Symbolbild: Ein vermummter Mann hält einen Molotowcocktail
Wer wirft Molotowcocktails auf russische Einberufungsämter? Und warum? (Symbolbild) Bildrechte: IMAGO / Pond5 Images

Mysteriöse Anschlagserie Russland: Warum unbescholtene Bürger plötzlich zu Molotow-Cocktails greifen

26. September 2023, 18:53 Uhr

In den vergangenen Monaten sind russische Einberufungsämter auffällig oft Ziel von Brandanschlägen geworden. Angriffe dieser Art gab es auch früher schon. Doch diesmal waren die Täter meist keine jungen Radikalen mit Anti-Kriegs-Haltungen. Stattdessen wurden die Angriffe von Menschen verübt, von denen man es am wenigsten erwartet hätte.

Am 29. Juli bespritzte eine 61-jährige Ärztin aus der russischen Stadt Kasan das Gebäude eines militärischen Rekrutierungszentrums mit Benzin und wurde daraufhin festgenommen. Am nächsten Tag warf eine 51-jährige Lehrerin aus der Hafenstadt Feodossija auf der Krim einen Molotow-Cocktail in das Gebäude eines Einberufungsamtes. Am darauffolgenden Tag, dem 31. Juli, setzte eine 45-Jährige aus der Stadt Moschaisk bei Moskau das örtliche Einberufungsamt in Brand. Am selben Tag rammte in St. Petersburg ein 53-Jähriger die Tore eines Rekrutierungszentrums mit dem Auto. Auch in der Stadt Podolsk bei Moskau brannte an diesem Tag ein Rekrutierungszentrum. Täter waren hier ein 76-jähriger Mann und sein 50-jähriger Sohn.

Die Liste geht weiter. Allein vom 29. bis 31. Juli gab es mindestens zehn Angriffe auf Einberufungsämter der russischen Armee in verschiedenen Städten. Die Täter waren oft nicht vorbestrafte Bürger, die nie zuvor durch gesetzeswidriges oder regimekritisches Verhalten aufgefallen waren. Die Lehrerin von der Krim etwa hatte Medienberichten zufolge im Jahr 2014 die Einverleibung der Halbinsel durch Russland unterstützt und sich an Spendenaktionen für russische Soldaten in der Ukraine beteiligt. Die Polizei war anfangs ratlos.

Was aber hat eine offenbar patriotisch gesinnte Lehrerin und andere gesetzestreue Bürger zu Brandanschlägen auf staatliche Einrichtungen verleitet? In den Vernehmungen sprachen die Festgenommenen fast einstimmig von vermeintlichen Mitarbeitern des Inlandsgeheimdienstes FSB, der Zentralbank oder anderer Staatsorgane, die sie zu den Angriffen angestiftet haben sollen. Tatsächlich waren das aber keine Staatsdiener, sondern einfache Telefonbetrüger.

Aus Enkeltrick wird "Molotow-Trick"

Es gehört in Russland inzwischen zum Alltag, dass Menschen von solchen Anrufern um große Geldsummen gebracht werden. Allein in den ersten drei Monaten des Jahres 2022 überwiesen russische Betrugsopfer nach Angaben der Zentralbank in Moskau insgesamt 2,8 Mrd. Rubel an Betrüger (umgerechnet rund 27 Mio. Euro). Mit dem Molotow-Trick scheinen die Betrüger jedoch ein qualitativ neues Niveau erreicht zu haben. Wie aus den Aussagen der Tatverdächtigen hervorgeht, waren es keine einmaligen Anrufe: die Telefontäter sollen ihre Opfer über mehrere Wochen hinweg "bearbeitet" haben.

Hände halten Rubelscheine
Die Betrüger nahmen den Opfern erst Geld ab, bevor sie sie zu Anschlägen angestiftet haben. (Symbolbild) Bildrechte: IMAGO / Panthermedia

Oft habe es mit einer klassischen Betrugsmasche angefangen, berichten die Opfer. Die Schullehrerin von der Krim etwa sagte im Verhör aus, sie sei nach dem Tod ihres Mannes immer wieder von Anrufern belästigt worden. Zuerst hätten Betrüger sie unter Vortäuschung falscher Tatsachen dazu gebracht, ihnen Geld zu überweisen. Später soll man der Frau eingeredet haben, ihr Ehemann sei nicht infolge einer Krankheit gestorben, sondern durch die Hand von "Nationalisten". Am Ende habe sie die Adresse von einem "Versteck" erhalten, wo sich die angeblichen Mörder ihres Mannes aufhielten. Tatsächlich war das aber das Gebäude eines Einberufungsamts.

Ähnlich erging es der 61-jährigen Ärztin aus Kasan: Auch sie soll nach eigener Aussage zunächst auf einen finanziellen Betrug hereingefallen sein. Später seien die Betrüger zu Erpressung übergangen: Man habe ihr mit der Ermordung ihrer Verwandten gedroht, sollte sie den Brandanschlag nicht verüben. Ein weiterer Trick, mit dem die Opfer hereingelegt wurden, bestand darin, den Betroffenen zuerst Geld zu stehlen und ihnen dann zu versprechen, es nach dem Angriff auf ein Rekrutierungszentrum wieder zurückzugeben.

