Kinder auf der Straße 3 min
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Slowakei Mitten in Europa: Roma-Slums in der Slowakei

02. November 2023, 19:45 Uhr

Ein Kind, das in einen Roma-Slum in der Slowakei hineingeboren wird, hat einen schweren Start. Etwa 200.000 Roma leben in solchen Elendsvierteln – oft ohne grundlegende Errungenschaften der Zivilisation wie fließend Wasser oder Kanalisation. Der Teufelskreis aus Bildungsmangel, Arbeitslosigkeit, Armut und Isolation von der Mehrheitsgesellschaft lässt sich nur schwer durchbrechen. Doch ein Dorf zeigt, wie es geht.

Behutsam küsst Jana die Fingerchen ihres kleinen Sajmon. Dann schaut die Mittdreißigerin lächelnd auf den friedlich schlafenden Säugling unter der rosafarbenen Babymütze. Der Neugeborene könnte ihr Sohn sein – doch es ist ihr Enkel. Sajmons Mutter Nicola sitzt daneben auf dem Krankenhausbett. Sie streicht sich beim Sprechen verlegen durchs Gesicht, dem die erwachsenen Konturen noch fehlen. Nicola ist 15 Jahre alt, selbst noch ein Kind, und liegt auf einer Entbindungsstation. Sie ist sichtlich überfordert von all dem, was über sie hereinbricht. "Ich hatte Angst, als ich festgestellt habe, dass ich schwanger bin, da ich nicht weiß, wie man sich um ein Baby kümmert", sagt sie und versucht sich vorzustellen, was für ein Leben einmal auf den kleinen Sajmon wartet. "Ich will, dass er später in die Schule geht und arbeitet."

Das Leben im Roma-Slum

Nicolas Wunsch für ihren Sohn klingt bescheiden. Doch er ist es nicht. Sobald sie das Krankenhaus verlassen haben, wird schon der Alltag zur Herausforderung. Ein Bad für Sajmon? Fließendes Wasser gibt es in ihrem Zuhause nicht. Nicola und Jana leben im Roma-Slum von Jarovnice in der Ostslowakei.

Die 15-jährige Nikola mit ihrem neugeborenen Sohn Sajmon.
Mit 15 bereits Mutter: Nicola und ihr neugeborener Sohn Sajmon Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Das Dorf Jarovnice ist zweigeteilt: 500 Einwohner leben in normalen Verhältnissen. Knapp 7.000 Menschen hausen im Slum am Ortsrand – ein Drittel mehr als noch vor zehn Jahren. "Wir brauchen viel mehr Platz hier. Wir sind zusammengepfercht", schimpft ein junger Rom auf dem staubigen Weg. Viele der Hütten um ihn herum sind notdürftig aus Wellblech und Holzbrettern zusammengeschustert. Überall laufen Kinder umher, die sich nun neugierig um den Mann scharen. Dabei stünde vormittags eigentlich Schule an. "Von Jahr zu Jahr wird es schlimmer. Und Arbeit, Arbeit gibt es überhaupt keine", fügt der Mann hinzu.

Der Roma-Slum von Jarovnice.
Von der Mehrheitsgesellschaft isoliert: der Roma-Slum in Jarovnice in der Ostslowakei Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Jarovnice ist einer von etwa 800 Slums in der Slowakei, die es laut dem "Atlas der Roma-Gemeinschaften" von 2019 gibt. Sie sind ein Zuhause für schätzungsweise 200.000 Roma, also ungefähr die Hälfte aller in der Slowakei lebenden Roma. Die meisten von ihnen kommen mit ihren Nachbarn außerhalb kaum in Kontakt. Die Sozialarbeiterin Slávka, selbst Romni, kennt die Lebensrealität vieler Slum-Bewohner: "Sie haben keine Erwartungen ans Leben. Sie wollen nichts Neues sehen oder anfangen. Hier im Ort gibt es eine Grundschule. Sie verlassen die Siedlung kaum. Sie bekommen keine andere Perspektive. Sie kommen aus ihrem Kreis nicht heraus. Von zu Hause in die Schule und zurück. Immer dasselbe." Werden sie ausgegrenzt oder grenzen sie sich auch selbst aus?

