Tschechien Energiekrise: Böhmische Glashütten in Gefahr

14. Oktober 2022, 13:39 Uhr

Böhmische Kristallgläser, -karaffen und -schalen, Kronleuchter oder gläserner Weihnachtsschmuck: Glas aus Tschechien haben auch hierzulande viele Menschen im Regal stehen. Doch seine Herstellung ist sehr energieintensiv. Nun drohen die hohen Gaspreise Jahrhunderte alte Glashütten in die Pleite zu treiben.

Die Prager Journalistin Helena Truchlá
Bildrechte: Helena Truchlá | MDR

Glasbläser Michal Zahradnik in seiner Werkstatt, 2020
Die Herstellung von Glas ist in Tschechien ein Traditionshandwerk, das über Generationen weitergegeben wird. Bildrechte: IMAGO / ZUMA Wire

Die Bitterkeit ist deutlich spürbar: "Ich habe nicht mehr das Bedürfnis oder die Lust, mich ausführlich zu diesem Thema zu äußern. Tatsache ist, dass wir ab dem neuen Jahr schließen, weil unser Gasvertrag ausläuft. Die neuen Preise sind für uns unrentabel", sagt Roman Míček von der Glashütte Tomi in Würbenthal (Vrbno pod Pradědem) im Altvatergebirge.

Glas
Ein beliebtes Souvenir: Böhmisches Kristall Bildrechte: MDR/Volker Queck

Míček und sein Kollege haben in den letzten 20 Jahren Repliken historischer Gläser hergestellt. Dafür mussten sie den Ofen, in dem das Glas geschmolzen wird, auf 1.200 Grad erhitzen, was viel Energie, insbesondere Gas, verbraucht. Ihre monatlichen Energiekosten in Höhe von rund 1.340 Euro sollten sich ab dem neuen Jahr verfünffachen. Das Unternehmen kann sich das nicht leisten und macht dicht. Was Míček als nächstes tun wird, weiß er noch nicht. Das Haus, in dem sich die Werkstatt befindet, steht zum Verkauf.

Handgeschliffenes, graviertes, geblasenes und bemaltes Glas aller Art gehört zu den bekanntesten tschechischen Exportartikeln. Die historischen Repliken aus Würbenthal, vor allem aber Kristallgläser, Kronleuchter oder Weihnachtskugeln sind als Souvenirs äußerst beliebt. Die ehemalige Tschechoslowakei exportierte sie nach West- und Ostdeutschland, in den letzten Jahrzehnten haben vor allem chinesische Besucher in Prag große Mengen gekauft.

"Die Situation ist katastrophal"

Die Glashütte Tomi ist im Vergleich zur jahrhundertealten Geschichte der tschechischen Glasherstellung ziemlich neu. Aber auch der ältesten Glashütte Europas, Novosad & Sohn in Harrachov im Riesengebirge, droht die Schließung. Das hier hergestellte, handgeschnittene und -bemalte Glas wurde im 18. und 19. Jahrhundert in ganz Europa berühmt. Im Jahr 1840 besuchte sogar der sächsische König Friedrich August II. die Glashütte in Harrachov. Heute produzieren die Glasmeister Luxusgläser und dekoratives Glas, darunter auch Kristalllüster. Das meiste davon wird exportiert.

Herstellung von Kristallkugeln in Karlovy Vary
Energieintensiv: Auf bis zu 1.200 Grad werden die Glasöfen erhitzt. Bildrechte: IMAGO / CTK Photo

"Die derzeitige Situation ist katastrophal," sagte der Eigentümer Petr Novosad dem MDR. Auch seine monatlichen Energierechnungen sind um das Fünffache gestiegen. Während er im letzten Jahr 180.000 Euro für das ganze Jahr bezahlte, haben die Kosten in diesem Jahr bereits 800.000 Euro überschritten. Bis vor wenigen Tagen plante Novosad, Glasöfen stillzulegen, hundert Mitarbeiter zu entlassen und zu warten, bis das Gas wieder billiger wird. Aber die glühenden Öfen zu löschen und wieder in Gang zu bringen, braucht Zeit und kostet auch viel Geld. Da das Gas in den letzten Tagen etwas billiger geworden ist, werden die Öfen in Harrachov nach 310 Jahren Dauerbetrieb vorerst weiter glühen.

