Leben auf der Straße Alkohol und Drogen: Viele Obdachlose haben trotzdem Kinder

05. November 2022, 05:00 Uhr

Viele Obdachlose haben Kinder, doch nur wenige dürfen diese auch bei sich behalten. Wie kommen Eltern und die Kinder damit zurecht? Ben etwa fühlt sich bei der Mutter nicht wohl und hat die Nähe zu seinem Vater gesucht, der seit fünf Jahren obdachlos ist. Weil der junge Mann Geborgenheit sucht, ahmt er das Leben seines Vaters nach – und stürzt seither immer weiter ab.

"In Deutschland muss niemand obdachlos sein", ruft Ben aufgeregt. Der 19-Jährige steht am Hauptbahnhof Leipzig mitten unter Obdachlosen. Zu dieser Clique fühlt sich der junge Mann hingezogen, obwohl er theoretisch noch ein Zuhause hat. Doch sein Vater lebt auf der Straße und akzeptiere ihn so, wie er ist. Das sei gerade wichtiger.

"Ich war nie obdachlos, hatte immer eine Mutti", sagt Ben und guckt vom Vorplatz des Bahnhofs in die Ferne Richtung Straßenbahn. Mit 11 habe er das Rauchen angefangen, mit 13 das Kiffen und mit 15 Crystal genommen. "Durch meinen Vater habe ich gelernt zu überleben." Und sein Vater sei immer für ihn da gewesen, im Gegensatz zu seiner Mutter. Die wolle seine Homosexualität nicht akzeptieren, erklärt Ben, schluckt schwer, senkt den Blick und bricht in Tränen aus. 

Doch wie kann man sich um ein Kind kümmern, wenn man selbst auf der Straße lebt? Der Vater von Ben wird am Bahnhof nur "Buddha" genannt. Im Schneidersitz sitzt er auf dem Asphalt vor dem Eingang und bettelt. "Tja, muss gehen. Soweit wie es geht und wie er hört", brummt er und schaut auf seinen Sohn, der inzwischen neben ihm sitzt. "Aber die hören ja heutzutage nicht mehr." Er sei früher Gleisbauer gewesen. Die Trennung von seiner Frau und finanzielle Probleme hätten in die Obdachlosigkeit geführt. Das sei inzwischen seit fünf Jahren so und derzeit schlafe er in Häusern, die bald abgerissen werden sollen.

Ben hat während des Gesprächs erneut rote Augen bekommen, weil er Mitleid mit seinem Vater habe, sagt der junge Mann mit dem Regenbogen-Armband am rechten Handgelenk. Buddha legt seinen linken Arm um den Sohn, zieht ihn an seine Brust, drückt ihm einen Kuss auf die strubbligen Haare. Flüstert: "Ist gut."

Wegen Homosexualität: Ben wird immer wieder zusammengeschlagen

Ben muss jedoch auch selbst einiges erdulden. Eigentlich wohnt er noch bei seiner Mutter, doch die sei auf Reisen und er hätte gerade keinen Zugang zur Wohnung, erzählt er. Außerdem würde sie nicht akzeptieren, dass er schwul ist. Dabei könnte er die Unterstützung seiner Eltern gut gebrauchen.

"Hier wurde ich abgestochen", sagt Ben und hebt den grauen Pullover hoch und zeigt mit den Fingern auf eine messerbreite Narbe am Bauch. Als Homosexueller erlebe er immer wieder Übergriffe. Er dreht sich um, und zeigt blaue Flecken an der Wirbelsäule: "Hier wurde ich mit einer Krücke … Alles blitze blau. Tut halt weh." Das erlebe er immer wieder. Doch während Ben etwas Halt bei seinem Vater findet, rutscht er offenbar mit ihm auch immer weiter ab.

Viele Obdachlose mit Kindern und Problemen mit Drogen und Sucht

Ein Obdachloser und sein Kind – das ist kein Einzelfall. MDR-Reporter Thomas Kasper begleitet die Szene in Leipzig seit Jahren und fast alle wohnungslosen Menschen, mit denen er sich intensiver befasst hat, haben Kinder – eins, drei oder vier. Manche sogar acht, so wie Dave. "Ja, genau acht", sagte Dave damals. Im Falle seines bisher letzten Kindes führte seine Suchtproblematik zum Kindesentzug. Weil Dave und seine Partnerin während der Schwangerschaft und danach illegale Drogen konsumierten, nahmen die Jugendämter das Kind in Obhut.

Rund 80 Prozent aller Obdachlosen in Deutschland haben ein Suchtproblem – meist mit Alkohol, wie aus der Seewolf-Studie (2014) des Klinikums rechts der Isar der TU München hervorgeht. Außerdem hätten überdurchschnittlich viele Obdachlose auch mit psychischen Problemen zu kämpfen.

Babys, die mit Drogen auf die Welt kommen

Das hat Folgen für die Kinder: "In unseren Bereitschaftspflegen haben wir ganz viele Babys, die schon mit Drogen auf die Welt kommen", sagt die Vorsitzende des sächsischen Verbandes der Pflege- und Adoptivfamilien, Liane Kühn. Die Folgen des Alkoholkonsums während der Schwangerschaft: Die Babys machen in der Bereitschaftspflege und unter ärztlicher Aufsicht einen Entzug durch. "Die Kinder schreien permanent. Sie krampfen, sie können sich nicht entspannen, sie können nicht schlafen. Dementsprechend, wenn sie nur schreien, können sie nicht essen und nicht trinken." Es ist ein brutaler Start ins Leben.