Die Mauer in den Köpfen

Die Aneinanderreihung der Baracken endet auf einer Seite der Siedlung an einem kleinen Bach. Das Wasser sucht sich seinen Weg durch Haufen von Plastikmüll und Abfällen. Mittendrin verrottet ein Autowrack. Manchmal sind es Barrieren wie dieser Fluss, die die Mehrheitsgesellschaft und die Roma trennen. Oft sind die Barrieren aber unsichtbar, bestehen aus Vorurteilen oder schlechten Erfahrungen – es sind Mauern in den Köpfen.

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Die Sozialarbeiterin Slávka erinnert sich an ihre eigene Kindheit: "Als ich zur Mittelschule ging, haben die "weißen" Mitschülerinnen mit mir nicht geredet. Ich konnte so gut angezogen sein, wie ich wollte. Sie haben in mir nur die Roma, nur das Schlechte gesehen. Mein Name und meine Hautfarbe waren wichtiger als meine guten Noten. Ich war für sie nur die Roma. Oder noch schlimmer: 'Die stinkende Zigeunerin'."

Der Roma-Slum von Jarovnice
Mehr Elendshütten als Häuser: die Unterkünfte im Roma-Slum von Jarovnice in der Slowakei Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Der kleine Sajmon ist erst seit wenigen Tagen in Jarovnice. Noch weiß er nicht, in welche Welt er hineingeboren wurde. Sein Zuhause: eine notdürftige Unterkunft im Slum, mehr Hütte als Haus. Aus der Hauswand ragen verschieden große Steine, der Putz fehlt. Ein Dach aus Wellblech schützt vor Regen. Mutter Nicola hält ihren Sajmon auf dem Arm. Das Bett, auf dem sie sitzt, steht direkt neben der Küche. Der Raum ist klein, die Decke hängt sehr tief. Die Luft ist stickig und voller Ausdünstungen. Nicola beschwert sich nicht, sie kennt kein anderes Leben. Sie wiegt Sajmon hin und her, gibt ihm einen Kuss auf die Stirn. Vom Vater bekommt Sajmon keinen Kuss. Der habe sich gleich aus dem Staub gemacht, als er von der Schwangerschaft erfahren habe, erzählt Nicola und zuckt mit den Achseln. Nicola und ihre Mutter Jana werden Sajmon alleine großziehen.

Roma-Schule ohne "weiße" Kinder

Dass Sajmon so wie die Sozialarbeiterin Slávka einmal die Mittelschule besuchen wird, ist unwahrscheinlich. Fest steht: In der Grundschule von Jarovnice wird er keine Kinder aus der Mehrheitsgesellschaft kennenlernen. Deren Eltern fahren sie lieber in umliegende Schulen. Diese Segregation zwischen Roma-Kindern und der Mehrheitsgesellschaft ist kein slowakisches Phänomen. Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte befragte 2021 Roma in mehreren EU-Ländern. Mehr als die Hälfte gab an, dass keine Kinder aus der Mehrheitsgesellschaft ihre Schulen besuchten.

Grundschule in Jarownice in der Slowakei.
Ohne "weiße" Kinder: die Grundschule von Jarovnice Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Gleich neun erste Klassen gibt es in der Grundschule von Jarovnice – deutlich mehr, als für einen Jahrgang nötig wären. Doch viele Kinder hier sind fast gar nicht auf die Schule vorbereitet, haben solche Lerndefizite, dass sie bereits die erste Klasse wiederholen müssen. "Ich habe das Gefühl, dass sich die Dinge sogar eher zum Schlechteren entwickelt haben", sagt Lehrerin Adriana Belejkaničová. "Ich bin schon seit 20 Jahren hier. Wenn ich die Klassen vor zehn Jahren und jetzt vergleiche, dann habe ich das Gefühl, dass die Kinder damals lebendiger waren. Dass sie mehr gewollt haben." Ihre Kollegin Katarína Kandráčová ist von vielen Eltern enttäuscht: "Sie kümmern sich ganz einfach nicht um ihre Kinder. Und das, was wir hier in der Schule machen können, das ist einfach zu wenig. Die Kinder bräuchten viel mehr Zeit und Aufmerksamkeit, damit sie Fortschritte machen können."

