Naturgefahr Fluss Abgesiedelt: Wie ein Neubaugebiet bei Riesa an der Elbe verschwand

10. August 2022, 18:00 Uhr

Es ist Sachsens Ortsteil mit der kürzesten Geschichte: Röderau-Süd wurde 1992 als Neubaugebiet an der Elbe gegenüber von Riesa errichtet und elf Jahre später abgerissen. Nichts ist von dem Ort heute zu sehen. Nur ein kleiner Kreisverkehr ohne Ausgänge liegt in einer großen Wiese.

Michael Ahner steht am Kreisel. Für ihn ist es auch nach 20 Jahren eine emotionale Situation, das Geschehen rückblickend zu bewerten. Denn Ahner hatte als Bauamtsleiter von Röderau das Gebiet maßgeblich mitgeplant. "Röderau-Süd war für Röderau eine große Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln", sagt der 65-Jährige. Nach der Wende wollten die Gemeinden wirtschaftlich die Nase vorn haben, Flächen wurden gebraucht und es musste zügig gehen, wie Ahner die Aufbruchstimmung Anfang der 1990er-Jahre beschreibt.  

Der Damm brach und alles versank

2002 standen in Röderau-Süd um die 80 Wohnhäuser, zwei Autohäuser, eine Bäckerei, eine Stahlbaufirma und die kommunale Kläranlage. Circa 400 Menschen lebten hier. Dann kam das Hochwasser. Am 16. August brach ein Elbedamm und alles versank bis unters Dach. "Zweieinhalb Meter stand das Wasser hoch, das war Totalschaden", erinnert sich Matthias Brade von der gleichnamigen Bäckerei.

Zweieinhalb Meter stand das Wasser hoch, das war Totalschaden.

Matthias Brade Bäckermeister

Als das Wasser ablief, kam für ihn der Wiederaufbau der Bäckerei an gleicher Stelle nicht infrage. Brade wollte nur "raus hier" und suchte sich alternative Grundstücke weg vom Fluss. Brade stellt klar: "Röderau-Süd war eine Bausünde." Zu der Erkenntnis kamen auch die Behörden. Die Siedlung liegt im Überflutungsbereich der Elbe und hätte dort gar nicht errichtet werden dürfen, heißt es.

Vor der Flutkatastrophe sah das noch anders aus: "Es war überhaupt nicht unser Sinn, zu sagen, wir bauen hier auf Risiko. Es wurde ja von allen Behörden geprüft und genehmigt und mit den Trägern öffentlicher Belange abgesprochen", so der frühere Bauamtsleiter von Röderau. Niemand habe damit gerechnet, dass das durch ein Jahrhundertereignis wie die Flut 2002 alles zerstört würde, betont Ahner.

Selten wird wegen Naturgefahren umgesiedelt

Während in den nächsten Monaten der Wiederaufbau in Röderau-Süd begann, diskutierte die Staatsregierung dessen Umsiedlung. In Deutschland habe man schon vielfach über Umsiedlungen wegen Naturgefahren nachgedacht, aber sie nie vollzogen, sagt Jörn Birkmann vom Institut für Raumordnung und Entwicklungsplanung (IREUS) der Uni Stuttgart. Auch nach den Überschwemmungen im Ahrtal in Rheinland-Pfalz ist es wieder ein Thema. Der Fall Röderau sei aber in seiner Größenordnung in Deutschland einzigartig, betont Birkmann.

Karin Bernhardt vom Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie kennt für Sachsen nur noch eine weitere, kleinere Umsiedlung in Weesenstein. Darüber hinaus seien nach dem Hochwasser 2002 vereinzelt Häuser nicht wieder an Ort und Stelle aufgebaut worden - so in Freital das "Blaue Haus" und in Dippoldiswalde die Feuerwehr- und Katastrophenleitstelle.

Radikale Entscheidung im Fall von Röderau-Süd

Verschiedene Faktoren führten zur schnellen Umsetzung der drastischen Maßnahme in Röderau, wie der Klimaforscher Thomas Kox von der Ludwig-Maximilians-Universität München in einer Studie aus dem Jahr 2016 feststellte: Der Schock der Menschen saß tief, der politische Wille war da sowie die finanziellen Möglichkeiten und es handelte sich hier um eine offensichtliche Fehlplanung. "Potenziert wurde dies durch den damaligen Bundestagswahlkampf, woraus eine erhöhte politische Anteilnahme resultierte. Dies wiederum führte zu einer hohen finanziellen Ausstattung der Umsiedlungsmaßnahme, bei vergleichsweise schneller Akquirierung von Fördermitteln", schreibt Kox in seiner Studie.

