Günter Wetzel berichtet im Pößnecker "Rosengarten" von der Vorbereitung und Durchführung der Flucht mit dem Ballon, die Plätze im Saal sind gut besetzt.
Günter Wetzel berichtet im Pößnecker "Rosengarten" von der Vorbereitung und Durchführung der Flucht mit dem Ballon. Bildrechte: MDR/Andreas Dreißel

Mauergedenken Ballonflüchtling spricht zum ersten Mal in seinem Heimatort

09. November 2024, 19:13 Uhr

Seit vielen Jahren berichtet Ballonflüchtling Günter Wetzel über seine Flucht 1979 aus der DDR. Bisher allerdings nie in Pößneck. Das könnte auch am schwierigen Verhältnis der Pößnecker zu Wetzel liegen.

Der "Rosengarten" ist am Vorabend des Mauerfall-Geburtstages gut gefüllt. Rund 160 Gäste warten auf Günter Wetzel, der im September 1979 mit einem Ballon aus der DDR geflohen war. Wetzel tritt mit seinen Erinnerungen zum ersten Mal in Pößneck auf. Er will mit den Besuchern ins Gespräch kommen.

Mit 19 Umzug nach Pößneck

Geboren ist er eigentlich in Grobengereuth, erzählt Wetzel. Mit 19 Jahren sei er nach Pößneck gezogen. Dort lernte er auch Peter Strelzyk kennen, den er zunächst als zielstrebiges SED-Mitglied einschätzte, wie Wetzel in seinem Vortrag sagt. Dass beide eigentlich das Ziel verfolgen, die DDR zu verlassen, weiß er da noch nicht.

Reise in die DDR-Geschichte

Günter Wetzel nimmt seine Zuhörer mit auf eine Reise in die DDR-Geschichte. Spricht über Erziehung, Berufsausbildung und das verweigerte Studium, das er nach der Abendschule und dem Abitur aufnehmen wollte. Auf einer Leinwand zeigt er Dokumente der Stasi-Unterlagenbehörde. Sie zeigen Beispiele der Willkür.

Anfangs hat Wetzel noch nicht selbst unter dem Druck der Mielke-Behörde zu leiden. Bekannte aber schon, und das sorgt auch bei Wetzel für ein Umdenken. 1978, erzählt er, hätten er und Strelzyk den Entschluss gefasst, mit einem Ballon aus der DDR zu fliehen. Die Idee kam Wetzel beim Lesen einer Zeitschrift über Ballonfahrer.

Blauäugig seien sie damals gewesen, gerade mal 24 Jahre alt, sagt Wetzel. Ohne Vorkenntnisse begannen sie mit dem Bau. Dafür besorgten sie sich hunderte Quadratmeter Futterstoff für Lederwaren. Strelzyk organisierte, Wetzel nähte. Außerdem bauten sie einen Stahlrahmen mit Geländer für die beiden Familien und die nötigen Gasflaschen. Monate später dann der erste Test. Doch der Ballon stieg nicht auf, weil das verwendete Material zu durchlässig war. Strelyk verbrannte den Ballon.

Zweiter Ballon zu klein

Die Spannung steigt bei den Gästen, als Wetzel erzählt, wie die beiden Freunde Taftstoff für einen zweiten Ballon kauften. 900 Quadratmeter, die sie zum Teil mit Scheck bezahlten. Hinterher bekamen die beiden Angst, dass die Stasi ihnen auf die Schliche kommen könnte. Doch alles blieb ruhig. Und schließlich konnten sie den zweiten Ballon fertigstellen und erste Tests durchführen. Allerdings zeigte sich, dass der Ballon zu klein war und die Kraft aus den Gasflaschen nicht ausreichte. Wetzel gab nach eigenen Worten auf. Er wollte es auf anderem Wege versuchen.

