Ein Mädchen fährt mit einem Longboard über einen Holzfußboden eines Korridors, im Hintergrund in Richtung eines Fensters, im Hintergrund unscharf die Silhouetten von mehreren Menschen
Flüchtlinge aus Bergkarabach in einer ehemaligen Schule in Armeniens Hauptstadt Jerewan: Seit zwei Jahren leben sie schon in der Notunterkunft. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Armenien Heimatlos: Flüchtlinge aus Bergkarabach in Armenien

11. Januar 2023, 18:37 Uhr

Als in Bergkarabach 2020 Krieg ausbrach, flohen Zehntausende Menschen nach Armenien. Nicht alle konnten nach dem Ende der Kampfhandlungen zurückkehren, weil Aserbaidschan große Gebiete ihrer Heimat unter seine Kontrolle gebracht hat. In Armenien versuchen sie nun, ein neues Leben zu beginnen. Doch für viele scheint auch hier die Zukunft ungewiss.

"Das Einzige, was ich noch sehen will, ist, dass meine Kinder ein eigenes Dach über dem Kopf haben", sagt Amalia Babajan. "Nur dafür will ich noch durchhalten und weiterleben." Die 91-Jährige hat wegen des Bergkarabach-Krieges ihre Heimat verlassen und lebt nun in einem ehemaligen Schulgebäude in der armenischen Hauptstadt Jerewan. Sie teilt sich ein 15 Quadratmeter großes Zimmer mit einer ihrer Töchter und manchmal mit ihrem Enkel, wenn er zu Besuch ist. "Ich schlafe dort", sagt sie und zeigt auf ein Klappbett. Tagsüber steht es bedeckt mit einem Tischtuch zusammengeklappt an der Wand und dient als eine Art Ablage. Das Bett, einen Tisch, Schränke, einen Sessel und ein kleines Sofa haben sie von Bekannten in Jerewan bekommen.

Ein dreistöckiges etwas heruntergekommenes Gebäude vom Hinterhof aus fotografiert. 5 min
Im zweiten Stock des früheren Schulgebäudes wohnen 15 Menschen aus Bergkarabach. Bildrechte: MDR/Niels Bula

Eine alte Frau in einem pinken Overall steht mit einer Tüte in der Hand in einem heruntergekommenen Zimmer. Im Hintergrund unscharf zwei Frauen.
Die 91-jährige Amalia Babajan flüchtete im September 2022 aus Bergkarabach nach Jerewan. Bildrechte: MDR/Niels Bula

Amalia Babajan war im September aus Berdsor geflüchtet - international bekannter unter der aserbaidschanischen Bezeichnung Latschin, die dem Latschin-Korridor seinen Namen gegeben hat. Bis September war er die Verbindung zwischen Bergkarabach und Armenien, nun wurde er gemäß dem 2020 vereinbarten Waffenstillstandsabkommen an Aserbaidschan übergeben. Die letzten verbliebenen Bewohner - darunter Amalia - mussten das Gebiet verlassen. Der armenische Staat erlaubte ihr und 14 anderen Menschen aus der Region, eine ehemalige Schule als einstweilige Unterkunft zu nutzen. Dort können sie kostenlos leben. 

Mit nichts als einem Grabstein nach Jerewan

Heizung und Wasserversorgung funktionieren. Auf dem Korridor gibt es ein Gemeinschaftsbad mit mehren Toilettenkabinen und Duschzellen. Anfangs hätten sich alle eine Toilette teilen müssen, danach habe die Stadtverwaltung noch weitere eingebaut, erzählen die Bewohner. Das Warmwasser reicht nicht immer für alle zum Waschen aus. Für jeden bleiben immer nur ein paar Minuten unter der Dusche. Das Geschirr wird nur kalt gespült.

Auch wenn sie ihre alte Heimat vermissen, sind die geflüchteten Armenier aus Bergkarabach froh, dass sie wenigstens diese Unterkunft kostenlos nutzen können, erzählt Rubina Owakimjan. Die 67-Jährige ist eine der Töchter von Amalia. Vom Staat bekommt sie umgerechnet 140 Euro Rente im Monat. Damit kann sie sich in Jerewan keine Wohnung leisten. Sie lebt allein. Ihr Mann verstarb bereits im Alter von 43 Jahren. "Sein Grabstein und ein bisschen Erde von seinem Grab sind das einzige, was ich aus Berdsor mitbringen konnte", sagt sie. "Für alles andere blieb keine Zeit." 

Noch über 26.000 Geflüchtete in Armenien

Während bei anderen armenischen Familien Kinder und Enkel aushelfen können und die Verwandten mit ihrem Lohn durchbringen, können sich Rubina und ihre Geschwister darauf nicht verlassen. Ihre Söhne sind seit dem Krieg von 2020 gegen Aserbaidschan schwer traumatisiert. "Die Männer sind mit dem Krieg verrückt geworden. Ein Geräusch und sie springen schon auf." Ihr Neffe, erzählt sie, zittert in der Nacht und sieht überall Leichen vor seinem geistigen Auge.