Der frühere NATO-General und Generalleutnant a.D. Erhard Bühler 56 min
Bildrechte: MDR / Erhard Bühler

Sowjetische Sozialisation als Risikofaktor

"Um eine solche Tat zu begehen, muss man eine psychotische Episode durchleben oder sich in einem veränderten Bewusstseinszustand befinden", erklärt Psychotherapeutin Darja Jauschewa den Umstand, warum eine Leherin plötzlich zum Molotow-Cocktail greift. "Kritisches Denken wird ausgeschaltet."

Die Betrüger gehen laut Jauschewa schrittweise vor. "Am Anfang werden potenzielle Opfer aufgespürt. Die Täter tasten sich an die Person heran, suchen nach Schwachstellen." Um sich das Vertrauen ihrer Opfer zu erschleichen, sprechen die Täter in einem beruhigenden Ton und täuschen aufrichtige Sorge vor. Allmählich wird der fürsorgliche Ton jedoch herrisch, dem Opfer wird Angst eingejagt. Plötzlich wähnt sich der Betroffene in einer existenziellen Gefahr: Der einzige Weg, sich selbst oder seine Angehörigen zu retten ist, die Anweisungen der Person am Telefon zu befolgen.

 Eine Seniorin tippt auf ihrem Smartphone
Menschen mit sowjetischer Sozialisation sind anfälliger für solche Betrugsmaschen. (Symbolbild) Bildrechte: picture alliance / Sebastian Gollnow/dpa | Sebastian Gollnow

Besonders Russen mit einer sowjetischen Sozialisation lassen sich von Personen, die sie als Autoritäten wahrnehmen, einschüchtern, glaubt die Psychologin. "In der Sowjetunion galten Regeln wie 'der Ältere hat immer Recht' oder 'du sollst keine Bitte ablehnen'". Wer diese Ideen verinnerlicht habe, sei für Betrugsmaschen anfälliger. Hinzu komme die Angst der Russen vor den "Silowiki" (dt. etwa "bewaffnete Kräfte") – der Begriff vereint Vertreter des Militärs, der Polizei und der Geheimdienste. "Diese Angst wird genährt durch Staatsgewalt, repressive Gesetze und die Verurteilung Andersdenkender. Die Betrüger wissen das auszunutzen, indem sie sich oft als Mitarbeiter von staatlichen Behörden ausgeben."

Die Moskauer Psychologin Anastasia Bulgakowa vermutet hinter den Anrufen ein ganzes Netzwerk von "Saboteuren", die gezielt nach Menschen mit ernsten psychischen Erkrankungen suchen. "Meistens sind es Menschen mit neurotischen Störungen, die äußerst beeinflussbar sind. Die Betrüger finden dann schnell heraus, wovor die Person Angst hat bzw. wen oder was sie hasst, und üben dementsprechend Druck aus." Nach ihrer Einschätzung dauert eine solche "Gehirnwäsche" mindestens einen Monat.

Ukrainische Saboteure am Werk?

Auch russische Behörden sehen "Saboteure" hinter den Telefontricks. Dabei deutet das russische Innenministerium mit dem Finger auf die Ukraine – angeblich sollen die Betrüger von dort aus massenweise Russen angerufen haben. Laut der russischen Staatsanwaltschaft fällt der Zeitraum dieser Anrufe mit "Erfolgen russischer Streitkräfte beim Vormarsch in der Ukraine" zusammen. Mit solchen Sabotageaktionen wollten Ukrainer Russland von innen schwächen, lautet die offizielle Version russischer Strafverfolgungsbehörden.

FSB-Generalmajor a.D. Alexander Michajlow sieht es jedoch nicht als erwiesen an, dass die Anrufe aus dem Ausland kommen. "Um das Ganze durchzuziehen, muss man die Lage im Land und die Bedingungen kennen, unter denen die Rentner hier leben. Wir haben in Russland genug eigene Mistkerle, die dahinterstehen könnten", sagte er dem Nachrichtenportal Lenta.ru.

Opfer oder Attentäter?

Was geschieht nun mit den Angeklagten, die auf Anweisung von Betrügern schwere Verbrechen begangen haben? Einige russische Politiker haben den Telefontrick als schwache Ausrede abgetan und harte Strafen für die Täter gefordert. Rechtsexperten dagegen sind sich nicht einig darüber, ob psychologische Manipulationen im Prozess als mildernde Umstände berücksichtigt werden sollten.

Der Moskauer Rechtsanwalt Dmitri Schtukaturow verweist derweil auf Präzedenzfälle: In Krasnodar und der russischen Teilrepublik Burjatien hätten Gerichte solche Brandanschläge als Terrorakte behandelt, wenn der Angriff politisch motiviert war. Diejenigen aber, die auf Anweisung von Betrügern handelten, wurden laut Schtukaturow nur wegen "Vernichtung oder Beschädigung fremden Besitzes" belangt und hätten folglich mildere Strafen erhalten.

Natürlich lassen sich nicht alle solche Angriffe auf Telefontricks zurückführen. Spätestens seit Kriegsbeginn kommt es regelmäßig zu Anschlägen auf militärische Rekrutierungszentren. Auch nach der Ankündigung der Teilmobilmachung im September 2022 gab es mehrere Überfälle. Laut Berechnungen des unabhängigen Online-Magazins Mediazona wurden in Russland 2022 mindestens 67 Brandanschläge auf Einberufungsämter gezählt. Oft handelten die Täter aus Überzeugung, bedingt durch die eigene Anti-Kriegs-Haltung oder den generellen Protest gegen den Staat. Seit Oktober hat die russische Polizei den Schutz der Einberufungsämter landesweit verstärkt.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 22. Juli 2023 | 07:18 Uhr

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