Eine Villa in Pößneck
Das MfS - auf dem Foto die frühere Kreisdienststelle in Pößneck - kam den beiden Familien erst spät auf die Spur. Dann wurde es allerdings knapp für die Ballonflüchtlinge. Bildrechte: MDR/Andreas Dreißel

Ein Flugzeug sollte es werden, doch die Planungen gingen laut Wetzel nur langsam voran. Auch weil in der DDR viele Materialien nicht verfügbar waren. Überrascht wurde Wetzel von einer Nachricht im Sommer 1979. Im Sperrgebiet war ein Ballon gefunden worden, und Wetzel ging davon aus, dass die Strelzyks einen Fluchtversuch unternommen haben mussten. Peter Strelzyk bestätigte das. Damit war allerdings klar, dass nun auch das MfS anfangen würde zu suchen. Die Zeit wurde knapp, und die beiden Familien beschlossen, es noch einmal gemeinsam zu versuchen.

Eine Straße in Pößneck
Am 16. September 1979 flüchteten die beiden Familien Wetzel und Strelzyk aus Pößneck mit einem Ballon in die BRD. Bildrechte: MDR/Andreas Dreißel

Es sind vor allem Ältere, die an diesem Abend im "Rosengarten" den Ausführungen von Günter Wetzel lauschen. Seit Jahren ist er mit seinen Erinnerungen unterwegs. In Ost und West. Vor allem die Jüngeren liegen ihm am Herzen. Deutsch-deutsche Geschichte spiele im Unterricht nur eine Nebenrolle, sagt er. Wie es wirklich war in der DDR, sei bald vergessen.

Wetzel hätte seinen Vortrag gern schon früher in Pößneck gehalten. Das Interesse sei aber nicht vorhanden gewesen. Auch nicht bei der Stadt. Er freut sich, dass die "Öpitzer Heimatfreunde" ihn eingeladen haben. Mit dem Vorsitzenden Bernd Wagner ist er seit langem befreundet. In den 1970er Jahren hat Wetzel im "Rosengarten" sogar eine Zeitlang Judo trainiert.

Kritik an der Flucht aus der DDR

Allerdings schlägt dem Ballonflüchtling in Pößneck auch viel Kritik entgegen. Das Risiko, dass die vier Erwachsenen und vier Kinder abstürzen, sei viel zu hoch gewesen, hört man hinter vorgehaltener Hand. Andere beklagen, dass Wetzel und Strelzyk mit ihrem Plan Bekannte und Verwandte in Pößneck gefährdet hätten. Im "Rosengarten" sind solche Töne heute nicht zu hören. Die Anwesenden hören aufmerksam zu, als Wetzel über den Bau des dritten Ballons berichtet. Der wird größer als die beiden Vorgänger. Damit soll endlich die Flucht klappen.

Der Ballon, den die Flüchtlinge der Stadt Naila (Kreis Kronach) vermacht haben.
Günter Wetzel nähte den Ballon für die Flucht aus der DDR selbst. Bildrechte: picture-alliance / dpa | Karl Staedele

Allerdings kommt auch die Stasi den beiden immer näher. Wetzel schmunzelt, wenn er an die Szenen aus dem Film "Ballon" denkt. "Ganz so knapp ist es nicht gewesen", erzählt er. "Ich denke, noch eine Woche länger, dann hätten sie uns gehabt." Außerdem hat Wetzel inzwischen seine Einberufung zur Volksarmee in der Tasche. Auch deshalb drängt die Zeit.

Wir hatten so viel Adrenalin im Blut, dass wir überhaupt keine Angst hatten.

Günther Wetzel

Deshalb sind die beiden Familien auch froh, als am 16. September 1979 endlich gutes Flugwetter kommt. Von einer Wiese in der Nähe von Heinersdorf wollen sie starten. "Wir hatten so viel Adrenalin im Blut, dass wir überhaupt keine Angst hatten", erzählt Wetzel. "Das kann man sich gar nicht mehr vorstellen." Mit dem Wissen von heute, sagt er, würde er so eine Aktion nicht mehr starten. Damals aber kletterten die acht Personen in die Gondel und starteten schließlich gen Süden. Nach einer knappen halben Stunde war allerdings das Gas ausgegangen und der Ballon schwebte zu Boden - auf westdeutschen Boden. Bei der Landung in der Nähe des bayerischen Ortes Naila verletzte sich Wetzel und verbrachte die ersten Tage im Krankenhaus, doch die Flucht war geglückt.

