MDR-Doku fragt zum 5. Jahrestag nach den Betroffenen Weiterleben nach dem Anschlag von Halle: "Ich bin nicht hilflos!"
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12. Oktober 2024, 04:00 Uhr
Vor fünf Jahren machte der Terror-Anschlag auf die Synagoge von Halle weltweit Schlagzeilen. Mit einem stillen Gedenken erinnerte die jüdische Gemeinde an den 9. Oktober 2019, als zwei Menschen getötet, zwei weitere schwer verletzt und viele traumatisiert wurden. Der Attentäter, der ausgerechnet zum Feiertag Jom Kippur ein Massaker plante, sitzt heute in Haft. Doch diejenigen, die seine Bluttaten aus nächster Nähe erlebten, können mit dem Ereignis nicht abschließen. Wie geht es Betroffenen heute – und wie blickt die jüdische Gemeinde in die Zukunft? Diesen Fragen geht die MDR-Doku "Das Trauma - Wir haben den Anschlag überlebt"nach.
Am 9. Oktober 2019 wird die Synagoge in Halle von vielen Menschen besucht. Die Gemeinde feiert Jom Kippur, einen der höchsten jüdischen Feiertage, das Fest der Versöhnung. Genau an diesem Tag startet Stephan B. sein Attentat. Er glaubt, dass der Eingang zur Synagoge offen stehen wird und es ihm so gelingt, "möglichst viele Juden zu töten".
Es sterben zwei Menschen, zwei werden schwer verletzt, dutzende traumatisiert – der Terror-Anschlag vom 9. Oktober 2019 wird zur Zäsur: für die Überlebenden von Halle und Wiedersdorf, für die Angehörigen der Todesopfer und die Stadtgemeinschaft.
Stichwort: Jom Kippur
- Jom Kippur ist der jüdische Buß- und Bettag.
- Der wichtigste Festtag des jüdischen Jahres beginnt 2024 mit Sonnenuntergang am 11. Oktober und endet mit Anbruch der Nacht am 12. Oktober.
- An Jom Kippur können sich die Menschen nach jüdischem Glauben von Schuld befreien und mit Gott versöhnen.
- Der Versöhnungstag ruft daher zu Reue, Buße und Umkehr auf: Nur wer sich mit seinen Mitmenschen aussöhne, dürfe auf Versöhnung mit Gott hoffen.
- Gläubige Juden fasten vom Beginn des Festes am Vorabend bis zum nächsten Abend.
- Jom Kippur ist zugleich Abschluss von zehn Bußtagen, die mit dem Neujahrsfest Rosch Haschana (2. bis 4. Oktober) beginnen.
- Die Ursprünge von Jom Kippur liegen im 3. Buch Mose im hebräischen Teil der Bibel.
- In biblischer Zeit war der Versöhnungstag der einzige, an dem der Hohepriester das Allerheiligste des Tempels betrat.
- Zudem lud man die Sünden des Volkes symbolisch auf einen Bock, der dann in die Wüste geschickt wurde. Darauf geht der sprichwörtliche Sündenbock zurück.
- Am Versöhnungstag zünden gläubige Juden in ihrem Haus ein Licht zur Erinnerung an die verstorbenen Angehörigen an, das 24 Stunden brennen soll.
- Zum Ende des Tages erklingt der Schofar, das Widderhorn.
Zäsur: Weiterleben nach dem Anschlag
In der Synagoge haben sich damals 52 Menschen versammelt, darunter auch viele Gäste aus Berlin. Kurz nach 12 Uhr werden sie durch laute Knallgeräusche aus dem Gebet gerissen. Die Überwachungskamera zeigt einen Mann, der auf den Tor-Eingang in der Friedhofsmauer schießt. Er trägt einen Helm mit Kamera. Wie sich später herausstellt, streamt Stephan B. seinen Anschlag weltweit, so wie der Attentäter von Christchurch wenige Monate zuvor, der ein Blutbad in einer muslimischen Gemeinde anrichtete. In der Synagoge bricht Panik aus.
Kämpfen um Anerkennung
Dass die massive Eichenholztür den selbst gebauten Waffen von Stefan B. Stand hält, verhindert ein Massaker. Stattdessen tötet der 27-Jährige kurz darauf eine zufällige Passantin, Jana L., schießt minutenlang um sich und stürmt später ein paar hundert Meter weiter in einen Döner-Imbiss, wo er den 20-jährigen Malergehilfen, Kevin S. tötet. Später im Prozess wird er bedauern, "die Falschen" getötet zu haben. Auf seiner Flucht verletzt er außerdem zwei Menschen in Wiedersdorf, 15 Kilometer von Halle, schwer. "Der Attentäter hat uns aus unserem Leben geschossen", sagt Dagmar M., die bis heute unter den Folgen leidet und um Anerkennung nach dem Opferentschädigungsgesetz kämpfen muss.