Ein dreistöckiges etwas heruntergekommenes Gebäude vom Hinterhof aus fotografiert.
Im zweiten Stock des früheren Schulgebäudes in Jerewan wohnen 15 Menschen aus Bergkarabach. Bildrechte: MDR/Niels Bula

Der Verlauf des Bergkarabach-Konflikts seit 1991

Der Konflikt um die Region Bergkarabach geht auf das Ende der Sowjetunion zurück. Das überwiegend von Armeniern bewohnte Gebiet wollte sich von der damaligen Sowjetrepublik Aserbaidschan trennen und stattdessen zu Armenien gehören. 1991 erklärte sich Bergkarabach unabhängig. In der Folge begann der Krieg zwischen den mittlerweile eigenständigen Staaten Armenien und Aserbaidschan, der schätzungsweise bis zu 30.000 Tote forderte. Hundertausende Aserbaidschaner und Armenier flüchteten infolge des Krieges. Seit 1994 hatte Armenien die Kontrolle über Bergkarabach. 2020 brach der Krieg wieder aus. Diesmal gelang es Aserbaidschan, weite Teile der Region unter seine Kontrolle zu bringen. Russische Truppen verhinderten, dass Aserbaidschan die gesamte Region eroberte. Im November 2020 wurde zwar ein Waffenstillstand vereinbart, doch der wird regelmäßig gebrochen. Im September 2022 griffen aserbaidschanische Truppen sogar armenisches Territorium an. Etwa 200 Menschen sollen dabei auf beiden Seiten getötet worden sein. Seit Dezember 2022 hat Aserbaidschan Bergkarabach zudem von der Außenwelt abgeriegelt. Über 100.000 Menschen sind momentan von der Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten abgeschnitten.

Bereits 2020 sind während des Krieges viele Menschen aus Bergkarabach und dem Latschin-Korridor nach Armenien geflohen. Laut dem Internationalen Roten Kreuz kamen damals etwa 90.000. Manche gingen nach dem 44-Tage-Krieg wieder zurück in ihre Heimat, andere blieben. Nach Informationen des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) waren Ende 2021 noch über 26.700 Geflüchtete aus der Region in Armenien. 

Ein dreistöckiges etwas heruntergekommenes Gebäude vom Hinterhof aus fotografiert. 5 min
Im zweiten Stock des früheren Schulgebäudes wohnen 15 Menschen aus Bergkarabach. Bildrechte: MDR/Niels Bula

Kein Flüchtlings-Status in Armenien

Eines ihrer größten Probleme sei ihr Status, sagt Tatewik Karapetjan von der Armenischen Vereinigung der Sozialarbeiter. "Weder den Begriff Flüchtlinge noch die Bezeichnung Binnenvertriebene können wir verwenden", sagt sie. Grund dafür ist der besondere Status der Region Bergkarabach. 1991 erklärte sie sich für unabhängig. Von der Internationalen Gemeinschaft wird diese Unabhängigkeit bis heute nicht anerkannt. Völkerrechtlich gehört das Gebiet zu Aserbaidschan. Gleichzeitig haben die Einwohner von Bergkarabach aber armenische Pässe. "Wir können sie also nicht Flüchtlinge nennen, weil sie einen Pass der Republik Armenien haben", sagt Tatewik Karapetjan. "Und sie sind auch keine Binnenvertriebenen, weil sie ja nicht von armenischem Gebiet kommen." Es bliebe lediglich die Bezeichnung "Menschen in einer flüchtlingsähnlichen Situation". Ein Zugang zu internationalen Hilfen für die Menschen werde damit erschwert.

Eine Gruppe Menschen steht dicht gedrängt auf einem Gehweg vor einem roten Gebäude.
Mehrere Hundert Menschen fordern vor dem Regierungsgebäude in Jerewan mehr Unterstützung von der armenischen Regierung. Bildrechte: MDR/Niels Bula

Hilfe und Unterstützung fordern die Geflüchteten immer wieder selbst ein. So etwa an einem Donnerstagmittag im November 2022. Vor dem armenischen Regierungssitz in Jerewan waren mehrere Hundert Menschen zusammengekommen, um für eine stärkere Unterstützung durch den Staat zu demonstrieren. Sie alle kommen aus dem Latschin-Korridor.

Staatshilfen für Geflüchtete reichen nicht

Organisiert hat die Demonstration Karine Mowsesjan. In Berdsor hat sie bis zum Krieg als Russischlehrerin und Schuldirektorin gearbeitet. Daneben hat sie mit ihrem Mann und Verwandten eine Bäckerei betrieben. Das alles musste sie wegen des Krieges hinter sich lassen. Nun wohnt sie mit ihrem Mann in einer Einraumwohnung in Jerewan. Momentan erhalten sie noch beide ihren Lohn, obwohl sie nicht mehr in Berdsor leben. Doch schon bald könnte die Verwaltung in Bergkarabach die Zahlung einstellen. "Dann könnten wir auf der Straße landen, im wahrsten Sinne des Wortes", sagt sie.

