Hartz IV Raus aus der Armut: Zwei Menschen, die es geschafft haben

14. Oktober 2023, 05:00 Uhr

Armut, Abhängigkeit oder Aussichtslosigkeit: Aus dieser Ecke herauszukommen, ist schwer - gerade in Deutschland. Claudia und Patrick haben trotzdem einen Weg gefunden. Wie sie das geschafft haben.

In der Sonne von Freital glänzt die schwarze Harley-Davidson. Die Maschine ist der erfüllte Lebenstraum von Claudia Mihaly-Anastasio. Die Mutter von sechs Kindern war bis vor 13 Jahren noch arbeitslos - niemand wollte die Alleinerziehende einstellen. "Ich habe mit nix angefangen. Mit null", sagt die 48-Jährige.

Aus ihrer Not hatte Mihaly-Anastasio im Jahr 2010 einen Friseurladen in ihrer Heimatstadt übernommen. "Ich bin die ersten Jahre fünf, sechs Tage die Woche arbeiten gegangen", beschreibt sie. Oft ging es bis tief in die Nacht hinein. "Also, es waren viele, viele schlaflose Nächte." Hinzu kam, dass sich die alleinerziehende Mutter von vier eigenen und zwei angenommenen Kindern permanent Sorgen machte, dass es trotzdem finanziell nicht reichen würde.

Erst Betroffene, dann Helfende

Insbesondere alleinerziehende Menschen sind in Deutschland von Armut betroffen: Es sind 2022 fast 5,6 Millionen Menschen gewesen. Wie aus einer Analyse des Statistischen Bundesamtes hervorgeht, sind 42,9 Prozent aller vom Armutsrisiko betroffenen Menschen alleinerziehend.

Inzwischen hat Mihaly-Anastasio es geschafft. Vor vier Jahren konnte sie auch ihren Laden umfassend renovieren und nun hilft sie selbst Bedürftigen. Die Unternehmerin ist auch Chefin der Barber Angels von Sachsen und Thüringen. Dieser international aktive Verein ist ein Zusammenschluss von Friseuren, die Bedürftigen kostenlos die Haare schneiden.

"Ich habe sehr viel Glück gehabt in meinem Leben. Auch, dass ich mein Geschäft so habe, wie es ist", sagt Mihaly-Anastasio. Sie habe das Gefühl, wenn sie Bedürftigen die Haare schneidet, dann könne sie damit etwas zurückgeben.

Als Kind erlebt: Gewalt und Drogen

Auch Patrick hat es aus der Armutsfalle geschafft. Seinen vollen Namen möchte er nicht in der Öffentlichkeit sehen. Der 38-Jährige spielt in Leipzig immer wieder mit seinem Sohn Fußball. Für viele Normalität. Doch er selbst hatte so etwas als Kind nicht erleben dürfen, erzählt er MDR Investigativ. Stattdessen habe es Gewalt und Vernachlässigung gegeben.

Frei nach dem Motto: Halb betrunken ist weggeschmissenes Geld.

Patrick über den Alkoholkonsum seiner Eltern

Seine Eltern hätten sehr regelmäßig Alkohol getrunken. "Das auch exzessiv. Frei nach dem Motto: Halb betrunken ist weggeschmissenes Geld", sagt Patrick. Immer wieder sei auch die Polizei gekommen. Doch das Jugendamt sei nie dagewesen. "Ich habe drei Geschwister. Aber die ganze Familiensituation ist halt auch sehr durcheinander. Meine Mutter hat vier Kinder bekommen, von vier unterschiedlichen Vätern." Seine Geschwister seien nicht bei der Mutter aufgewachsen.

Seinen Vater hatte Patrick erst kennengelernt, als dieser nach einer langen Haft aus dem Gefängnis kam. Der Vater war suchtkrank und dem Sohn ein schlechtes Vorbild, sagt Patrick. "Die Drogen wurden natürlich irgendwann interessant, um als Teenager in der Pubertät der Realität zu entfliehen. Und da gab es halt wirklich nichts, was es irgendwie nicht gab, was man nicht konsumieren wollte."

Raus aus der Platte: Weg von Sucht und Armut

Patrick ist in Wolfen-Nord aufgewachsen. Einer Plattenbausiedlung, in der 1990 knapp 40.000 Menschen lebten. Jetzt sind es nur noch etwas mehr als 6.000. Auch Patrick hat den Stadtteil verlassen, während er eine Lehre zum Koch absolvierte. So hat er den Ausstieg aus der Sucht und der Armut gefunden.

Patrick ist damit ein Ausnahmefall. In Deutschland ist der schnelle Ausstieg aus der Armut selten. "Soziale Mobilität" nennt sich das Verlassen des sozialen Milieus. Laut einer Studie der OECD aus dem Jahr 2018 dauert es in Deutschland im Durchschnitt sechs Generationen - also 150 Jahre - um dauerhaft in höhere Milieus aufsteigen. Zum Vergleich: In Dänemark sind es nur zwei Generationen.

