Sprache Ukrainisch per Dekret: Schulbeginn in der Ukraine

02. September 2020, 17:38 Uhr

Seit 1. September müssen die russischsprachigen Schulen in der Ukraine ab Klasse 5 auf Ukrainisch unterrichten. Das entsprechende Gesetz wurde vor drei Jahren verabschiedet und löste zusammen mit dem Sprachgesetz, das Ukrainisch quasi als die einzige Sprache im öffentlichen Raum des Landes festschreibt, mehrmals eine breite gesellschaftliche Debatte aus. Das Sprachthema in der de facto zweisprachigen Ukraine spaltet das Land.

Mann vor Flagge
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Ein Mädchen schreibt an die Tafel in Ukrainisch
Unterricht in Landessprache: In russischsprachigen Schulen der Ukraine muss ab sofort auf Ukrainisch unterrichtet werden. Bildrechte: imago/ITAR-TASS

In der Ukraine gibt es historisch bedingt zahlreiche Minderheiten, deren Mitglieder eine andere Muttersprache als Ukrainisch haben. So gaben in einer Volkszählung aus dem Jahr 2001 etwa 30 Prozent der Befragten an, Russisch als Muttersprache zu haben. Deshalb hatte die russischsprachige Minderheit bisher das Recht, ihre Kinder größtenteils  auf Russisch zu unterrichten. Doch das soll sich nun ändern: Mit Beginn des neuen Schuljahres soll der Unterricht ab Klasse 5 nur noch auf Ukrainisch Stattfinden. So sieht es ein Gesetzesentwurf vor, der bereits Anfang des Jahres im Kiewer Parlament verabschiedet wurde.

Sprachpflege der Minderheiten

Die Debatte spaltet die Bevölkerung bereits seit Jahren, der Gesetzesentwurf wurde immer wieder umgeschrieben. Denn die Minderheiten im Land sind sehr darauf bedacht, ihre sprachlichen Traditionen zu pflegen, und kämpfen um jede Unterrichtsstunde in ihrer Muttersprache. Und auch die Nachbarländer wachen mit Argusaugen über die Rechte "ihrer" Minderheiten. So hatte eine frühere Fassung die diplomatischen Beziehungen zwischen der Ukraine und Ungarn in eine Krise gestürzt, von der sie sich bis heute nicht erholt haben. Im westukrainischen Transkarpatien lebt eine große ungarische Minderheit, die oft weder Ukrainisch noch Russisch beherrscht.

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Haben Sie sich auch schon gefragt, ob Ukrainisch und Russisch so unterschiedlich sind? Unser Ostblogger Denis Trubetskoy erkärt den Unterschied.

Do 27.08.2020 14:49Uhr 01:15 min

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In seiner nun gültigen Fassung sieht das Gesetz einen Unterschiedlichen Umgang mit den Minderheitensprachen vor. Für die sogenannten ukrainischen Urvölker, wie etwa die Krimtataren, bleibt es möglich, die ganze Schulzeit in ihrer Sprache unterrichtet zu werden. Denn sie haben keinen eigenen Staat, der die Nationalsprache schützen würde.

Unterschiedliche Vorgaben für Minderheitssprachen

Einen Mittelweg fand die Ukraine für die Sprachen der Minderheiten (z.B. Polen und Slowaken), die zu den Amtssprachen der EU gehören. Ab der 5. Klasse müssen in diesem Fall wenigstens 20 Prozent der jährlichen Schulzeit auf Ukrainisch unterrichtet werden, in den letzten Klassen soll die Quote dann bei 60 Prozent liegen. Und zwar nicht schon ab 2020, sondern erst ab 2023. Mehrere EU-Staaten, vor allem Ungarn, sind dennoch unzufrieden.