Der Attentäter hat uns aus unserem Leben geschossen.
Boxen gegen das Trauma
Auch für Christina Feist, die am 9. Oktober 2029 in der Synagoge war, teilt sich das Leben in ein Davor und ein Danach. Wenige Monate vor dem Anschlag war sie für ihre Doktorarbeit nach Paris gezogen. Dort lebt sie nun wieder, ein Zurück nach Deutschland kann sie sich nicht vorstellen. Sie findet ihre eigene Art, gegen das Trauma zu kämpfen. Sie sagt, das Boxen habe ihr eigentlich das Leben gerettet: "Selbst an Tagen, wo gar nichts ging, war ich immer noch beim Training." Das Boxen habe ihr Halt gegeben – "und das Gefühl: Ich bin nicht hilflos, ich kann mich wehren."
Das Boxen hat mir Halt gegeben – und das Gefühl: Ich bin nicht hilflos, ich kann mich wehren.
Glauben und Mensch bleiben
Die Erinnerung an die Todesangst in der Synagoge, das Bild auf dem Überwachungsbildschirm, wie Jana L. draußen tödlich getroffen zusammensackt, lassen auch Naomi Henkel-Guembel nicht los. Sie kommt aus einer Familie von Shoah-Überlebenden. In München geboren und aufgewachsen, emigrierte sie nach Israel. Ihr Traum, Rabbinerin zu werden, brachte sie zurück nach Deutschland. Nach dem Anschlag hat sie ihr Studium unterbrochen. Sie sei politischer geworden, sagt sie. Die Religion ist der Leitfaden in ihrem Leben geblieben: "Ich würde sagen, dass mein Glaube das ist, was mich darin bestärkt, Mensch zu sein und mir Zugänge zu anderen Menschen eröffnet." Dass sie den Anschlag überlebte und Jana L. nicht, treibt sie um bis heute.
Mein Glaube bestärkt mich darin, Mensch zu sein.
Im Kiez-Döner erlebt Conrad Rößler am 9. Oktober 2019 den zweiten Anschlag. Der junge Mann jobbt in dem Laden, hat eigentlich einen freien Tag und steht so zufällig am Tresen, als er jemand heranstürmen sieht, "der einen Helm auf hatte und militärisch aussah". Der Attentäter schießt auf Mitarbeiter und Gäste, die er für Migranten hält. Rößler schafft es, sich in die Toilette zu retten, glaubt: "Da kommst du nicht mehr lebend raus." Er schreibt seinen Eltern eine letzte Nachricht. Dann hört er Schüsse und wie Kevin S. ermordet wird. Conrad Rößler überlebt. Nach dem Anschlag zieht er weg aus Halle, näher zu seiner Familie. Er kämpft mit Panik-Attacken und sagt, dass sich in seinem Leben ein paar Dinge veränderten. Er lebe nicht mehr einfach so in den Tag hinein.
Schwieriger Neuanfang: Vom Kiez-Döner zum Tekiez als Erinnerungsort
Ismet Tekin, der den Döner mit seinem Bruder betreibt, gerät damals in den Schusswechsel zwischen Attentäter und eintreffender Polizei. Schon seit 15 Jahren lebt er da in Halle und fühlt sich hier sehr wohl, wie er erzählt. Bis zum 9. Oktober 2019. Er findet Kevin S. im Laden und kann nichts mehr für ihn tun. Bis heute kämpft er gegen das eigene Trauma und für den Laden. Nach dem Anschlag bleibt die Kundschaft weg. Mit Hilfe von Spenden und Unterstützung der Initiative "9. Oktober" baut er das Geschäft ein Jahr lang um zum "Tekiez", der nun ein Erinnerungsort sein soll, auch für die Überlebenden des Anschlags und Angehörige wie den Vater von Kevin. Das integrierte Frühstückscafé soll auch Veranstaltungen finanzieren helfen. Doch es bleibt schwierig. Was ihn nicht aufgeben lässt, sind die Unterstützer.
Stilles Gedenken in der jüdischen Gemeinde – und wie weiter?