Hälfte der Roma in der Slowakei arbeitslos

An einer Straßenecke sitzt ein junger Mann auf einem großen Lautsprecher, aus dem Gangsta-Rap dröhnt. Nicht weit entfernt plaudert eine Gruppe Frauen. Die Straßen von Jarovnice sind tagsüber so belebt, weil nur wenige Menschen hier einen Job haben. Laut dem slowakischen Innenministerium sind 48 Prozent der Roma im Land arbeitslos. Bildungsmangel, Arbeitslosigkeit, Armut, Ausgrenzung durch die Mehrheitsgesellschaft – das ist der Kreislauf, der sich in Roma-Slums in der Slowakei von Generation zu Generation weitervererbt.

Kinder vor Wohnblock.
Von Geburt an auf verlorenem Posten: Kinder in einem Romaviertel in der Slowakei Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Das Dorf Čirč liegt nur eine knappe Autostunde entfernt von Jarovnice. Und doch läuft hier alles ganz anders. Bürgermeister Michal Didík förderte die Gründung einer Baufirma, die viele Roma aus Čirč anstellt. Die Firma trägt dazu bei, dass im Dorf viele neue Häuser entstehen. Dank des Gehalts aus der Baufirma können sich zahlreiche Roma Wohnungen in den neu entstandenen Häusern leisten. Badezimmer und fließendes Wasser – für viele ein Novum. Die Bewohner und Bewohnerinnen der neuen Häuser wohnen bei einer Monatsmiete von etwa 100 Euro erst einmal zur Probe. Wer sich nicht ums Haus kümmert, muss wieder ausziehen.

Ähnliche Projekte gab es auch in anderen Dörfern der Slowakei. Doch nach einigen Jahren waren einige der neuen Siedlungen wieder verwüstet. Was läuft besser in Čirč? "Man muss die Roma-Bevölkerung in alle Aktivitäten einbinden. Also auch zum Beispiel in Sport-Aktivitäten, Kultur-Aktivitäten, Kirche und auch Schule. Es muss alles gemeinsam funktionieren", sagt Didík.

Gemischte Ehen bleiben Ausnahme

Daher gehen alle Kinder in Čirč gemeinsam zur Schule – in ein paar Jahren auch Liana. Sie ist gerade einmal sechs Monate alt, trägt ein gelbes Kleidchen und viele bunte Spangen im dunkelblonden Haar. Vater Rastislav ist Rom, Mutter Viktorie nicht – ein seltenes Bild in der Slowakei. Wie alle Eltern wünschen auch sie sich, dass es das Kind einmal besser haben soll als sie. Und es sieht aus, als könnte dieser Wunsch in Erfüllung gehen. Bürgermeister Didík hat auch der jungen Familie eine Gemeindewohnung in Čirč vermittelt, nun müssen sie nicht mehr zur Untermiete bei den Schwiegereltern wohnen.

"Am Anfang hatten wir Probleme mit der Familie. Viktories Eltern wollten nicht, dass sie einen Rom heiratet. Aber jetzt ist alles okay", erzählt Rastislav und lächelt. Im Umfeld der beiden ist die Beziehung kein Thema mehr. "Ja, vielleicht sehen das fremde Leute noch anders, aber mit denen rede ich nicht. Es kümmert mich nicht", sagt Viktorie.

MDR-Kamerateam beim Fußballspiel in Čirč
Bleibt eine Ausnahme: der Rom Rastislav spielt in einer gemischten Fußballmannschaft. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

In Čirč ist Rastislav ohnehin nicht der Rom. Vielmehr ist er der Spielmacher beim lokalen Fußballverein. Das ist sein Attribut. Beim letzten Auswärtsspiel der Saison ist Rastislav einer von fünf Roma im Team. In der Mannschaft des Nachbardorfs spielt dagegen kein einziger. Sie sind lediglich Zuschauer. Fast mit der Schlussminute trifft Rastislav doch noch zum 1:1-Endstand. Als das Team später in der Kabine lauthals singt, ist Rastislav mittendrin.

Zwei Roma-Dörfer – zwei Welten

In Jarovnice hat Nicola Milch für Sajmon angerührt – mit Wasser vom Nachbarn. Der Kleine ist in eine hellblaue Kuscheldecke gewickelt und nuckelt mit geschlossenen Augen am Fläschchen. Währenddessen lugen immer mehr Nachbarn durch den Vorhang am Eingang der Hütte. Als Sajmon gefüttert ist, gesellt sich Nicola zu ihnen und macht eine Zigarettenpause. Zwischen Čirč und Jarovnice liegen nur 26 Kilometer Luftlinie – und doch trennen sie Welten.

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Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Aktuell | 02. November 2023 | 17:45 Uhr

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