Ein Junge liest in einem ukrainischen Schulbuch
Lernen in der Ukraine: Ab Klasse 5 müssen Kinder jetzt auch in russischsprachigen Schulen auf Ukranisch unterrichtet werden. Bildrechte: imago/ITAR-TASS

Bei anderen Minderheitssprachen, zu denen Russisch gehört, muss 80 Prozent des Schulprogramms bereits ab September 2020 auf Ukrainisch unterrichtet werden. "Für die russischsprachigen Kinder ist es einfacher, Ukrainisch zu lernen, weil die Sprachen zu einer Familie gehören", begründet das Bildungsministerium die Entscheidung. Tatsächlich sprechen die meisten Ukrainer beide Sprachen gut, obwohl es sich bei Ukrainisch und Russisch eindeutig um unterschiedliche Sprachen handelt.

Es ist genau diese Ungleichbehandlung, die nun zu Diskriminierungsvorwürfen führt – vor allem seitens der russischen Minderheit. Schließlich ist Russisch in vielen Regionen – vor allem im Südosten des Landes – die dominierende Sprache. In Dnipro etwa, wo rund 90 Prozent der Menschen im Alltag Russisch sprechen, haben Mitglieder der prorussischen Oppositionsplattform eigenen Angaben zufolge mehr als 10.000 Unterschriften gegen das Gesetz gesammelt: "Die heutigen Machthaber hören nicht auf die Ukrainer. Dieses Gesetz sorgte von Anfang an für Diskussionen. Dnipro ist eine überwiegend russischsprachige Stadt. Das Sprachproblem ist einer dieser wunden Punkte, die Unzufriedenheit und Proteststimmungen in der Gesellschaft verschärfen", sagt Sergej Mykytyn vom örtlichen Verband der prorussischen Oppositionsplattform.

Die Mehrheit der Ukrainer ist gegen das Gesetz

Auch die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung steht dem Gesetz skeptisch gegenüber. Laut einer Umfrage des Kiewer Internationalen Soziologie-Instituts sprechen sich 73 Prozent der Ukrainer zumindest dafür aus, dass der Staat in den Regionen, wo die Mehrheit der Bevölkerung russischsprachig ist, die Bildung auf Russisch ermöglichen soll. 33 Prozent glauben, der Unterricht auf Russisch müsste im ganzen Land zugänglich sein. Ganz offensichtlich ist die Mehrheit der Ukrainer nicht an einer historischen Retourkutsche interessiert: Sowohl im Russischen Reich als auch in der Sowjetunion versuchten die Machthaber, die ukrainische Sprache zu unterdrücken, zeitweise war sie sogar ganz verboten.

Eigentlich hatte auch Präsident Wolodymyr Selenskyj eine liberalere Sprachpolitik angekündigt. Davon ist bisher allerdings wenig zu spüren. Der Druck einer politisch aktiven national orientierten Minderheit, die stets an zahlreichen Protesten in Kiew teilnimmt, ist zu groß. Diese setzt sich für eine möglichst breite Ukrainisierung ein und lehnt Kompromisse ab. Selenskyj will Proteste vor seinem Amtssitz vermeiden und scheut in dieser Sache den Konflikt. Allerdings könnte sich eine Politik, die sich an einer hoch aktiven, national orientierten Minderheit ausrichtet, ebenfalls rächen: Sei es, weil sich die Beziehungen zu den Nachbarstaaten verschlechtern, sei es weil Selenskyj den pro-russichen Oppositionsparteien eine Steilvorlage liefert und  gleichzeitig seine eigene Wählerschaft enttäuscht.

Nicht die Schüler sind das Problem, sondern die Lehrer

Ob in dieser Sache tatsächlich alles so heiß gegessen wird, wie es gekocht wurde, ist allerdings fraglich. Viele Eltern finden das Gesetz zwar durchaus diskriminierend, zweifeln aber daran, dass es tatsächlich vor Ort so umgesetzt wird. Schließlich nehmen es selbst Schulen, die heute bereits als ukrainischsprachig gelten, mit der Sprache nicht ganz so genau und unterrichten zum Teil noch auf Russisch. Da müsste das Ministerium wirklich großangelegte Prüfungen starten, um hier eine Änderung zu bewirken. Zumal es nicht Schüler sind, die kein Ukrainisch können – sondern die älteren Lehrer. 

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 28. August 2020 | 11:30 Uhr

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