Nächster Vortrag in Pößneck bereits ausgebucht

Fünf Tage nach dem Mauerfall sei er zum ersten Mal wieder in der DDR gewesen, erzählt Günter Wetzel. Nach zehn Jahren im Westen sei ihm hier alles fremd vorgekommen. Im "Rosengarten" beantwortet er geduldig die Fragen der Besucher. Wetzel freut sich über das große Interesse. Spätestens im Frühjahr wird er wieder nach Pößneck kommen. Die nächste Veranstaltung mit ihm im "Rosengarten" ist schon ausgebucht. Und es gibt eine Warteliste. Die Ballonflucht von 1979 ist bei den Pößneckern immer noch sehr präsent.

MDR (caf)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 09. November 2024 | 19:00 Uhr

22 Kommentare

Anita L. vor 3 Wochen

Ich bin übrigens selbst ehemalige Bürgerin dieses Unrechtsstaates. Und klar, auch mir ist der Umstand, dass ich in einem solchen Staat gelebt und es „mir gut gegangen“ ist, erst nach seinem Ende klar geworden.

Anita L. vor 3 Wochen

Bei allem Respekt, aber das sehe ich anders. Die Unterdrückung der Bürger manifestierte sich bei jenen, die unmittelbar konfrontiert wurden; was aber nicht heißt, dass alle anderen frei im Sinne einer völkerrechtlichen Definition waren. Ein Recht muss immer gelten, nicht nur dann, wenn jemand es in Anspruch nimmt. Allein die Tatsache, dass die Bürger ohne Sondergenehmigung nicht hätten ausreisen dürfen (egal, ob Sie/sie den Versuch gestartet haben oder nicht), ist ein Zeichen der Unterdrückung aller Bürger. Es ist egal, ob Sie den Staat kritisiert haben oder nicht, dass Menschen mit Gefängnis, Hausarrest, Ausbürgerung für ihre Kritik bestraft wurden, stellt eine grundsätzliche Ungerechtigkeit dar. Allein die Tatsache, dass jeder anlasslos bespitzelt werden konnte (egal ob Sie es durch Zufall nicht wurden), stellt eine Ungerechtigkeit gegen die Bürger dar.
So leid es mir tut, aber dass Sie unbehelligt in einem Unrechtsstaat gelebt haben, bedeutet nicht, dass er kein Unrechtsstaat war.

THOMAS H vor 3 Wochen

@AnitaL., ich bestreite doch gar nicht, daß es in der DDR Ungerechtigkeiten gegeben hat.

Was ich Ihnen anlaste, sind Ihre falschen Behauptungen, daß die Ungerechtigkeiten

ALLE

DDR-Bürger betroffen haben.

Das stimmt einfach NICHT!

Ich war nicht privilegiert, sondern ein ganz normaler DDR-Bürger, der sich auch damals schon gegen Ungerechtigkeiten gewährt hat, aber ich war in den 24 Jahren meines DDR-Lebens

nicht eingesperrt,

wurde nicht indoktriniert

und wurde auch nicht bespitzelt,

wobei ich damit, sicher nicht der einzige normale DDR-Bürger war.

Es gab und gibt, wie in jedem anderen Staat auf dieser Erde UNGERECHTIGKEITEN,

aber diese UNGERCHTIGKEITEN

betreffen dennoch nicht alle Menschen gleichmäßig!

Wenn Sie dies (Alle betroffen) über die DDR behaupten, ist es eine falsche Behauptung!

Sie sollten, m. M. n., einmal über eine Differenzierung, auch über das Leben von DDR-Bürgern, nachdenken!

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