freuten sich viele über den heimlichen Slogan des Kulturjahres, den der Autor Frank Goosen aus Bochum prägte: "Woanders is auch scheiße." Das soll sein "Oppa" geantwortet haben, wenn er nach der Heimat gefragt wurde: "Dat is hier oder halt woanders. Schön is es hier nicht, aber woanders is auch scheiße."

*Wollen wir einen Kaffee auf der Autobahn 40 trinken gehen?

Unzählige Menschen beteiligen sich am Sonntag (18.07.2010) auf der Autobahn A40 in Essen an dem Projekt "Still-Leben Ruhrschnellweg".
Am 18. Juli 2010 nahmen mehr als zwei Millionen Menschen die Autobahn 40 in Beschlag. Sie radelten oder spazierten auf dem Ruhrschnellweg und nutzten den als Picknick-Platz. (Archivfoto) Bildrechte: picture alliance / dpa | Bernd Thissen

Die Veranstalter nannten das Riesenpicknick eine "große soziale Skulptur". Für die Massen war das "Volksfest statt Stau" so interessant, dass zeitweise Autobahnauffahrten wegen des Andrangs gesperrt werden mussten. Später schrieb die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) über die Aktion: "Hier verliebte sich das Ruhrgebiet in sich selbst."

Gäste von außerhalb waren mehr als baff. Viele aus Bayern sagten immer wieder zu mir: 'Wir wussten gar nicht, wie schön es bei Ihnen ist, wie grün, dass die Menschen so einen Spaß haben'.

Solveig Erdmann Freiwillige Helferin und Gästebetreuerin 2010

Wie alles als "Wintermärchen" begann

"Solche Momente des Zusammenkommens, Singens und Feierns waren wichtig für die Identität nach innen", urteilt die Referatsleiterin beim Regionalverband Ruhr, Stefanie Reichart. Sie erinnert sich auch 13 Jahre danach noch gern an das Picknick auf der Autobahn. Oder ans Projekt "Local Heroes", bei dem jede der 53 Teilnehmerstädte eine Woche lang mit Aktionen im Rampenlicht stand.

Ihr Kollege Jens Hapke gerät auch ins Schwärmen, wenn er an die Eröffnungsfeier denkt. "Das hatte was von Wintermärchen. Wir haben sonst nie Schnee und dann war alles weiß vom Schnee vor der rot-braunen Industriekultur auf Zeche Zollverein. Einmalig! Das hat es seitdem nicht mehr gegeben." Oder die Aktion Schachtzeichen, bei der große, gelbe Heliumballons alle Stellen markierten, an denen früher Bergbauschächte waren. "Das sah toll aus, weil man sah, wo Bergbau überall die Region prägte und was sich daraus entwickelt hat." Hapke meint Orte wie die Zechen als Kulturzentren, aber auch Parks, Wohn- und Gewerbegebiete.

Man muss die Leute im Ort mitnehmen und einbinden. Wenn sie das Kulturjahr unterstützen, sind sie ja alle Botschafter in eigener Sache.

Jens Hapke Sprecher des Regionalverbands Ruhr

Menschen mit Ortschildern von Ruhrgebietsstädten stehen am Samstag (18.12.2010) beim Finale der Kulturhauptstadt Ruhr.2010 auf der Zeche Nordstern in Gelsenkirchen nebeneinander
Zum großen Finale am Ende des Kulturhauptstadtjahres waren alle 53 Kommunen nochmals präsent. Bildrechte: picture alliance / dpa | Julian Stratenschulte

Allet töffte?*

"Die großen Ideen haben alle funktioniert. An die erinnert man sich gerne", meint Hapke. Auch das Ziel der Netzwerkarbeit innerhalb der 53 Kommunen wurde weiterverfolgt. Mehr als 30 Projekte sollten fortgesetzt werden, etwa die Zusammenarbeit der Museen in der Region als "Ruhrkunstmuseen", die künstlerische Gestaltung des Rhein-Herne-Kanalufers als "KulturKanal" und das Netzwerk Ruhr-Bühnen mit heute elf Theatern und zwei Festivals. Pro Jahr geben das Land NRW und der Regionalverband Ruhr je 2,4 Millionen Euro Zuschüsse aus den laufenden Haushalten. "Man muss sich vorher überlegen, wie es nach dem Kulturhauptstadtjahr weitergeht, wie man das sichert, was in dem Jahr geschaffen wird", meint Stefanie Reichart.

Man muss vorher mitdenken, wie es danach weitergeht, die Verantwortung dafür übernehmen und das auch finanziell stemmen wollen.

Stefanie Reichart Referatsleiterin beim Regionalverband Ruhr

*Alles in Ordnung?

To-Do-Liste für Chemnitz

Die Macher des Kulturhauptstadtjahres in Chemnitz sollten nach Meinung von Kulturmanager Scheytt 18 Monate vor dem Start nicht nervös werden, sondern "intensiv daran arbeiten", die Ziele des Kulturjahres den Einheimischen zu vermitteln. Auch Traditionen, die die Geschichte zeigen, sollten einbezogen werden - zum Beispiel das Steigerlied, das immaterielles Kulturerbe ist. Die eigene Geschichte mit auswärtigen Gästen zu reflektieren und zu zeigen, wo man herkommt und wo man hin will: Das hält Scheytt für essenziell im Kulturhauptstadtjahr.

"Bei der Eröffnungsfeier, wenn es los geht, werden sich die Gefühle drehen. Ich bin mir sicher, dass Chemnitz die Botschaft für ein neues Miteinander toll zeigen wird. Die Ideen und Kreativität der Menschen in Kunst und Kultur sind dafür eine unerschöpfliche Energiequelle."

Infografik zum Thema: Erwartungen an Kulturhauptstadtjahr. 63% Verbesserung Image, 56% mehr Bekanntheit, 55% kulturelle Highlights
Das erwarten Menschen in Mitteldeutschland vom Kulturhauptstadtjahr 2025 in Chemnitz. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

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