Mit den Hilfsprogrammen des armenischen Staates für die Menschen aus ihrer Region ist sie alles andere als zufrieden. Wer einen Kredit aufnimmt, um Häuser oder Wohnungen zu kaufen, bekommt einen Teil des Betrags vom Staat zurück. Für eine Immobilie in Jerewan gibt es umgerechnet über 19.000 Euro, in den anderen armenischen Regionen über 25.000. Doch die allerwenigsten Menschen, die aus Bergkarabach fliehen mussten, haben genügend Eigenkapital, um einen Immobilienkredit aufnehmen und von dieser Förderung profitieren zu können.

Wohnungspreise in Armenien rasant gestiegen

Gleichzeitig sind sowohl die Kaufpreise als auch die Mieten für Immobilien in Armenien in den vergangenen Monaten drastisch gestiegen. Ein Grund sind die vielen Menschen aus Russland, die seit Beginn des Krieges in der Ukraine aus politischen und wirtschaftlichen Gründen nach Armenien kommen. Sie können meist mehr zahlen als Armenier. Das hat Folgen: Nach Angaben der armenischen Statistikbehörde lag im Juli 2021 der durchschnittliche Mietpreis einer Wohnung im Zentrum von Jerewan noch bei 1,50 Euro pro Quadratmeter. Ein Jahr später, im Juli 2022, lag er bereits bei 1,80 Euro. Mittlerweile dürften die Preise aber noch weiter gestiegen sein, weil im September nach der russischen Teilmobilisierung noch einmal mehr Russen nach Armenien kamen. Das bekommen Menschen wie Karine Mowsesjan zu spüren: "Die Preise hier sind mittlerweile nicht mehr von dieser Welt. Immer wieder müssen Menschen aus ihrer Wohnung ausziehen, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen können."

Ein älterer Mann und seine Frau sitzen zusammen auf einem Sofa.
Karine Mowsesjan lebt mit ihrem Mann in einer Einraumwohnung in Jerewan. Bildrechte: MDR/Niels Bula

Diese Preisentwicklung sollte sich nach Ansicht von Karine Mowsesjan auch in der staatlichen Unterstützung widerspiegeln. "Wir wollen einfach normal leben. Nicht in Palästen, sondern in normalen Häusern." Wie die meisten Menschen im Latschin-Korridor waren Karine und ihr Mann in den 1990er-Jahren aus Armenien dort hingezogen. Der armenische Staat und die Verwaltung in Bergkarabach hatten sie gezielt angeworben, um das Gebiet wieder zu besiedeln. Die Aserbaidschaner, die vorher dort gelebt hatten, waren im Krieg vertrieben worden.

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BIWAK lädt auf einen spannenden Roadtrip mit Rad und Rucksack durch Armenien ein. Die Expedition startet am Sewansee, dem zweitgrößten Hochgebirgssee der Erde. Fast 400 Kilometer will das Team an vier Tagen zurücklegen.

Biwak Mo 15.07.2019 19:50Uhr 25:01 min

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

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Gespräche ohne Ergebnisse

"Wir kamen damals in einem völlig zerstörten Land an und haben es zu einem blühenden Garten gemacht", sagt Karine. Es habe anfangs weder fließendes Wasser noch eine funktionierende Stromversorgung noch Häuser gegeben. Nicht alle versprochenen Hilfen der armenischen Regierung und der Verwaltung von Bergkarabach seien tatsächlich umgesetzt worden. Und so hätten sie das meiste mit ihren eigenen Händen aufgebaut. Nun müssen sie erneut von vorn anfangen und erheben deshalb Anspruch auf mehr Hilfe vom Staat.

"Wir wollen ein Treffen mit Ministerpräsident Paschinjan oder wenigstens mit dem Bürgermeister von Jerewan", sagt Karine am Rande der Demonstration. Wenig später öffnen sich die Türen des Regierungsgebäudes. Karine und ein paar andere Vertreter der Demonstranten können mit dem Sozialminister sprechen. Doch mit dem sei sie bereits mehrmals im Gespräch gewesen. Auch nach diesem Treffen habe es keine konkreten Ergebnisse gegeben. 

Auch Amalia Babajan nimmt an der Demonstration teil. Sie hat mittlerweile wenig Hoffnung, dass der Staat helfen wird. Wenn sie darüber spricht, wird die 91-Jährige wütend. "Der Staat spuckt doch auf uns. Zwei Jahre lang geht das jetzt schon so. Wir kommen hierher und reden und reden. Nichts passiert." Und so sehen die Flüchtlinge aus Bergkarabach weiterhin einer ungewissen Zukunft in Armenien entgegen.

MDR (usc)

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 07. Januar 2023 | 07:15 Uhr

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