Ebenfalls am Hauptbahnhof Leipzig hat MDR-Reporter Thomas Kasper im Jahr 2017 Melanie kennengelernt. Sie war damals im siebten Monat schwanger, der Winter stand unmittelbar bevor und die blonde Frau bettelte auf dem Vorplatz. Wenige Tage später stürzte Melanie betrunken mit dem Fahrrad und kam in eine Klinik. Dort wurde ihr Sohn geboren. Das Baby kam im Krankenhaus direkt in die Obhut des Jugendamtes.

Melanie: Vier Kinder und keins lebt bei ihr

Melanie hat insgesamt vier Kinder – keins lebt bei ihr. Doch es sei nicht ihre Schuld, sagt sie während sie vor dem Bahnhof sitzt und ein Bier trinkt. "Aber was kann ich denn dafür, wenn irgendwelche Formalitäten über den Kopf gegangen sind", meint sie, während ein Freund ihre Hand hält. "Aber ich kann die Zeit nicht rumdrehen." Dann dreht sie den Kopf weg und schluchzt.

Im Jahr 2021 hat es in Deutschland rund 47.500 Inobhutnahmen gegeben – davon 28.500 wegen dringender Kindeswohlgefährdung. Das heißt: Überforderung der Eltern, körperliche oder psychische Misshandlung. Allerdings muss die Inobhutnahme von Kindern nicht dauerhaft sein. Stabilisieren sich die Eltern, gibt es für die Kinder auch den Weg zurück in die Herkunftsfamilie. Bei obdachlosen Eltern ist dies jedoch selten.

Inobhutnahme der Kinder: Muss nicht für immer sein

Anne ist dies dennoch gelungen. Nach neun Jahren Obdachlosigkeit ist sie wieder mit ihrer Tochter zusammengezogen. Der MDR-Reporter hat Anne am Rande der Trauerfeier des vor Kurzem verstorbenen Sigis getroffen. Die Tochter der Schreinerin ist erst 15 und hat seit ihrem sechsten Lebensjahr in betreuten Wohngemeinschaften gelebt. Dort besuchte die damals obdachlose Mutter ihre Tochter halbwegs regelmäßig.

Ellen habe irgendwann gewusst, dass ihre Mutter ein Alkoholproblem hat. Das sei schlimmer gewesen, als die Obdachlosigkeit und es gab einige unangenehmen Momente in der Vergangenheit: "Wenn sie mir leere Versprechen gemacht hat. Von wegen, am Wochenende sehe ich dich wieder, und dann ist es nicht passiert", berichtet Ellen über die schweren Jahre.

Die Mutter sitzt währenddessen mit Schiebermütze neben ihr auf einer Bank. "Also meine Abstürze waren schon …" Anne bricht den Satz ab über diese Zeit und wechselt zu positiveren Aspekten ihrer Vergangenheit. Sie habe Glück gehabt und gute Freunde. "Die mir in den Arsch getreten haben und gesagt haben: Heute reißt du dich zusammen!" Immer bevor sie sich mit ihrer Tochter treffen wollte oder einen wichtigen Termin hatte. Irgendwann konnte sie ihre Sucht überwinden.

Ich will auch irgendwann mal Kinder haben, eine Familie und niemals will ich jemanden das antun oder mir selber.

Ellen Tochter

Ellen hat keine Angst, dass sie auch einmal in der Obdachlosigkeit oder in der Alkoholsucht enden könnte. Sie habe gesehen, was das mit einem Menschen macht. "Ich will auch irgendwann mal Kinder haben, eine Familie und niemals will ich jemanden das antun oder mir selber."

Wenn der Sohn dem Vater helfen will

Währenddessen kopiert Ben immer mehr das Leben seines Vaters. Inzwischen sammelt er am Bahnhof Essen und Trinken – Reste, die in Fensterrahmen oder auf Bänken liegengelassen worden sind. "Hier, ist übelst geil. Erdbeere", lallt er und nimmt einen halbvollen Starbucks-Becher mit rosa Flüssigkeit. Später findet er noch einen Becher von McDonalds. "Cola für Papa."

Es wirkt, als gebe es eine Rollenumkehrung zwischen Vater und Sohn. Der Sohn übernimmt Verantwortung für den obdachlosen Vater. Dabei hat Ben eigentlich hinreichend mit seinen eigenen Problemen zu kämpfen – und seinem Weg ins Leben.

Doch offenbar findet der junge Mann bei seinem Vater die Geborgenheit, die er aus seiner Sicht gerade so dringend braucht. Auch wenn dies bedeutet, dass er selbst in die Obdachlosigkeit abrutscht. Ben hat mit seinem Vater ein Nachtquartier mit Schlafsäcken und Decken in einem Fußgängertunnel aufgeschlagen. "Ist nämlich kalt", krächzt Buddha. Der Winter kommt.

Quelle: MDR exakt/ mpö

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 02. November 2022 | 20:15 Uhr

Mehr aus der Region Leipzig

Mehr aus Sachsen