Interview mit Journalistik-Professor Thomas Hestermann Ausländerkriminalität: "Es entsteht ein völlig verzerrtes Bild"
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Prof. Thomas Hestermann hat gemeinsam mit der Leipziger Strafrechtlerin Prof. Elisa Hoven den wissenschaftlichen Beitrag "Kriminalität in Deutschland im Spiegel von Pressemitteilungen der Alternative für Deutschland (AfD)" verfasst. Prof. Hestermann lehrt Journalistik an der Hochschule Macromedia am Standort Hamburg. Tobias Wilke hat für MDR SACHSEN mit ihm gesprochen.
MDR SACHSEN: Welche Rolle spielen die Medien bei der Wahrnehmung von Ausländerkriminalität? Verspricht ein mutmaßlich durch Zuwanderer begangenes Delikt bessere Klickzahlen oder Einschaltquoten?
Prof. Hestermann: Vielfach wurde an die Medien der Vorwurf der "Lügenpresse" oder auch der "Lückenpresse" gerichtet, wonach in der Berichterstattung Angaben über ausländische Tatverdächtige unterschlagen und die Folgen der Einwanderung geschönt dargestellt würden. Tatsächlich zeigt eine Langzeitanalyse, dass 2014 nur 4,3 Prozent aller aktuellen Fernsehbeiträge über Gewaltkriminalität in Deutschland explizit ausländische Tatverdächtige nennen. 2017 ist, vor allem nach den Debatten um die Kölner Silvesternacht, dieser Wert auf das Vierfache, 16,4 Prozent angestiegen.
Betrachtet man zugleich, wie häufig explizit deutsche Tatverdächtige genannt werden, so ist dies nicht nur in den Pressemeldungen der AfD, sondern auch in der Berichterstattung kaum der Fall. Damit wird das Bild stark zulasten ausländischer Tatverdächtiger verzerrt, bei der AfD dreimal so stark wie in den untersuchten TV-Formaten 2017 (Hauptnachrichten und Boulevardmagazine der acht meistgesehenen Sender). Wenn von "Lückenpresse" die Rede ist, bleibt festzustellen: Die größte Lücke liegt in der Wahrnehmung deutscher Tatverdächtiger. Soweit nicht grundsätzlich, sondern weit überwiegend nur bei Ausländern die Nationalität genannt wird, geraten ausländische Tatverdächtige weit überproportional in den Blick - ein Muster, das die AfD vorgibt.
Aus meiner Sicht lässt sich dieser neue Trend weniger mit Einschaltquoten erklären, sondern vielmehr unter dem Druck, unter dem sich viele Journalisten sehen - aus dem heraus sie allerdings eben nicht umfassender berichten als vorher, sondern eher einseitig.
MDR SACHSEN: Erreicht die AfD mit ihren Pressemitteilungen zur Ausländerkriminalität nur die eigene "Filterblase", also ihre Anhänger in Sozialen Netzwerken, oder ist die Reichweite größer?
Prof. Hestermann: Aus der neueren Forschung wissen wir, dass Filterblasen keine hermetischen Gebilde sind - sowohl in dem Sinne, dass AfD-Anhänger vielfach etablierte Medien konsumieren, wie auch in dem Sinne, dass AfD-Positionen weit in die Gesellschaft hineinstrahlen.
Ein Beispiel: "Messerepidemie grassiert!" heißt es in einem Tweet des AfD-Bundesverbandes über "irre Einzeltäter & entfesselte Großfamilien: Attacken von Türken, Kurden, Tschetschenen, Afghanen, Eritreern, Gambiern & Syrern. Das ist alles nur noch der Wahnsinn!" Dies fand sein Echo in Deutschlands auflagenstärkster Tageszeitung. Sechs Tage darauf fragte Bild: "Was tun gegen die grassierende Messer-Epidemie?"
MDR SACHSEN: Inwiefern spiegelt die von der AfD dargestellte Ausländerkriminalität gemäß Ihrer Studie die Wirklichkeit dar?
Prof. Hestermann: Einer der Auslöser dieses Forschungsprojektes war ein Beitrag des stellvertretenden AfD-Landesvorsitzenden von Sachsen, Maximilian Krah. Dieser hatte behauptet, nach Polizeiangaben seien in Chemnitz aktuell 60 Frauen vergewaltigt worden. "Die Polizei sagt, 56 von Migranten, 4 von Unbekannt." Die Zahlen stellten sich als frei erfunden heraus. Tatsächlich wurden nach Polizeiangaben von 14 Vergewaltigungen zwölf aufgeklärt, drei der Verdächtigen seien keine Deutschen. Dazu räumte Krah in einem Tweet ein, er habe eine "ungenaue" Zahl verwendet, sehe der weiteren Debatte aber gelassen entgegen.
Derart schlichte Erfindungen konnten im Untersuchungszeitraum nicht festgestellt werden. Gerüchte und Spekulationen nach dem bloßen Augenschein bleiben die Ausnahme. Vielmehr überwiegt zwar eine einzelfallorientierte, narrative Darstellung. Doch häufig werden zugleich offizielle Statistiken - wenn auch sehr selektiv - zitiert.
So entsteht ein völlig verzerrtes Bild: Soweit beispielsweise die Nationalität von Tatverdächtigen erkennbar wird, sind dies zu 95 Prozent ausländische, zu fünf Prozent deutsche Tatverdächtige. Selbst bei diesen wenigen deutschen Tatverdächtigen wird durchweg betont, dass sie Migrationshintergrund hätten oder dass ihr Tatbeitrag nur gering gewesen sei.
Interessant ist auch, dass die lange und zahlreich in Deutschland lebenden Ausländer kaum erwähnt werden. So gibt es keinen einzigen Hinweis auf italienische oder polnische Tatverdächtige. Dagegen wird konsequent auf syrische, irakische oder afghanische Herkunft (5,2 Prozent laut PKS 2018, 47 Prozent der in den AfD-Texten beschriebenen Tatverdächtigen mit Angabe der Nationalität) fokussiert, damit also jene in 2015 besonders zuwanderungsstarken Länder. Dies dient als Ausgangspunkt, um die Grenzöffnung 2015 als zentrales Staatsversagen anzuprangern.
Soweit Waffen in den untersuchten AfD-Texten genannt werden, sind dies in 66,7 Prozent Messer - nach Zahlen des Landeskriminalamts Niedersachsen wurden 2,8 Prozent aller erfassten Gewaltdelikte mittels Messern verübt.
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Dieses Thema im Programm bei MDR SACHSEN MDR SACHSENSPIEGEL | 06.06.2019 | 19:00 Uhr