Oberlandesgericht Dresden Prozess um Linksextremismus: Hauptangeklagte äußert sich erstmals selbst

23. Oktober 2022, 10:00 Uhr

Mehr als ein Jahr nach Prozessbeginn hat Lina E. zum ersten Mal offiziell vor dem Dresdner Oberlandesgericht gesprochen. Die Angeklagte gab eine Erklärung zu ihren Personalien ab. Ein bemerkenswerter Vorgang.

Seit mehr als 700 Tagen sitzt Lina E. mittlerweile in Untersuchungshaft. Der Prozess vor dem Oberlandesgericht Dresden gegen sie und drei weitere Männer wegen Bildung einer kriminellen linksextremen Vereinigung läuft seit mehr als einem Jahr. 72 Mal wurde bisher verhandelt. Und nun äußerte sich die Hauptangeklagte das erste Mal offiziell selbst.

Lina E. sieht persönliche Angaben als "große Sache" für sich

Sie möchte ihre persönlichen Verhältnisse erklären. Das bedeutet, dass sie dem Gericht über ihren bisherigen Lebensweg berichtet und dabei auch über ihre wirtschaftlichen Einnahmen Auskunft erteilt. Dafür beginnt sie mit einer Erklärung: "Ich wollte ein paar einleitende Worte verfassen, weil hier vor ein paar Wochen mal angeklungen ist, die persönlichen Verhältnisse könnten schnell abgehandelt werden." Und sie sagt weiter: "Für mich ist das schon eine große Sache hier in öffentlicher Hauptverhandlung, wo es ein großes öffentliches und auch mediales Interesse gibt, zu sprechen."

Dies sei auch so, weil im Laufe des Verfahrens und der Verhandlung sehr viel "vermeintliches Wissen über mein Privatleben" veröffentlicht worden sei. "Man könnte jetzt sagen‚ okay, bei mir ist der Privatsphäre-Zug eh schon abgefahren", aber man könne es auch als Versuch verstehen, zumindest über einige Waggons dieses Zuges noch die Kontrolle zu erlangen.

Für mich ist das schon eine große Sache hier in öffentlicher Hauptverhandlung, wo es ein großes öffentliches und auch mediales Interesse gibt, zu sprechen.

Lina E. Angeklagte vor dem Oberlandesgericht Dresden

Angeklagte über ihre soziale Ader

Und so berichtet die 27-Jährige über ihre Kindheit und Jugend in Kassel, den Schulbesuch, das Abitur. Zwei Schulpraktika in Einrichtungen für geistig und körperlich behinderte Kinder hätten in ihr das erste Mal den Berufswunsch klarer werden lassen, Förderschullehrerin zu werden. Dieser Wunsch habe sich noch einmal etwas geändert, und sie habe schließlich in Halle/Saale angefangen, Sozialpädagogik zu studieren.

Während dieses Studiums habe sie weiter Praktika, unter anderem in einer Wohngruppe für Kinder- und Jugendhilfe geleistet. Sie berichtet von einer Schlüsselsituation, in der sich ein Kind aus dieser Wohngruppe selbst mit Scherben verletzt und gedroht habe, eine Scherbe zu verschlucken. Die Angeklagte erklärte, dass es ihr gelungen sei, das Kind davon abzuhalten, bis schließlich eine ausgebildete Mitarbeiterin zu Hilfe kommen konnte. Dies habe sie darin bestärkt, den eingeschlagenen Berufsweg weiterzugehen.

Reaktion auf Vorwürfe der Polizei

Schließlich nimmt Lina E. noch einmal Stellung zu, aus ihrer Sicht, indirekten Vorwürfen der Polizei. "Ich habe in Vorbereitung meiner persönlichen Angaben auch noch einmal den Personenbericht der Polizei gelesen." Darin seien unter anderem ihre politischen Hausarbeiten hervorgehoben, welche das Landeskriminalamt (LKA) offenbar als Beleg für eine weitergehende politische Betätigung und möglicherweise auch ein politisches Motiv für die angeklagten Taten sieht. Sie erklärt: "Ja, ich habe Hausarbeiten zu politischen Themen geschrieben, weil das Themen sind, die mich interessieren. Aber das ist nicht im luftleeren Raum."

Politische Person

Dies sei immer im Kontext ihrer Seminare passiert. Auf das Thema ihrer Bachelorarbeit mit dem Titel "Zum Umgang mit Neonazismus in der Jugendarbeit. Der NSU im Jugendclub Winzerla" sei sie beispielsweise gekommen, nachdem sie das Buch "Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU" von Dirk Laabs und Stefan Aust gelesen hatte, das sich mit der Genese des Thüringer Heimatschutzes befasst. In der Folge entstand die spätere rechte Terrorgruppe NSU.

Das Buch zeichne diesbezüglich den Weg der Jugendlichen im Jenaer Jugendklub in Winzerla, der damals das Konzept einer die Rechtsextremen akzeptierenden Jugendarbeit verfolgt habe. "Ich habe gleich gemerkt, dass es da relativ wenig Material zum Thema gibt", berichtet E., weswegen sie in ihrer Bachelorarbeit aus diesen Ereignissen Schlüsse für heutige Jugendarbeit herauszuziehen versucht habe. Die Arbeit sei schließlich mit einem "Sehr gut" bewertet worden, wie sie auf Nachfrage des Gerichts bestätigt.

Nach einem Jahr Pause, in dem sie praktische Erfahrungen in Wohngruppen der Kinder- und Jugendhilfe sammelte, begann sie im Herbst 2019 ein diesbezügliches Masterstudium in Halle. Seit November 2020 sei sie in Untersuchungshaft. Sobald sie aus der Haft entlassen sei, oder es wieder möglich sei, wolle sie ihr Studium beenden.

Pläne für die Zukunft

Sie will trotz des Prozesses später einmal im sozialen Bereich arbeiten. "Falls das nicht klappen sollte, kann ich mir auch vorstellen, mir das eine Jahr Qualifizierung zur Tischlerin in der Haft anrechnen zu lassen und dann noch zwei weitere Jahre Ausbildung zur Tischlerin dranzuhängen."

Lina E. antwortet offen und selbstbewusst auf die Nachfragen des Gerichts zu ihren Studiengängen und deren Inhalten und ihren Motivationen. Fragen zu ihrem Verhältnis zum gesondert verfolgten Johann G. beantwortet sie auf Erklärung ihres Anwalts Erkan Zünbül allerdings explizit nicht.

Auch Nachfragen der Bundesanwaltschaft gestattet der Verteidiger nicht, als diese ihren Klärungsbedarf anmeldet: "Wenn Sie schon so anfangen, dann können Sie sich das denken. Danke für ihr Verständnis." Die weiteren Angeklagten wollen sich kommende Woche zu ihren persönlichen Verhältnissen einlassen.

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Regionalnachrichten aus dem Studio Leipzig | 21. Oktober 2022 | 15:30 Uhr

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