Bis zum Abend ist Halle am 9. Oktober 2019 im Ausnahmezustand. Ministerpräsident Haseloff spricht von der dunkelsten Stunde in seinem Leben. Noch spät am Abend besucht er die Synagoge. Vorsteher Max Privorozki sagt im Rückblick: "Das werde ich ihm nicht vergessen." Vor der Synagoge und dem Kiez-Döner bekunden damals hunderte Menschen ihr Mitgefühl. Privorozki sagt fünf Jahre später, er sei "nie sehr optimistisch gewesen, was die Situation in Deutschland betrifft". Aber trotz des Anschlags habe er damals gedacht: "Die absolute Mehrheit ist auf unserer Seite", sagt Provozki noch in der Doku.
Trotz des Anschlags habe ich damals gedacht: Die absolute Mehrheit ist auf unserer Seite.
Ein Glaube, der nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 in Israel und dem Aufflammen des Antisemitismus wohl erschüttert ist. Privorozki spricht in Interviews von einer "unvorstellbaren antisemitischen Welle" verbunden auch mit Morddrohungen via E-Mail. In den Tagen vor dem fünften Jahrestag sorgen Anfeindungen gegen die Seite "Synagoge Halle" via Google-Rezension für Aufsehen. Das alles sei beunruhigend. "Die Gemeinde arbeitet, sie lebt." Auch den fünften Jahrestag werde man in Erinnerung an die beiden Menschen, begehen, die ermordet wurden: "Wir leben weiter, aber Jana und Kevin sind nicht mehr da."
Im Hof der Synagoge wird sich die Gemeinde am 9. Oktober 2024 zu einer Schweigeminute versammeln. Dort steht heute ein Denkmal: Es ist die Tür, die den Schüssen standhielt, zwei silberne Blätter tragen die Namen Jana und Kevin, zwei grüne stehen für das Ehepaar im Saalkreis, die schwer verletzt überlebten. Auch im Tekiez treffen sich Menschen – selbst organisiert und eng vernetzt mit Angehörigen und Überlebenden anderer rechtsextremistischer Anschläge. Inzwischen hat der Friedenskreis Halle die Trägerschaft, gefördert wird vom Bund – zumindest bis 2025.
Laut Max Privorozki sprechen die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Halle nur wenig über den Anschlag, auch wenn er das Gemeindeleben veränderte. Jeder gehe auf seine Weise damit um. Die Synagoge steht wie alle jüdischen Einrichtungen in Sachsen-Anhalt unter Polizeischutz. Dazu gehören inzwischen zwei neue Synagogen, die in Dessau und Magdeburg eröffnet wurden. Im Interview dazu befragt sagt Privorozki, es gebe ein Spirchwort: "Derjenige, der weg will, baut kein Haus." Für ihn sei klar: "Jüdische Menschen möchten und werden weiter bleiben." Dafür spreche auch, dass die jüdische Wohlfahrtsorganisation Keren Hayesod sowie der Verein "Christen an der Seite Israels" am 9. Oktober eine neue Tora-Rolle an die jüdische Gemeinde in Halle übergeben werden.: "Es ist ein Zeichen, dass jüdisches Leben auch in Halle weitergeht. Ich hoffe, es hat eine gute Zukunft."
Die neue Tora ist ein Zeichen, dass jüdisches Leben auch in Halle weitergeht. Ich hoffe, es hat eine gute Zukunft.
Gedenkveranstaltung am 9. Oktober im Livestream auf MDR.de sowie auf DAB+
- Am 9. Oktober wird in Halle in Anwesenheit von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit mehreren Veranstaltungen an den Anschlag erinnert.
- Der MDR berichtet ausführlich u.a. vom Gedenken am Anschlagsort und in der Synagoge.
- 17 Uhr startet der Video-Livestream auf MDR.DE mit dem Gedenkakt der Stadt Halle in der Ulrichskirche, bei dem auch ein Augenzeuge sowie eine Frau, die Anschlag in der Synagoge erlebte, zu Wort kommen werden.
- Außerdem wird die Veranstaltung, bei der neben dem Bundespräsidenten auch Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff sowie der amtierende Oberbürgermeister von Halle, Egbert Geier, sprechen werden, im Radio auf dem DAB+-Kanal MDR SACHSEN-ANHALT extra zu hören sein.
Quellen: MDR (Doku: Der Anschlag von Halle) dpa, epd, Redaktionelle Bearbeitung: ks
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Doku: "Das Trauma - Wir haben den Anschlag überlebt" | 10. Oktober 2024 | 22:40 Uhr