Mehr als 40 Millionen Euro Entschädigung

"Es war wie sterben", erinnert sich eine Anwohnerin an den Tag, als sie von der Entscheidung erfuhr, dass Röderau-Süd abgerissen wird. Mit ihrem Namen möchte sie aufgrund des damaligen Medienrummels nicht genannt werden. Eines sei aber sicher: Wem es von den Ehemaligen aus Röderau-Süd heute nicht gut gehe, der habe was falsch gemacht. "Alle sind zu 100 Prozent entschädigt worden. Das wird man so nie wieder machen", ist die Frau überzeugt. Mehr als 40 Millionen Euro hat die Absiedlung nach Schätzungen gekostet.

Es war wie sterben.

frühere Bewohnerin von Röderau-Süd

Für die ähnlich betroffenen Anwohner einen Katzensprung weiter in den Auensiedlungen Promnitz oder Moritz stand nach der Hochwasserkatastrophe 2002 eine Umsiedlung nicht zur Debatte. Abriss und Neuaufbau an anderer Stelle vom Staat finanziert? "Das hätten wir uns vorstellen können", bejaht Brigitte Dächert aus Moritz. Ihr Mann Rainer Dächert relativiert die Aussage seiner Frau sofort. "Ich bin hier geboren und aufgewachsen, ich hätte zu der Zeit das Haus kaum aufgegeben", sagt der 74-Jährige.

Kreislauf von Überschwemmung und Wiederaufbau

Die Dächerts haben wie viele andere Elbanrainer ihr geflutetes Haus wieder trockengelegt und saniert. Dann kam 2013 das nächste Hochwasser. "Wir hatten 2002 gedacht, das war ein Ausnahmefall und wenige Jahre später hatten wir es wieder", erinnert sich Rainer Dächert. Alles ging von vorn los: das Einholen der Gutachten, die Telefonate mit der Versicherung, die Haussanierung.

Dächert ist mit anderen Anwohnern entlang der Elbe zwischen Nünchritz und Zeithain seit Jahren in Bürgerinitiativen aktiv. Sie wollen die sie bedrohende Hochwassergefahr mindern. Es geht ihnen unter anderem um eine scheinbar simple Sache: Die Uferzone soll regelmäßig gepflegt werden, um den Durchfluss der Elbe bei Riesa zu gewährleisten.

Der Freistaat sieht diese Aufgabe beim Bund, weil die Elbe eine Bundeswasserstraße ist. Der Bund wiederum sieht den Freistaat verantwortlich, da Hochwasserschutz Ländersache ist. Niemand fühle sich für die Uferzone zuständig, die immer mehr verwildert, beklagt Dächert.

Bund klagt gegen Pflege des Elbeufers

Nach langem Hickhack hat das Kreisumweltamt des Landkreis Meißen die Pflege der rechtselbischen Uferflächen bei Röderau mit einer wasserrechtlichen Entscheidung gegenüber dem Bundesverkehrsministerium angeordnet. "Die Anordnung ist darauf gerichtet, den weiteren Aufwuchs durch Stauden oder verholzende Gewächse, welche eine fortschreitende Verlandung der Flächen begünstigen würde, zu verhindern", begründet der Landkreis den Schritt. Daraufhin wurden im vergangenen Herbst tatsächlich die Wiesen und Hochstaudenfluren gemäht.

Der Streit um die Verantwortung für die Flusspflege ist nicht beendet. Im Gegenteil: Der Bund hat im Dezember vergangenen Jahres Klage vor dem Dresdner Verwaltungsgericht erhoben. Jetzt soll über den langen Weg der Gerichte entschieden werden, ob sich Länder oder Bund um die Uferzonen der großen Flüsse kümmern müssen. Damit wird Röderau erneut zu einem deutschlandweit beispielhaften Fall.

MDR

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | SACHSENSPIEGEL | 13. August 2022 | 19:00 Uhr

2 Kommentare

Andreas SN am 11.08.2022

Anstatt Überflutungsflächen im Hinterland anzulegen, dem Fluss mehr Raum zu geben stehen die Deiche direkt am Flußufer - nun sollen auch noch die Auenwälder mit Ihrer Naturvielfalt wieder einmal weg! Anstatt sich unserer Natur anzupassen und mit Ihr zu Leben soll diese wieder einmal bezwungen werden. Wenn der letzte Baum gerodet ....

O.B. am 11.08.2022

Man kann auch ein Dorf an einem Vulkan errichten und hoffen das er nicht (mehr) ausbricht.

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