Eine – wenn auch temporäre – Schließung der Glashütte hätte in einer wirtschaftlich benachteiligten Region wie dieser vor allem die Arbeitnehmer getroffen. Denn selbst in normalen Zeiten sind die Löhne in der Glashütte nicht hoch, betont die Sprecherin des Rathauses in Harrachov. 

Kampf um jede Flasche

In der Glashütte Sklárny Moravia in Úsobrno in Mähren ist der kleinere der beiden Glasöfen dagegen bereits kalt. Das Unternehmen wurde 1827 gegründet und stellt heute hauptsächlich Getränkeflaschen und Laborglas her, auch für einige berühmte tschechische Destillerien. "Wir kämpfen um jeden Tag und um jede Flasche", sagte Radim Bondy, der Verkaufsleiter des Unternehmens, bereits im September der Lokalzeitung Blanenský deník. Wegen der hohen Energiepreise musste Bondy seinerseits die Preise erhöhen, daraufhin wollten die Kunden die Ware nicht mehr kaufen. So musste er bereits einigen seiner insgesamt 200 Beschäftigten kündigen.

Herstellung von Kristallkugeln in Karlovy Vary
Prestigeträchtig: Die Glasproduktion in der Glashütte Moser in Karlsbad. Bildrechte: IMAGO / CTK Photo

Novosad in Harrachov dagegen kann sich über einen Mangel an Kunden nicht beklagen. "Wir haben noch viel Arbeit vor uns", erklärt der Unternehmer, der die Produktion vor Weihnachten unbedingt am Laufen halten will - buchstäblich um jeden Preis. Novosad bestätigt damit einen paradoxen Trend, der auch in anderen tschechischen Glashütten zu beobachten ist: Das tschechische Glas floriert, sowohl im Inland als auch im Ausland.

Die Nachfrage nach Designerware steigt

Es ist nicht die erste Krise der tschechischen Glasbranche: Schwere Zeiten gab es direkt nach dem Fall des Eisernen Vorhanges und zuletzt vor wenigen Jahren. Da haben vor allem Luxusdesignerwaren das tschechische Glas gerettet: So ging die Glashütte Rückl im Jahr 2018 fast pleite. Jetzt werden die VIP-Delegationen der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft mit Karaffen und Gläsern des Designers Rony Plesl beschenkt, die von Rückl hergestellt werden. Die Produkte des Lasvit-Werks in Nový Bor sind bei anspruchsvollen Kunden im Nahen Osten beliebt, sie dienen auch als Trophäen für prestigeträchtige Wettbewerbe wie die Tour de France. Und die Glashütte Moser in Karlsbad hat vor einigen Jahren ein Staatsgeschenk für den damaligen Papst Benedikt XVI. geschaffen: eine Plastik des Designers Lukas Jaburek, die mit 600 böhmischen Granaten besetzt war.

Papst Benedikt XVI
Hat ein Staatsgeschenk aus böhmischem Glas im Schrank: der emeritierte Papst Benedikt XVI. Bildrechte: IMAGO / APress

Doch selbst die Sprecherin von Moser gibt zu, dass der Betrieb auf Informationen wartet, wie die Unterstützung der tschechischen Regierung für Glashütten und ähnliche Betriebe aussehen soll. Die Politik hatte bereits im September Hilfsmaßnahmen angekündigt, konkrete Schritte wurden aber bisher nicht unternommen. "Die Auszahlung der Fördermittel soll dann frühestens im Januar 2023 erfolgen. Das ist furchtbar spät. Die Regierung ist mindestens ein halbes Jahr im Verzug", fügt Novosad verärgert hinzu.

Würden die tschechischen Glashütten verschwinden, gingen mit ihnen auch typische, seit Generationen überlieferte Produktionstechniken verloren – und mit ihnen Traditionsprodukte wie etwa der einzigartige Glasknoten oder die bunte Verzierung im Stiel des Glases, die die Meister aus Harrachov "Fädchen" nennen. 

Nadine und Falk Wegener gemeinsam an einem See 15 min
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Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR aktuell | 13. Oktober 2022 | 19:30 Uhr

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