Nach seiner Ausbildung zum Koch hatte Patrick zunächst in Kassel gearbeitet. Dann war er drei Jahre bei der Bundeswehr. Anschließend schulte er zum Berufskraftfahrer um. Als er Vater wurde, beschloss er, den Fernfahrerjob an den Nagel zu hängen. Patrick wurde Fahrschullehrer.

Drei Berufsabschlüsse und das ohne Förderung durch das Elternhaus. Dazu der Ausstieg aus der Drogenkarriere ohne Therapie. Wie ist ihm das gelungen? "Als ich meine Ausbildung damals begonnen habe, als Koch, war ich eine Zeit lang weg von den Drogen", sagt Patrick. Hinzu kam seine erste Beziehung und er war stark verliebt. Zu diesem Zeitpunkt legte er für sich fest: "Entweder kriegst du die Kurve oder du hast halt Pech gehabt."

Entweder kriegst du die Kurve oder du hast halt Pech gehabt.

Patrick

Patrick hat offenbar ein hohes Maß an Disziplin und kann auch Krisen meistern. Hinzu kommt: Er hatte ein Netzwerk von Menschen, die ihm halfen und an ihn glaubten: seine Oma, seine Grundschullehrerin und sein älterer Halbbruder. Heute ist ihm seine eigene kleine Familie - seine Frau und seine zwei Kinder - der wichtigste Halt.

Nur wenige kommen durch Selbstständigkeit aus Grundsicherung

Auch Claudia Mihaly-Anastasio, die in Freital inzwischen seit 13 Jahren ihr Friseur-Geschäft betreibt, kann offenbar mit Krisen gut umgehen und hat ein hohes Durchhaltevermögen. Ihr Start in die Selbstständigkeit gelang auch dank guter Betreuung durch das Jobcenter.

"Ich hatte auf dem Hartz-IV-Amt auch wirklich einen ganz, ganz fähigen Mitarbeiter", sagt die alleinerziehende Mutter. Der habe ihr viel geholfen. "Der hat mich beraten. Der hat gesagt: 'Das musste machen, das musste machen, das musste machen.'" Hinzu kam die finanzielle Unterstützung durch das Jobcenter im ersten halben Jahr der Selbstständigkeit.

Gerade die Selbstständigkeit ist als Ausstieg aus Hartz IV - dem heutigen Bürgergeld - extrem selten. Von allen Menschen, die im vergangenen Jahr die Grundsicherung verlassen konnten, fanden knapp 20 Prozent eine Arbeit. Nur 0,57 Prozent konnten sich selbstständig machen. Über ein Viertel wechselte in eine Ausbildung oder schulte um. Über 40 Prozent fielen aus der Grundsicherung heraus, weil sie in Rente gingen, aus gesundheitlichen Gründen oder wegen fehlender Mitwirkung bei Maßnahmen.

Claudia hat also etwas geschafft, was nur wenigen gelingt. Sie engagiert sich inzwischen auch politisch. Im Rathaus von Freital ist sie als Stadträtin in der Fraktion "Konservative Mitte" - einem Zusammenschluss von ehemaligen CDU-Mitgliedern und Freien Wählern - tätig. Nach schweren Jahren scheint sie angekommen zu sein in Freital: als Unternehmerin und als Chefin der Barber Angels.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 11. Oktober 2023 | 20:15 Uhr

19 Kommentare

Thommi Tulpe am 14.10.2023

Wenn die Rente keine Lebensstandard-Sicherung mehr ist/ sein soll: Über dieses Bezahlkarten-Modell wird man dann sicher im nächsten Schritt bei der Rente nachdenken!? Man hat ja ein langes Arbeitsleben Zeit, finanziell vorzusorgen. Pech dann für jenen, der das nicht konnte oder wollte.
Für mich wäre das dann auch ein Beitrag zur Beendigung der "Hilfsbesoffenheit".

astrodon am 14.10.2023

@Eddi58: Das "Schicksal" ist aber nicht unabwendbar oder zwangsläufig. Und es besteht ein riesiger Unterschied zwische all jenen, die für Mindestlohn (und vor nicht allzu langer Zeit auch für viel weniger) jeden Tag "auf Kleeche gerammelt" sind. Die haben meine Hochachtung und meinen Respekt. Wer aber nur rumjammert "ich finde ja nichts" hat beides nicht verdient.

astrodon am 14.10.2023

@GM: Nein, dem kann ich nur widersprechen. Die Voraussetzungen sind nicht schlechter geworden, im Gegenteil: Bafög erhöht, Sonderzahlungen für Energie, Gerinfügigkeitsgrenze beim Zuverdienst erhöht. Dazu diverse NC's gesenkt oder aufgehoben. Ausbildungsplätze en masse. Es ist also nicht so schwer, aus H4 rauszukommen, auch wenn es nicht unbedingt zum Porsche reicht.

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